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5. Feindbilder und Motivationen „von unten“

5.5. Alters- und Dienstgradgruppen

5.5.2. Gruppen nach Dienstgrad

Hintergrundinformationen zu insgesamt 33 deutschen und 16 russischen Feldpostbriefen liefern Angaben über den Dienstgrad des Briefschreibers (Tabelle siehe Anhang).

Für die deutschen wie russischen Briefschreiber gilt im allgemeinen, dass die Häufigkeit der Erwähnungen vom Feind mit dem Dienstgrad des Militärangehörigen steigt: Unter deutschen Briefschreibern mit dem Dienstgrad „Soldat“ bis „Obergefreiter“ sind 8 Erwähnungen von 25 Feldpostbriefen festzustellen, was ca. 32 % ausmacht; bei den Dienstgraden „Feldwebel“ bis

„Oberleutnant“ enthalten 8 Feldpostbriefe 5 Erwähnungen vom Feind, was bereits ca. 62 % beträgt. Unter russischen Militärangehörigen mit dem Dienstgrad „Soldat“ enthalten 3

Feldpostbriefen 2 Erwähnungen vom Feind, was ca. 67 % beträgt; dabei sind es unter Militärangehörigen mit dem Dienstgrad „Feldwebel“ bis „Oberleutnant“ 10 von 13, also ca. 76 %.

In zwei von drei Feldpostbriefen russischer Militärangehörigen mit dem Dienstgrad „Soldat“

kommen unter den Feindbildkategorien Propagandaausdrücke und Schimpfwörter vor (je ca.

67%). Die Anzahl beider Kategorien sinkt mit der Steigung des Dienstgrades des Schreibers: 5 von 13 Feldpostbriefen der Militärangehörigen mit dem Dienstgrad „Feldwebel“ bis

„Oberleutnant“ enthalten Propagandaklischees (ca. 38%), 3 von 13 - Schimpfwörter (ca. 23

%). Da eine höhere Stellung in Militärhierarchie einen höheren Bildungsgrad voraussetzt, ist ferner anzunehmen, dass dadurch bei den Militärangehörigen höheren Dienstgrades eine Art

„Filter“ entstand, der die Aufnahme bzw. die Wiedergabe der Kriegspropagandaklischees an die

„signifikanten Anderen“ (Briefempfänger) reduzierte; dies führte ausserdem dazu, dass Militärangehörige höheren Dienstgrades den Krieg bzw. den Gegner wenig emotionaler gesehen haben.

Da die Angaben zum Feindbilder der deutschen Briefschreiber, eingeordnet nach dem Dienstgrad des Schreibers, zahlenmässig gering sind, war eine differenzierte Analyse nach Feindbildkategorien nicht möglich.

Die Erklärung von Vorurteilen und Feindbildern in sozialen Prozessen knüpft in einigen soziologischen Theorien an die Frustrations-Agressions-Hypothese an. Ein Erklärungsansatz sieht einen Zusammenhang zwischen sozialer Mobilität und Vorurteilen bzw. Feindbildern.

Bereits in den 40er Jahren fanden Bettelheim und Janowitz heraus, dass weniger die starren Statuskategorien wie soziale Klasse, Schulbildung, Einkommen usw. für die Vorurteilsneigung von Bedeutung sind, als vielmehr die Auf- und Abwärtsmobilität von Personen oder Personengruppen. Es wird angenommen, dass das Verlassen der Herkunftsgruppe oder -schicht und die Orientierungsprobleme in der neuen Statusgruppe zu Spannungen und Frustrationen in der Person führen, was einen „Ableiter“ braucht. Die empirischen Ergebnisse beim Test dieser Theorie, sind nicht eindeutig. Es wird jedoch angenommen, dass plötzlicher sozialer Abstieg zu einer Krise des Selbstvertrauens führt; bei sozialem Aufstieg wird der Anstieg von Intoleranz weniger als Ergebnis von Frustration als vielmehr von Prestigeunsicherheit angesehen. Der Aufsteiger nimmt in der neuen Schicht eine marginale Position ein und tendiert zur Überkonformität gegenüber der neuen Bezugsgruppe. Das Gefühl der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit löst Angst und Frustration aus, die jedoch nicht gegenüber der neuen Statusgruppe geäussert werden können und dementsprechend auf ein

