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Sozialhistorische Grundlagen des Feindbildes und seine Funktion in der Sowjetunion

2. THEORIE UND METHODE

2.4. Interaktionsrahmen und Kommunikation

2.5.2. Sozialhistorische Grundlagen des Feindbildes und seine Funktion in der Sowjetunion

Der Erfolg der Oktoberrevolution in Russland schuf eine in der modernen Geschichte neue Situation: Die bolschewistischen Führer mußten gleichzeitig die Rolle der Avantgarde einer internationalen revolutionären Bewegung und die der Führerschaft eines souveränen Staates erfüllen. Im Gegensatz z.B. zur Französischen Revolution hatte die russische Revolution vor ihrer Vollendung eine entwickelte und einheitliche Ideologie, der sie sich im voraus verschrieben hatte und die ein Aktionsprogramm darstellte, das lange nach der ersten Konsolidierung des revolutionären Regimes in Kraft blieb.30

Ein totalitäres Regime benötigt zu seiner Fortexistenz zumindest die Duldung durch das Volk.

Die Machthaber in der Sowjetunion verließen sich dabei auf drei grundlegende Mittel zur Sicherung der Unterstützung durch das Volk:

• ideologisch-politische Belehrung durch das Monopol und die rigorose Ausnutzung der Massenmedien sowie öffentlicher Erziehungsmittel

Überwachung durch die Sicherheitsorgane und ihr Agentennetz sowie durch das gegenseitige Mißtrauen unter der Bevölkerung

Terror in dem Sinne, dass man sich darauf verläßt, dass die Drohung mit Gewalt und ihre wirksame Anwendung absolute Loyalität und Gehorsam schaffen.

Die fast unbegrenzte Ausnutzung dieser Mittel gab der sowjetischen Führung einzigartige Möglichkeiten, die Sinnbildungsprozesse der Gesellschaft zu beeinflussen. In diesen Prozessen waren vor allem Bodenfaktor und Heldenkult von besonderer Bedeutung.

oder als gottgesand oder als vorbildlich und deshalb als „Führer“ gewertet wird“, zeigt sich insbesondere in der Wirkung auf seine Umgebung. Zitat nach Schilling, S. 560

30 Garthoff, Raymond. L., Die Sowjetarmee. Wesen und Lehre. Köln 1955, S. 63

Jahrhunderte hindurch wurde die russische Politik sowie die russische Mentalität durch einen Imperativ in Bewegung gesetzt und durch ihm geprägt. Es geht um das Streben nach permanenter Erweiterung des Territoriums auf dem Festland. Das beginnt mit der Eingliederung aller ostslawischen Fürstentümer in das Moskauer Reich. Darauf folgt die Eroberung anderer Länder wie das heutige Belarus, die Ukraine, Polen und der baltische Raum, die Kolonisierung der unbevölkerten Weiten Sibiriens, Mittelasiens und des Kaukasus. Vom Sammeln russischer Erde ging man sehr leicht zum Sammeln jeglicher Erde über. Dieser Prozeß, der sehr lange dauerte und Kriege mit wechselndem Erfolg einschloß, wurde erst am Ende des 19.

Jahrhundert abgeschlossen.

Das bolschewistische Regime schien in seiner ersten Phase das territoriale Expansionsprinzip als politisches Gebot aufgegeben zu haben. Aus ideologischen Gründen (Selbstbestimmungs-recht der Völker, proletarischer Internationalismus u.ä.) nahm Moskau zunächst die Loslösung vieler Länder vom Imperium hin. Dieser Prozeß war jedoch von kurzer Dauer, und der Kreml begann bald, von neuem das Imperium wiederherzustellen. Durch die Annexion von Georgien und Armenien (1922), durch die Gründung der Sowjetunion (1922), durch die Okkupation von Ostpolen (1939), des Baltikums, Moldawien und der Nordbukowina (1940) wurde die alte territoriale Größe des Imperiums (mit der Ausnahme von Finnland und Polen) wiederhergestellt.31

