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4. Feindbilder und Motivationen „von oben“

4.1. Objekte der Kampfhandlungen und ‘kulturelle Konstruktion des Krieges’

Die Wahrnehmungsfähigkeit eines jeden Soldaten sowie die Besonderheiten der Wahrnehmung im Krieg werden durch unterschiedliche synchrone und diachrone Kriegsfaktoren beeinflusst, dazu zählen militärische Funktion des Soldaten, Kriegsschauplatz, Einsatzort des Soldaten, Kriegsphase, Jahreszeit bzw. Klima, Waffengattung, Dienstgrad, Alter, Familienstand, soziale Herkunft, Ausbildungsniveau u.a. (siehe Kapitel 1).1

Unabhängig von politischen Zielen der Regierungen und möglichen Kriegsursachen gewinnt dabei jeder Krieg eine innere Dynamik, die in eine symbolisch codierte Form gebracht werden kann. Diese symbolische Form des Krieges steht mit den oben erwähnten Kriegsfaktoren in Wechselbeziehung und bildet eine ‘kulturelle Konstruktion’ des Krieges. Die Akteure - Kombattanten - und Nicht-Kombattanten2 (also Militärangehörige und Zivilbevölkerung) benutzen sie, um ihr indiviluelles bzw. kollektives Handeln zu organisieren. Andererseits wird auch ihr variables Handlungsprogramm von der ‘kulturellen Konstruktion’ des Krieges beeinflusst und gesteuert.

Innerhalb der ‘kulturellen Konstruktion’ des Krieges findet eine routinemäßige und systematische Attacke auf den menschlichen Körper3 statt; der menschliche Körper verleiht den vertretenen Ideologien, Ideen und Interessen das Attribut körperlicher Realität,

1 Dazu auch Senjavskaja, Elena S., 1941-1945. Frontovoe pokolenie. Istoriko-psichologiÝeskoe issledovanie (1941-1945. Kriegsgeneration. Geschichtlich-psychologische Untersuchung).

Moskau 1995, S. 93-125. Dies.: Psichologija vojny v XX veke (Psychologie des Krieges im 20.

Jahrhundert.), Moskau 1999. Dazu auch: Senjavskaja, Elena S., Frontovoj byt (Frontalltag), Mir istorii Nr. 2/2000 /elektronische Zeitschrift/ http://www.tellur.ru/~historia/archive/02-00/byt. htm/;

Senjavskaja, Elena S., Psichologija vojny v XX veke kak istoriko-teoretiÝeskaja problema (Psy-chologie des Krieges im 20. Jahrhundert als geschichtlich-theoretisches Problem), Vortrag an der Lomonosow-Universität Moskau 1999, Text im Internet abrufbar unter: http://ns.hist.msu.ru/

Departments/HisTheory/Ed2/nhjtr3.htm/; Humburg, Martin, Deutsche Feldpostbriefe im Zweiten Weltkrieg - eine Bestandaufnahme; Vogel, Detlef, Aber man mus halt gehen, und wenn es in den Tod ist. Der deutsche Kriegsalltag im Spiegel von Feldpostbriefen; Arnold, Sabine R., „Ich bin bisher noch lebendig und gesund“. Briefe von den Fronten des sowjetischen „Großen Vaterländischen Krieges“, in: Detlef Vogel / Wolfram Wette (Hrsg.), Andere Helme - Andere Menschen? Heimaterfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg; ein internationaler Vergleich, Essen 1995.

2 Zur Begriffsdefinition siehe: Steinkamm, Armin A., Die Streitkräfte im Kriegsvölkerrecht, Würzburg 1967, S. 70-75.

3 Seifert, Ruth, Der weibliche Körper als Symbol und Zeichen, in: Gestrich, Andreas (Hrsg.), Gewalt im Krieg. Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20.

Jahrhunderts, Jahrbuch für Historische Friedensforschung, 4. Jahrgang 1995, S. 20.

materialisiert sie, und fungiert somit in der symbolischen Konstruktion des Krieges als kulturelles Zeichen.4

Der Körper des männlichen Soldaten fungiert im wesentlichen als kulturelle Repräsentanz des Staates,5 deren Zugehörigkeit durch entsprechende Symbole (wie z.B. Uniform) gekennzeichnet wird.