äusseres Feindbild umgeleitet werden.107 Wenn dieses Feindbild in einer friedlichen Situation nationale Minderheiten oder soziale Randgruppen ausmachen, ist es der äussere Feind im Fall eines Krieges. Die Wirksamkeit von Feindbildern und anderen stereotypen Vorstellungssystemen als Orientierungsrahmen für eigenes Denken und Handeln ist in Krisenzeiten besonders hoch einzuschätzen. Ausserdem erleichtert die Artikulation von Feindbildern die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, wie auch zuweilen ein gemeinsames Feindbild das einzige oder wichtigste konstituierende Merkmal von sozialen Gruppen besonders in Krisenzeiten sein kann, das auch die Koordination bei nicht-komplementären zielen der Akteure in der Gruppe erleichtert. Laut diesem Erklärungsansatz stieg die Häufigkeit der Erwähnungen vom Feind bei Militärangehörigen höheren Dienstgrades als Reaktion auf die Unsicherheit ihrer neuen sozialen Situation bzw. Umgebung; dabei erzielt das Individuum, der sich in so einer Situation befindet, eine stärkere Kohäsion mit der „Wir-Gruppe“, was auch eine stärkere Präsenz der gemeinsamen Feindbilder in den Feldpostbriefen herbeiführt.

5.5.3. Zusammenfassung

Die deutschen wie russischen Soldaten verwendeten in ihren Feldpostbriefen alle sechs Feindbilderkategorien: „Propagandistische Ausdrücke bzw. Propagandaklischees“, „Negative emotionelle Bezeichnungen bzw. Schimpfwörter“, „Dehumanisierung bzw. Entmenschlichung des Feindes“, „Feind/Gegner“, „Ivan“ sowie „Fritz/Hans“, „der Russe/die Russen“ bzw. „der Deusche/die Deutschen“. Auffällig dabei ist, dass die allgemeine ‘Sättigung’ mit Feindbildern auf russischer Seite beinahe um das Zweifache stärker ist: 41 deutsche Feldpostbriefe von 109 enthalten russische Feindbilder (37,61%), dabei enthalten 47 russische Feldpostbriefe von 63 Erwähnungen vom deutschen Feind (74,60%) .

Als Gründe für den höheren ‘Sättigungsgrad‘ könnten folgende Faktoren erwähnt werden:

- längerer Sozialisationsprozess aus sowjetrussischer Seite. Die Sowjetunion wurde bereits 1922 gegründet, und die Staatspropaganda setzte sofort ein, was ihre Wirkung in allen sozialen Schichten der Bevölkerung stärkte. Ausserdem fand bereits vor der Gründung der Sowjetunion eine Selektion der „Nicht-Loyalen“ statt: Im Laufe des Bürgerkrieges 1918-1921 wurden die meisten Gegner der Sowjetmacht entweder vernichtet oder aus der Sowjetunion vertrieben. Die Suche nach dem inneren und äusseren Feind war für die sowjetische Propaganda typisch. So

107 Vgl. Lengfeld, Holger (Hrsg.), Entfesselte Feindbilder. Über die Ursachen und Erscheinungsformen von Fremdfeindlichkeit, Berlin 1995, S. 21-23. Dazu auch Bettelheim, Peter, Streibel, Robert (Hrsg.): Tabu und Geschichte: zur Kultur des kollektiven Erinnerns, Wien 1994.

sorgten z. B. die sog. „Schauprozesse“ und „Säuberungen“ 1937-1938 für eine Art

„Hasserziehung“. Es scheint zu gelten: Je näher eine Feindbildpropaganda an einer gesellschaftlich bestehenden, latenten Feindbildstruktur angesiedelt ist und je ähnlicher sie ihr ist, desto eher wird sie erfolgreich sein;

- Wahrnehmung auf russischer Seite könnte emotioneller durch den Faktor ‘Boden’ sein. Der Bodenfaktor ist in dem Fall als eine ständige Präsenz des Feindes auf eigenem Territorium sowie unmittelbare Betroffenheit der Familienangehörigen der Soldaten durch die Kampfhandlungen, die vertrieben oder ums Leben gekommen waren oder auf dem von den Deutschen okkupierten Gebieten lebten, zu verstehen; auch die vertraute Umgebung der russischen Soldaten - Städte, Dörfer sowie Landschaften wurden vom Krieg unmittelbar betroffen bzw. bedroht.