Rußlands Selbstverständnis basierte auf der Größe und den Dimensionen des Russischen Reichs. Die riesige Größe des Landes war der Haupttrumpf und die Hauptquelle des nationalen Stolzes, die sich in eine entscheidende Komponente des Identitätsgefühls verwandelte. Die Russen waren so stolz auf die Größe ihres Staates wie die Franzosen auf ihre Freiheit und ihre glorreiche Geschichte, wie die Amerikaner auf ihre "unbegrenzten Möglichkeiten" oder die Engländer auf ihre Traditionen. Es ist auffallend, dass das russische Prestigegefühl nicht auf individuellen Verdiensten, sondern auf einer Eigenschaft des Staates beruhte, dabei auf einer Eigenschaft, die das Physische, die Quadratkilometer betrifft. Im Fall Rußlands haben wir somit ein territorial begründetes Prestige32 vor uns.

Der sowjetische Staat, der über das Monopol auf Massenmedien verfügte, versuchte mit allen Mitteln diesen nationalen Stolz zu stärken - nicht nur in den Propagandamitteln, sondern auch in der Kunst hat sich das territoriale Prestige verkörpert. So beschreibt z.B. das beliebteste sowjetische Massenlied der 30er Jahre - "Lied vom Vaterland" - die unübersehbaren Weiten der

31 Vgl. Igantow, Assen, Geopolitische Theorien in Rußland heute, Berichte des BIOST, Köln, 17- 1998, S. 23-25.

32 Ebenda, S. 24.

Sowjetunion, und genau dieses Lied ist eine Art Hymne der jungen Leute in der Sowjetunion gewesen.33

Dadurch wurde der Bodenfaktor zum wichtigsten moralisch Faktor für die Kampfmotivation der Sowjetsoldaten gemacht, so das jeder Eindringling, jeder, der es auf den russischen Boden absieht, automatisch ein Erzfeind wird.

Nicht zufällig fang die erste Rede von Stalin nach dem Aufbruch des Krieges mit einer Aufzählung der vom Feind besetzten Orte der Sowjetunion an: "Der von Hitlerdeutschland am 22. Juni wortbrüchig begonnene militärische Überfall auf unsere Heimat dauert an. ... Es ist den Hitlertruppen gelungen, Litauen, einen beträchtlichen Teil Lettlands, den westlichen Teil Belorußlands, einen Teil der Westukraine zu besetzen. Die faschistische Luftwaffe erweitert den Tätigkeitsbereich ihrer Bombenflugzeuge und bombardiert Murmansk, Orscha, Mogilew, Smolensk, Kiew, Odessa, Sewastopol. Über unsere Heimat ist eine ernste Gefahr heraufgezogen. Der Feind ist grausam und unerbittlich. Er setzt sich das Ziel, unseren Boden, der mit unserem Schweiß getränkt ist, zu okkupieren, unser Getreide, unser Erdöl, die Früchte unserer Arbeit an sich zu reißen. ...Die Rote Armee, die Rote Flotte und alle Bürger der Sowjetunion müssen jeden Fußbreit Sowjetbodens verteidigen, müssen bis zu letzten Blutstropfen um unsere Städte und Dörfer kämpfen..."34

So wurden demnächst folgende Worte in den Sprachgebrauch eingeführt (und natürlich gleich von der Propaganda übernommen) wie ‘Deutsche Eindringlinge’, ‘deutsch-faschistische Eroberer’, ‘Vaterländischer Volkskrieg’, ‘Befreiungskrieg’ etc. (in der Rede am 6. November 1941 zum 24. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Moskau).35

Die Zwiespältigkeit der neuen Rolle - mit der Landesverteidigung durchzusetzen und Avantgarde der internationalen revolutionären Bewegung zu bleiben - führte dazu, dass die sowjetische Regierung sich der alten Vorkriegseinstellungen - Klassenbewußtsein und proletarischer Internationalismus - noch eine Zeit nach dem Ausbruch des Krieges bediente.

