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2. THEORIE UND METHODE

2.6. Auswahlkriterien und Methode

Der Zugriff auf die Quellen in der vorliegenden Arbeit zielt vornehmlich nicht nur auf den individuellen Plan, sondern er richtet sich jetzt auf die Äußerungen eines Kollektivs von Soldaten, auf deren sprachlich bezeugte Welt- und Selbstdeutungen, ohne dabei auf das Wissen um den sozio-biografischen Hintergrund der einzelnen Briefschreiber zu verzichten. Die Auswahlkriterien ergeben sich dabei aus der Fragestellung der Untersuchung:

1. Die Frage nach der soldatischen Wahrnehmung des Krieges kann im Prinzip die gesamte Stufenleiter der militärischen Hierarchie umfassen, in dieser Untersuchung jedoch richtet sich das Interesse vornehmlich auf die Kriegswahrnehmung der "einfachen" Soldaten. Die Grenze wird nach oben beim Leutnant (auf beiden Seiten) gezogen, also dem untersten Offiziersgrad.

Die Ausgrenzung der höheren Offiziere scheint auch wegen verschiedener bereits vorliegender Untersuchungen über deren Einstellungen und Selbsverständnis sowie angesichts der Vielzahl von veröffentlichten Tagebüchern und Erinnerungen aus dieser Gruppe gerechtfertigt,44 während mit sinkendem Dienstgrad auch die historischen Kenntnisse über die Soldaten abnehmen.

2. Zur Frage nach der Kriegswahrnehmung gehört insbesondere das Thema der Gewalt, des Tötens und Sterbens. Folglich scheiden alle Soldaten ohne eigene Kampferfahrung aus, also insbesondere diejenigen, von denen nur Briefe aus dem Ersatz- oder Heimatheer vorliegen.

Praktischer erscheint ferner, sich auf Angehörige des Heeres zu beschränken, also Luftwaffe und Marine nicht zu berücksichtigen.

43 Zur Verbreitung des Drachenkampfes in der russischen Märchentradition siehe Vladimir Propp, ebenda, S.216 - 263. Ein wichtiges christliches Symbol dazu - Georgij - der Siegesträger. Der heilige Georgij zu Pferd (eine der populärsten russischen Heiligenfiguren) durchbohrt mit einer Lanze einen Drachen (heute - Stadtwappen von Moskau).

44 Karl Demeter, Das deutsche Offizierskorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt/M. 1962;

Gotthard Breit, Das Staats- und Gesellschaftsbild deutscher Generale beider Weltkriege im Spiegel ihrer Memoiren, Boppard a. Rh. 1973; Hartmut John, Das Reserveoffizierskorps im Deutschen Kaiserreich 1890-1914. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag zur Untersuchung der gesellschaftlichen Militarisierung im Wilhelminischen Deutschland, Frankfurt/M./New York 1981; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969; Bernd Wegner, Hitlers politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945. Studien zu Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite, Paderborn 1988.

3. Die Frage nach dem Inhalten des Gesprächs zwischen den Soldaten und ihren Angehörigen scheidet alle Briefe an nicht private Adressen aus (die Briefe an offizielle Adressen werden nur zum Zweck eines kontrastiven Vergleichs in beschränkter Zahl verwendet).

4. Informationen über den sozio-biographischen Hintergrund der Briefschreiber sind nur selten von vornherein in den Archiven zu erheben; so muß man meinst die Hinweise beachten, die sich aus den Briefen selbst entnehmen lassen. Unter dieser Einschränkung muß auch versucht werden, das Spektrum der beruflichen, regionalen, weltanschaulichen und Generationszugehörigkeit möglichst breit zu halten.

5. Schließlich soll, pragmatisches Kriterium der zu bewältigenden Obergrenze, der Gesamtumfang des zu untersuchenden Quellenkorpus bei höchstens 200 (ca je 100 bis 120 von jeder Seite) liegen.45

2.6.7. Feindbilder und vergleichende Sprachpraxis

Die sprachlich kodifizierte Bedeutungen, die in den Sinnbildungs-prozessen zum Einsatz kommen, sind freilich der Sprache nicht immer untrennbar, eindeutig und gleichbleibend zu eigen, sondern werden im Gebrauch, also sprachpragmatisch, reproduziert (dabei auch nuanciert, modifiziert sowie verändert), mit individuellen Eigenheiten und kontextabhängigen Differenzen, die bei der Untersuchung berücksichtigt werden müssen. Die Analyse wendet sich teils dem Gebrauch einzelner Wörter und Begriffe, teils komplexeren Argumentationen zu, um so typische, sinnstiftende, auf die verschiedenen Erlebnisbereichen bezogene Bedeutungen freizulegen, die den Soldaten für ihre Wahrnehmung des Krieges sowie zur Orientierung im Kriege und zur Verständigung mit ihren Angehörigen dienten.46

Die Wahrnehmung und Einschätzung des Gegners hängen mit der jeweils aktuellen Frontsituation und mit den Persönlichkeitsmerkmalen eines jeden zusammen, z.B. mit der Einstellung zur eigenen Rolle als Soldat, zum Krieg oder zur Führung, mit der Wertorientierung und dem eigenen Weltbild.