Der niedrigere ‘Sättigungsgrad‘ auf deutscher Seite könnte durch die folgenden Faktoren bestimmt worden sein:

- Krieg wurde zur Routine. Der deutsche Landser war seit 1939 in unterschiedlichen Kämpfen an unterschiedlichen Orten eingesetzt und hatte zum Zeitpunkt der Schlacht um Stalingrad bereits einige Jahre Kampferfahrung. Viele der am Kampf um Stalingrad beteiligten Soldaten waren vorhin in anderen Ländern im Einsatz. Die Wahrnehmung der sich ständig wechselnden Gegner führte dazu, dass der Feind zum Teil „gesichtslos“ wurde; gute Organisation der deutschen Wehrmacht bzw. gut organisierte Führung der Mannschaften108 trugen auch dazu bei, dass eine kritische Auffassung der aktuellen Kriegssituation bzw. des Gegners als unnötig erschien;

- eine reziproke Wirkung des [„russischen“] Bodenfaktors: Die Familienangehörigen der deutschen Soldaten sowie ihre Heimatorte waren durch militärische Operationen auf einem fremden Terrain nicht unmittelbar betroffen (abgesehen von Bombenangriffen), was zu einer niedrigeren Emotionalität der Wahrnehmung vom Feind bzw. von der Kampfhandlungen führte.

Für eine viel stärkere Emotionalität russischer Feldpostbriefe spricht auch die Tatsache, dass 12 von 63 russischen Feldpostbriefen - beinahe ein Fünftel - solche Feindbildkategorie wie

„Negative emotionelle Bezeichnungen bzw. Schimpfwörter“ enthalten. Dabei enthalten die 109 deutschen Briefen nur eine einzige Beschreibung des russischen Feindes, die derselben Kategorie zuzuordnen ist. Eine stärkere Emotionalität russischer Feldpostbriefe ist zum Teil auch auf eine höhere Emotionalität der sowjetischen Kriegspropaganda zurückzuführen: Solche Attribuierungen des deutschen Feindbildes wie „Räuber“, „Bestien“ sowie die Erwähnungen einer „moralischen Verkommenheit“ des Feindes u.ä. waren auch für die politische Führung des

108 Siehe z.B. das Kapitel 6 „Heeresorganisation“ in: Creveld, Martin van, Kampfkraft. Militärische Organisation und militärische Leistung 1939-1945“, Freiburg i. B. 1992, S. 51-101.

Landes üblich: „Die deutschen Landräuber wollen den Vernichtungskrieg gegen die Völker der UdSSR. Nun wohl, wenn die Deutschen einen Vernichtungskrieg wollen, so werden sie ihn bekommen. (...) Schon allein der Umstand, daß die deutschen Räuber, die jedes Menschenantlitz verloren haben, in ihrer moralischen Verkommenheit schon längst auf das Niveau wilder Bestien herabgesunken sind, schon allein dieser Umstand spricht dafür, daß sie sich dem unvermeidlichen Untergang preisgegeben haben.“109

In bezug auf die Verwendung von unterschiedlichen Feindbildkategorien in den Briefen deutscher und russischer Soldaten wurde folgendes festgestellt: Die häufigste Feindbildkategorie mit 34 Erwähnungen auf deutscher Seite ist die Kategorie „der Russe/die Russen“. Auf russischer Seite kommt hingegen am häufigsten die Kategorie „Propagandistische Ausdrücke bzw. Propagandaklischees“ vor, die insgesamt 26 Erwähnungen bilden. Diese stärkere Übereinstimmung der Feindbilder ‘von unten’ auf der russischen Seite mit denen der offiziellen Propaganda lässt sich dadurch erklären, dass die bereist vorhandenen Denkstrukturen der länger existenten sowjetischen Gesellschaft und dementsprechend - neue sozialisierende Institutionen - die Aufnahmebereitschaft der Rotarmisten für die Kriegspropaganda bzw. deren Klischees stärkten.