1939, auf dem 18. Parteikongreß, erklärte der damalige Chef der Politischen Verwaltung der Roten Armee, Kommissar Mechlis: "Um die Gefahr ausländischer kapitalistischer Intervention

33 Text von Lebedev-Kuma½, Musik von I.Dunaewski 1936. Die musikalische Phrase des Refrains ("Weit ist mein Vaterland") wurde außerdem als Rufzeichen des Moskauer Rundfunks verwendet.

Vgl. Russich-Deutsches Wörterbuch der geflügelten Worte, Moskau - Leipzig 1990.

34 Rundfunkrede von J.W. Stalin am 3. Juli 1941, Text in: “J.W. Stalin. Werke”, Dortmund 1976.

Band 14, S. 236-240.

35 J.W. Stalin. „Werke”, Band 14, S. 241-242.

auszuschalten, sagt die 'Geschichte der KPdSU(b)', dass die kapitalistische Einkreisung zerschlagen werden muß. Die Zeit ist nicht sehr fern, Genossen, dass unsere Armee, die durch ihre siegreiche Ideologie eine internationale Armee ist, bei der Vergeltung des frechen feindlichen Angriffs, den Arbeitern der angreifenden Länder helfen wird, sich vom Joch des Faschismus, vom Joch der kapitalistischen Sklaverei zu befreien und die kapitalistische Einkreisung, von der der Genosse Stalin sprach, auszuschalten (Lauter Beifall).“36

Obwohl ‘Vaterländischer Volkskrieg’, bzw. ‘Befreiungskrieg’ bereits erklärt worden war, blieben die klassenbewußtseinbezogenen Parolen der Kommunistischen Partei in Betrieb. Die sowjetische Propaganda gegen Soldaten und Offiziere der Wehrmacht versuchte auch nach dem Ausbruch des Krieges, das "Klassenbewußtsein" der Deutschen zu wecken, sie zu

“revolutio-nisieren”, und den eigenen Militärangehörigen die Gegner als "Klassenbrüder"

darzustellen. Dabei ging die offizielle Propaganda von der bedingungslosen Unterstützung der werktätigen Massen Europas und vor allem Deutschlands aus. Die Parole 'Nieder mit Hitler!' bzw. 'Stürzt Hitler' wurde auf persönliche Anordnung Mechlis37 vom 12. Dezember 1941 bis 5.

Mai 1942 auf jedem Flugblatt der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee - und das waren mehrere Hunderte Titel - plaziert. Erst mit Laufe der Zeit wurde die Tragkraft der alten Parolen überwunden.

Eines der zentralen Stereotype der totalitären Kultur ist der Held, der mit aggressiven aktivistischen Energien ausgestattet ist. Hans Günther definiert vier Heldentypen38 der Stalinära:

• Führerheld - vor allem der politische Führerheld (wie Lenin oder Stalin);

• Kriegsheld - nicht denkbar ohne das Gegenbild eines äußeren oder inneren Feindes; er wurde zur agitatorischen Polarisierung von Freund und Feind eingesetzt;

• Opferheld - gestaltet nach dem Vorbild der Heiligen- und Märtyrerlegende (mit solchen Charakteristika wie samootverÌennost’ - Selbstverleugnung und samopoÌertvovanie - Selbstopferung);

• Arbeitsheld - traditioneller Held, der für die Menschen Kulturgüter schafft. Dazu gehören auch Flieger- und Polarhelden, Wissenschaftler, Stachanov-Arbeiter usw.39

36 Garthoff, Raymond L.: Die Sowjetarmee. Wesen und Lehre, Zitat: S. 47.

37 Voenno-istori½eckij Ìurnal (Militär-historische Zeitschrift), Moskau 1992, Nr. 2, S. 14

38 Hans Günther: Der sozialistische Übermensch. Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos.

Stuttgart / Weimar 1993. S. 177.