Die einzelnen Bedeutungen bilden ein sich wechselseitig erläuterndes und manchmal widersprechendes Verweisungssystem, sie fügen sich zu Wahrnehmungs- und Deutungsmustern vor allem gegenüber den feindlichen Soldaten, gegenüber den Partisanen,

45 Vgl. Latzel, Klaus, Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg? S. 106-107.

gegenüber den Bewohnern der mit Krieg überzogenen Länder, gegenüber dem Tod, aber auch gegenüber den Angehörigen in der Heimat, gegenüber dem anderen und dem eigenen Geschlecht und so weiter. Diese Sinnmuster, wie sie in den Briefen aufzufinden sind, werden jeweils für die russischen Soldaten und die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges rekonstruiert. Sie werden auf Konsens oder Dissens mit nationalsozialistischen bzw.

sowjetischen Sinnmustern befragt, die in unterschiedlichen Quellen (Hitler - und Goebbels - Reden, Propagandaschriften bzw. Stalin-Reden, Militärpropaganda, Frontpresse etc.) aufgesucht werden. Diese Quellen interessieren nicht als individuelle, sondern sehen stellvertretend für die in ihnen erhaltenen zeittypischen, nämlich nationalsozialistischen bzw.

sowjetischen, Elemente sozialen Wissens, könnten also problemlos durch andere ersetzt werden. Trotz ihres meist propagandistischen Charakters werden sie auch nicht schlicht als Ursache postuliert, welcher bestimmte Äußerungen in den Briefen bloss als Folge zuzurechnen währen. Wie die historische Propagandaforschung weiß, ist Propaganda, will sie Erfolge erzielen, auf ihr entgegenkommende, präexistierende Wissensbestände bei denjengen angewiesen, an die sie sich richtet.47

Die folgende kurze Analyse zeigt, in welche wichtigsten Kategorien Feindbilder z.B. in russischen Feldpostbriefen nach ihrem Sprachgebrauch eingeteilt werden können (grafische Darstellung siehe Anhang, Diagramm 1).

In den 209 Briefe der 43 Autoren unterer Dienstgrade48 wird relativ oft, nämlich etwa in jedem zweiten Brief (103 Briefe, 49,2%) vom deutschen Gegner berichtet.49 Die gebräuchliche Bezeichnung dabei war "der Deutsche" oder "die Deutschen" (95 Briefe bzw. 40,5 %). Darauf folgen solche Bezeigungen wie Fritz oder Hans (67 - 28,6), auch in Plural verwendet. Diese Bezeichnungen sind eher Spitznamen als Schimpfwörter (wie "Iwan" für die Russen). Oft werden deutsche Soldaten einfach als "Feind" oder "Gegner" bezeichnet (27- 11,5%).

Propagandistische und ideologisch gefärbte Bezeichnungen wie "Faschisten", "deutsche Räuber", "faschistische Eroberer" (18 - 7,6%) und Schimpfwörter wie "Saukerle", "faschistisches Teufelspack", "Gesindel", "faschistische Schufte" (27-11,5%) sind seltener zu lesen,50 aber sie

46 Mechow, Max, Zur Soldatensprache des Zweiten Weltkrieges, in: ZDSp 27 (1971); Latzel, Klaus, ebenda, S. 128-129; Olt, Reinhard, Soldatensprache. Ein Forschungsüberblick, in: Muttersprache 91 (1981), S. 93-105.

47 Latzel, Klaus, ”Deutsche Soldaten – Nationalsozialistischer Krieg?”, S. 128-129.

48 ” Auf beiden Seiten der Front”, Hrsg. von Alexander Schindel.

49 Vgl. dazu Knoch, Peter P., Das Bild des russischen Feindes, in: Wette, Wolfram, Überschär, Gerd R., Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, S. 160-167.

50 Noch ist zu bemerken, daß in den ersten Kriegsjahren (1941-42) der Feind oft auch als destruktive Vernichtungskraft - z.B. "faschistische Kriegshorden” – wahrgenommen wurde. Ab und zu bekommt das in russischen Feldpostbriefen geschilderte Feindbild die entmenschlichen Züge, die Gegner werden dann als “zweibeinigen Hitlerstiere", "verdammte Tiere", oder "Nazinatter" bezeichnet. Das war für einige Soldaten anscheinend notwendig, um das Töten des Feindes moralisch zu rechtfertigen

bilden keine Ausnahme - Soldaten und Unteroffiziere, die in einem Brief ganz ruhig und sachlich über den Feind berichten, verwenden in einem anderen Brief Schimpfwörter. Diese Bezeichnungen sind besonders gefühlsbetont und sind am meisten eng mit Rache an den Deutschen für Frontkameraden, Verwandte und Landsleute, oder mit emotioneller Erschütterung (wenn z.B. Soldaten verbrannte Dörfer und ermordete russische Zivilisten sehen) verbunden.

Die auf diese Weise aus den Briefen herauskristallisierten Sinnmuster und Feindbilder werden also einerseits mit nationalsozialistischen sowie sowjetischen Sinnmuster und Feindbilder verglichen. Um vorschnelle Schlüsse zu vermeiden und der Interpretation zeitliche Tiefenschärfe zu verleihen, um all die Besonderheiten der Kriegserfahrung im Zweiten Weltkrieg besser zu verstehen, müssen sie jedoch in umfassendere Bedeutungskonstellationen eingeordnet werden. Das ist die Aufgabe des Vergleichs mit den Äußerungen auf der anderen Seite der Front sowie die der zeitlichen Einschränkung.

(die Vernichtung den als "Scheusal", "Hunde", "Tiere" oder "Schlangen" bezeichneten Feind bringt mit sich kein Skrupel - je mehr umgebracht wurden, desto besser), oder um eine Anknüpfung an den bereits erwähnten Traditionslinien (eher unbewußt) herzustellen.

3. PRÄEXISTIERENDE FEINDBILDER UND PROPAGANDISTISCHE INDOKTRI-