Leon Festinger entwickelte bereits 1957 die Theorie der kognitiven Dissonanz. Die grundlegende Annahme der Theorie ist, dass der Mensch Inkonsistenz, d.h. die gleichzeitige Existenz von miteinander nicht zu vereinbarenden kognitiven Vorstellungen, nur schwer ertragen kann.110 Das Individuum wird daher versuchen, seine verschiedenen Vorstellungen miteinander in Einklang zu bringen, um kognitive Konsistenz zu erreichen. Zu diesem Zweck werden Informationen, je nach ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit schon bestehenden Vorstellungen, unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet.

Unsicherheit im Urteil bedeutet für das Individuum somit eine psychische Belastung, die es zu vermeiden sucht. Aufgrund der Komplexität der Kriegssituationen, mit denen der Soldat konfrontiert ist, erscheint eine objektive Einschätzung im Fall eines Krieges als Mittel zur Vermeidung kognitiver Dissonanz und damit von Unsicherheit jedoch kaum möglich. Feindbilder und andere stereotype Systeme bieten dem Individuum hier einen Ausweg, da sie auch in einer komplexen Situation einfache Sinnstrukturen erlauben bzw. unkomplizierte, vielseitig anwendbare Deutungsraster bieten.111

109 Stalin, Werke, Bd. 14, Rede zum 24. Jahrestag der Oktoberrevolution, S. 253-254.

110Festinger, Leon, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford, CA. 1957.

111 Vgl. Bierbrauer, Günter u.a.: Nachrüstung: dafür oder dagegen? Eine empirische Untersuchung über Verhaltsnintentionen und Feindbilder, in: Horn, Klaus, Rittberger, Volker, (Hrsg.): Mit Kriegsgefahren leben, Opladen 1987, S. 155-170. Dazu auch Bergler, Reinhold, Six, Bernd,

In der Situation eines Krieges ist das Individuum oft auf die Informationen „aus zweiter Hand“

angewiesen. Als Informationsquelle bietet sich vor allem die Kriegspropaganda an, die als ein Mittel zur Reduktion ‘sozialer Komplexität’ der Situationen auftritt. Neben der Reduktion kognitiver Dissonanz bieten Feindbilder auch Anhaltspunkte zur emotionalen Orientierung des Individuums. Die Stigmatisierung eines Objektes zum „Feind“ erlaubt dem Individuum eine eindeutige negative emotionale Besetzung des Objektes. Zweifel werden überflüssig: Das Individuum gelangt zu einem festen emotionalen Standpunkt, der durch pseudorationale Begründungen kognitiv untermauert wird. Ausserdem bietet die Propaganda eine Art

‘Argumentationshilfe’ für Soldaten, indem sie auf die bereist vorhandenen Denkstrukturen der Gesellschaft zurückgreift und dem Soldaten fertige, einfach konstruierte und leicht annehmbare Formulierungen gibt.

Als Beispiel für psychische Belastung durch Inkonsistenz kann eine Bruchstelle im Brief eines Rotarmisten vom 23.10.1942 angeführt werden. An diesem Beispiel sieht man, dass die Möglichkeit eigenen Todes eine psychische Dissonanz und als Folge eine Bruchstelle im Brief herbeiführt: Der zunächst beschriebenen Erwartung der eigenen Rückkehr „... Lina, Ihr schreiben, dass Ihr sehr niedergeschlagen seid wegen mir. Lina und Vera, wieso sollt Ihr niedergeschlagen seid? Wenn ich am Leben bleibe, dann sehen wir uns,“ folgt gegen die Annahme, es wird jetzt die Möglichkeit des eigenen Todes beschrieben, das Selbstbild „tapferer und kühner Kavalleristen“, verbunden mit einem propagandistisch gefärbten Feindbild: „und die tapferen und kühnen Kavalleristen haben keine Angst vor feindlichen Kugeln und Granaten, weil wir uns mit der Militärtechnik auskennen, und unser ganzes Ziel ist, die blutrünstigen Faschisten zu vernichten...“112

Das Denken in feindlichen Kategorien trägt zur Aufbau und zur Stärkung des Selbstwertgefühls bei. Analog zum Sprichwort „Viel Feind, viel Ehr“ steigen sowohl das Bewusstsein von der eigenen Bedeutung als auch die soziale Anerkennung mit der Zahl, Bedeutung und Stärke bzw.