39 Sabine Rosemarie Arnold. Stalingad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und bild im totalitären Staat. Projekt Verlag, Bochum 1998. S. 42-44.

Für eine Kriegssituation sind vor allem die ersten drei Typen relevant. Beide mythologische Figuren - Kriegsheld bzw. Opferheld - sind untrennbar mit dem Totenkult verbunden.

(Erläuterung) Der Totenkult ist eine anthropologische Vorgabe, dessen ikonographischer Grundbestand (Symbole, Allegorien, Personifizierungen) aus einer antik-christlichen Mischung quer durch die Zeiten vergleichsweise stabil blieb.40 Die Selbstopferfiguren boten sich zur Mythologisierung an, weil sie an bereits vorhandenen Traditionslinien anknüpfen. Der meistbekannte Protagonist der Selbstopferung, der eine feindliche Schießscharte mit der eigenen Brust verdeckt hat und dadurch seine Kameraden gerettet sowie den Erfolg des Angriffs gesichert hatte, war Alexander Matrosov, ein Soldat des 254. Garde-Schützenregimentes. In der sowjetischen Heldengeschichtsschreibung galt er bis in die 80er Jahre als einziger. Tatsächlich war er nur der Erste, der für diese Heldentat mit dem Ehrentitel

“Held der Sowjetunion” ausgezeichnet wurde (insgesamt gab es 400 Militärangehörigen, die seine Heldentat wiederholt haben, darunter auch drei Frauen). Helden sterben nicht wirklich.

Der Sowjetmythos brauchte jedoch die Hingabe des physischen Lebens als Erlösungsprophezeiung für die anderen. Die Soldatenfigur, die mit der Brust den glühenden Lauf eines MGs verdeckt, trägt die Allegorie der Zerstückelung und Wiederbelebung des Helden in der russischen Zaubermärchentradition,41 und schließlich - eine Anknüpfung an die Osterbotschaft.42

Die zweitwichtigste Heldentat, die im Krieg auch einen besonderen symbolischen Wert gewann, war der Zweikampf “Mensch-Panzer”. So meldete die Frontzeitung Stalingrader Banner (Stalingradskoe znamja) unter der Rubrik “Stalingrader Recke” am 6. Dezember 1942 die Verleihung des Titels “Held der Sowjetunion” an den gefallenen Unteroffizier Michail Chvastancev. Die Heldentat des Gardeoffiziers bestand laut Zeitungsmeldung darin, dass er mit dem Ausruf “Du kommst hier nicht durch, Ungeheuer!” einem Panzer entgegengelaufen war und eine Granate unter dessen Kettenräder geworfen hatte. Eine Anknüpfung an bereits vorhandene Traditionslinien entsteht auch hier. Der Protagonist der russischen Folklore/

Zaubermärchen ist undenkbar ohne einen Feind, und dieser Feind ist meistens ein Drache - ein

40 Reinhart Koselleck, Michael Jeismann (Hrsg.) Der politische Totenkult. Kriegsdenkmäler in der Moderne. München 1994. S. 9.

41 Propp, Vladimir, IstoriÝeskie korni vol¾ebnoj skazki (Geschichtliche Wurzeln des Zaubermärchens), Leningrad 1986, S.97-98. Zerstückelung bedeutet eine Verwandlung und schließlich die Entstehung eines neuen Menschen. Der Verfasser weist auch auf die Verbreitung dieser Traditionslinie in anderen Kulturen hin (Vladimir Propp erwähnt z.B. die Untersuchung von A. Jacoby “Zum Zerstückelung und Wiederbelebungswunder der indischen Fakire”, ARw, 1914, Bd. XVII, S. 456.)

42 Sabine Rosemarie Arnold. Stalingad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitären Staat. Projekt Verlag, Bochum 1998. S. 165-166.

feuerspeiendes Ungeheuer; die Symbolfigur eines “Drachenbesiegers” 43 wurde seitens der Sowjetregierung als Held in den sowjetischen Mythos einbezogen.