Gefährlichkeit der Feinde.

So trägt die Behauptung eines deutschen Soldaten in seinem Feldpostbrief vom 18.11.1942 „...

Stalin hat hierher Eliteeinheiten geschickt, da sind sicher fast nur Kommunisten und Offiziere.

(...)“ sowie die Beschreibung der Standfestigkeit des Feindes: „Der Russe kämpft hartnäckig

Stereotype und Vorurteiel, in: Graumann, C.F. (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Bd. 7.

Sozialpsychologie, Göttingen 1972, S. 1372ff.

112 Briefschreiber: Borisow, Jegor, Dienstgrad - Oberfeldwebel, Jahrgang unbekannt, Quelle: „Pos-lednie pis’ma s fronta“ (Die letzten Briefe von der Front), Band 2 (1942), S. 403, eigene Übersetzung.

und erbittert um jeden Meter. (...) Die Russen tarnen sich geschickt und verteidigen sich in Trümmern. Diese Kämpfe kosten uns viel Blut..“113 dazu bei, dass Selbstwertgefühl bzw.

Selbstbewusstsein in seinen eigenen Augen wie in denen des Briefempfängers gestärkt wird.

Ein wesentlicher Teil persönlicher Identität ergibt sich aus der Abgrenzung der eigenen Person gegenüber anderen. Die perzipierte Verschiedenheit des Selbst vom Gegenüber ermöglicht kognitive und affektive Identität. Feinde sind in kognitiver und affektiver Hinsicht besonders geeignete Abgrenzungsobjekte. Da der Feind in der Regel generell als fremd- und andersartig wahrgenommen wird, bietet er ein ideales Kontrastbild zur Selbstwahrnehmung. Den Charakteristika des Feindes werden eigene Attribute gegenübergestellt. So wird sich das Individuum der eigenen Merkmale und Eigenschaften stärker bewusst (kognitive Identität). Der extremen Abwertung des Feindes wird als Gegenpol ein höchst positives Selbstbild (wie z.B.

„die tapferen und kühnen Kavalleristen“ im oben angeführten Beispiel) entgegengesetzt; dies bedeutet Aufwertung der eigenen Person und ein positives Selbstwertgefühl (affektive Identität).114

In dieser Hinsicht ist ausserdem zu klären, inwieweit das Kampfobjekt von den Militärangehörigen im Fall eines bewaffneten Konfliktes als „Feind“ wahrgenommen wird. Es wird vermutet, dass generell die Einstufung des Kampfobjektes als „Feind“ bzw. „Gegner“ eine Art Anerkennung bedeutet (analog mit dem Sprichwort „Viel Feind, viel Ehr“); wenn es dem Kampfobjekt den Status „Feind“ abgesprochen wird, deutet dies auf dessen Abwertung hin; in dem Fall ist es kein „Feind“ bzw. „feindlicher Soldat“, was auch eine Spiegelbildlichkeit für das eigene „Ich“ bedeuten könnte („der ist auch ein Soldat, der unter Befehl und Militäreid steht“

etc.), sonder einfach ein zu eliminierendes Objekt der Kampfhandlungen, ein „Störfaktor“ für die Erfüllung der Kampfaufgabe oder für persönliche Zukunftserwartungen des Militärangehörigen (Vgl.: „Wenn wir hier nicht vorm Russen ständen, könnte man glauben, wir wären hier auf Wintersport...“bzw. „Bald wäre es mir ja geglückt, kurz vor Weihnachten den langersehnten Urlaub antreten zu können, wenn nicht der Russe einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte.“).115 Man wird im Umkehrschuss annehmen dürfen, dass die Nicht-Anerkennung des Kampfobjektes als Feind eine verborgene bzw. latente Dehumanisierung zu bedeuten hat.

Indirekt wird es durch die Tatsache bestätigt, dass die deutschen Feldpostbriefe nur eine einzige Bezeichnung der russische Soldaten als „Feind/ Gegner“ enthalten, dabei sind es 20 Erwähnungen in den 63 russischen Feldpostbriefen, was eine Bestätigung für die Auswirkungen

113 Briefschreiber: ?, Ernst, Dienstgrad und Jahrgang unbekannt, Quelle: „Po obe storony fronta - Auf beiden Seiten der Front“, S. 202-203, eigene (reziproke) Übersetzung.

114 Vgl. Flohr, A., Feindbilder in der internationalen Politik, S. 118-120.

115 Zitat 1- Briefschreiber: Bartels, W.?, Dienstgrad - Obergefreiter, Jahrgang - 1918, Quelle:

„Zwischen Mythos und Wirklichkeit“, S. 49; Zitat 2 - Briefschreiber: ?, Heinz, Dienstgrad und Jahrgang unbekannt, Quelle: Golovansky, Anatoly, „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“, S. 192.

der Propaganda der rassischen Minderwertigkeit der Russen bzw. Slaven unter den deutschen Militärangehörigen bedeuten kann.

Da die Artikulation von Feindbildern die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen erleichtert, wird ein gemeinsames Feindbild zuweilen auch das einzige oder wichtigste konstituierende Merkmal von sozialen Gruppen116 besonders in Kriegs- bzw. Krisensituationen sein; das Feindbild steht somit im engsten Zusammenhang mit dem Selbstbild, was anzunehmen erlaubt, dass Feindbilder ein konstitutives Merkmal des sozialen Bewusstseins des Soldaten sind.

So könnte das russische Feindbild, dargestellt in dem bereits zitierten Feldpostbrief eines deutschen Soldaten vom 21.01.1943 als eine feindliche „Übermacht“, eine Art ‘Hintergrund’

bieten, vor dem sich das Selbstbild des „deutschen Landsers“ abhebt: „ Ich liege nun seit einigen Monaten bei Stalingrad.(...) Die Lage hier ist sehr ernst. (...) Mit fanatischer Kraft wehrt sich der deutsche Landser gegen eine Übermacht die einzig dasteht.“117

Die Konstruktion „Selbstbild - Feindbild“, genauer gesagt „aufgewertetes Selbstbild - abgewertetes Feindbild“ bildet ein „stabilisierenden Ungleichgewicht“ zwischen ‘Gut’ und ‘Böse’

in der Vorstellung des Soldaten; so stehen im bereits zitierten Feldpostbrief vom 23.10.42 den

„blutrünstigen Faschisten“ „die tapferen und kühnen Kavalleristen“ gegenüber. Das Feindbild übernimmt in dem Fall die Funktion eines Hintergrundes bzw. eines „Gegengewichtes“ für das Selbstbild. Eine Aufwertung der Stärke sowie der Gefährlichkeit des Feindes bedeutet somit eine latente Aufwertung des eigenen „Ichs“: Die Behauptung eines russischen Briefschreibers in seinem Brief vom 23.07.1942 „...In den ersten Juli-Tagen war ich in erbitterten Kämpfen mit dem verdammten Feind, mit dem bösesten Feind der ganzen Menschheit.“118 setzt besondere soldatische sowie menschliche Qualitäten des Briefschreibers voraus, da nur der „richtige Held“

so einen gefährlichen Feind zu besiegen imstande ist.

Eine Dehumanisierung des Gegners fand auf beiden Seiten der Front statt. Die russische Soldaten verwenden dabei solche Attribuierungen wie „vertierter Imperialismus“ bzw. „vertierter Feind“ (in den Briefen an private wie auch an offizielle Adressen), „Unholde“ bzw. „die deutschen Unholde“ - in Bezug auf feindliche Panzer (diese Bezeichnung ist auf eine Anknüpfung an bereits vorhandenen Traditionslinien zurückzuführen);119 zwei weitere

116 Vgl. Lippert, Ekkerhard, Wachtler, Günther (Hrsg.), Frieden. Ein Handwörterbuch. Opladen 1988, S. 82-83.

117 Briefschreiber: ?, Franz, Dienstgrad und Jahrgang unbekannt, Quelle: „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“, S. 234.

118 Briefschreiber: Semenow, Alexej, Dienstgrad - Garde Oberfeldwebel, Jahrgang 1907, Quelle:

„Poslednie pis’ma s fronta“ (Die letzten Briefe von der Front), Band 3 (1943), S. 319.

119 Der Feind des Protagonisten der russischen Folklore ist meistens ein feuerspeiender Drache. Ein wichtiges christliches Symbol dazu - Georgij - der Siegesträger (der heilige Georgij zu Pferd (eine

Bezeichnungen „Braune Pest“ bzw. die Darstellung Deutschland als „Höhle des Tieres“

kommen in den Feldpostbriefen an offizielle Adressen vor.

Die deutschen Soldaten benutzen nur selten dehumanisierende Ausdrücke; es sind nur jeweils ein Feldpostbrief an offizielle sowie an private Adresse. So behauptete ein Briefschreiber in seinem Feldpostbrief 07.01.1943 an private Adresse: „Menschen sind es nicht, die uns im Augenblick noch gegenüber liegen. Es sind heimatlose Geschöpfe die so stur gegen uns stehen, weil sie nicht wissen, wo sie sonst noch hin sollen....“, und in einem anderen Brief vom 18.05. 1942 an eine offizielle Adresse: „Wir haben es immer erleben müssen, mit welch erbarmungsloser tierischer Sturheit die Kommissare der Sowjets ihre Soldaten in das deutsche Abwehrfeuer hetzten“. Die zweite Behauptung enthält dabei eine gewisse Zweideutigkeit:

„tierische Sturheit“ wird ja nicht den russischen Soldaten, sondern deren Kommissaren zugeschrieben, was noch einen Platz für ev. Mitgefühl für die Gegner auf anderer Seite der Front, die solch brutalen Kommissaren unterstellt sind, frei lässt.

Zu den Funktionen einer Dehumanisierung des Feindes gehören vor allem Legitimation der Gewaltanwendung bzw. Senkung oder gar Eliminieren der Hemmschwellen; eine offene sowie latente Dehumanisierung verdrängt den beklemmenden Gedanken, dass unser Feind ein Mensch wie wir ist.120 Eine offene Dehumanisierung mit der Beschreibung des Feindes als Tier, Barbar, Bestie, Ungeziefer, Unhold bzw. Krankheitserreger ist dabei eher für die russischen Soldaten typisch; bei den deutschen Soldaten ist latente Dehumanisierung festzustellen, indem von ihnen den russischen Soldaten der Status „Feind/Gegner“ abgesprochen wird.

Abgesehen von einer einzigen Erwähnung von „diesem Mordgesindel“121 enthalten deutsche Feldpostbriefe keine Schimpfwörter; dabei gibt es insgesamt 12 Feldpostbriefe von 47, in denen russische Soldaten Schimpfwörter zur Beschreibung ihres deutschen Gegners verwenden.

Typische Bezeichnungen sind dabei z.B. „.blutige Bande“,122 „die Menschenfresser“,123 „die Schurken“,124 „Dreckskerle“,125 „deutsche Räuber“126 u.ä. Die Benutzung von Schimpfwörtern

der populärsten russischen Heiligenfiguren) durchbohrt mit einer Lanze einen Drachen; die Symbolfigur eines “Drachenbesiegers” wurde seitens der Sowjetregierung als Held in den sowjetischen Mythos einbezogen. Vgl. S. 48.

120 Vgl. Flohr, Anne, Feindbilder in der internationalen Politik, S. 40-42.

121 Aus dem Brief vom 07.01.1943, Briefschreiber:?, Menne, „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“, S.

183.

122 Aus dem Brief vom 28.09.42, Briefschreiber: Samarin, Semjon, „Poslednie pis’ma s fronta“, Band 2

122 Aus dem Brief vom 28.09.42, Briefschreiber: Samarin, Semjon, „Poslednie pis’ma s fronta“, Band 2