Der weibliche Körper repräsentiert dabei den ‘Volkskörper’ bzw. den ‘Körper der Nation’

(symbolisch Darstellungen des Volkskörpers sind z.B. die französische Marianne, die Freiheitsstatue der USA, die Mutter-Heimat-Statue in Russland (Volgograd) usw.), denn Frauen gelten in Kriegszeiten als diejenigen, die Familie und Gemeinschaft zusammenhalten.6

Während die Auseinandersetzung zwischen männlichen Soldaten von einigen Wissenschaftlern (Seifert u.a.) als Subjekt-Subjekt Auseinandersetzung konstruiert wird, wird die Attacke auf Frauen als Subjekt-Objekt7 Auseinandersetzung dargestellt. Die Soldaten im Kriegsvölkerrecht sind jedoch nicht nur Subjekte, sonder auch ‘erlaubte’ Objekte der Kampfhandlungen. Innerhalb der umfassenden Gruppe der Kombattanten unterscheidet das Kriegsrecht zwischen den legitimen und den illegitimen bzw. unprivilegierten Kombattanten:8

„Wer immer im Kriegsfalle Kampfhandlungen setzt, ist Kombattant, wer von Völkerrecht wegen solche Handlungen setzen darf, ist legitimer Kombattant.“9 Das Kriegsrecht ermächtigt demnach nur bestimmte Personengruppen zur Setzung von Kampfhandlungen. Die solcherart privilegierten - legitimen - Kombattanten sind jedoch nicht nur Subjekte der Kampfhandlungen, sie „sind auch die Objekte der Kampfhandlungen des Gegners.“10 Diese Erlaubnis, Kriegshandlungen zu setzen, beinhaltet somit gleichzeitig die Notwendigkeit, Objekt der Kampfhandlungen des Gegners zu sein.

Der legitime Kombattant, der aus Gründen von Verwundung oder Krankheit Waffengewalt nicht mehr anzuwenden imstande ist, oder der sich ergibt, weil er nicht mehr kämpfen will, ist dabei nicht mehr Kombattant im Vollsinn des Wortes.

4 Seifert, Ruth, Der weibliche Körper als Symbol und Zeichen, S. 28.

5 Ebenda. Während der Feldherr aus einer herausgehobenen sozialen Position handelt und mit vielerlei Ressourcen ausgestattet ist, leistet der Soldat, der den „Heldentod“ stirbt, das existentielle Engagement für den Staat. Zu seinen Ressourcen gehört vor allem sein Körper, ausgestattet mit bestimmten Fähigkeiten und Fertigkeiten. Vgl. Schilling, René, Die „Helden der Wehrmacht“ - Konstruktion und Rezeption, in: Müller, Rolf Dieter, Volkmann, Hans-Erich (Hrsg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, S. 557ff.

6 Seifert, Ruth, Der weibliche Körper als Symbol und Zeichen, S. 27-28. Zur symbolischen Be- deutung der Mutter-Heimat-Statue in Russland siehe auch Arnold, Sabine R., Das Denkmal auf dem Mamaj-Hügel, in: Dies.: Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis, S. 237-334.

7 Seifert, Ruth, ebenda, S. 29.

8 Steinkamm, Armin A., Die Streitkräfte im Kriegsvölkerrecht, Würzburg 1967, S. 70.

9 Ebenda

10 Steinkamm, Armin A., Die Streitkräfte im Kriegsvölkerrecht, S. 70 - 71.

Nichtkombattanten gibt es sowohl innerhalb als auch außerhalb der bewaffneten Macht einer kriegführenden Partei. Als sogenannte militärische Nichtkombattanten innerhalb der bewaffneten Macht kommen ferner Militärrichter, Wehrmachtsbeamte, Angestellte und Arbeiter in Betracht, die nicht Soldaten und daher innerstaatlich nicht zur Setzung von Kampfhandlungen ermächtigt sind.11

Zum passiven Kriegsstand gehören in Kriegszeiten die Angehörigen des sog.

Wehrmachtsgefolges, die im Gefolge der Streitkräfte einer kriegführenden Macht eine nichtmilitärische Tätigkeit ausüben (Ärzte, Sanitäter, Geistliche usw.).12

Wer nicht der bewaffneten Macht bzw. dem Wehrmachtsgefolge einer kriegführenden Partei eingegliedert ist, gehört - wie auch immer - der Zivilbevölkerung an.

Angehörigen der Zivilbevölkerung gestattet das Völkerrecht außerhalb des aktiven Kriegsstandes einer kriegführenden Partei die Kampfbeteiligung nicht; sie sollen rechtlich und faktisch Nichtkombattanten bleiben und dürfen somit - kriegsvölkerrechtlich gesehen - nicht Objekte der Kampfhandlungen sein.13

Im Fall eines ‘totalen Krieges’ werden nicht nur Frauen, sondern im allgemeinen alle schutzbedürftigen Personen (Frauen, aber auch ältere Menschen und Kinder beiderlei Geschlechts, also nicht erlaubte Objekte der Kampfhandlungen) attackiert. Somit kann die

‘kulturelle Konstruktion’ des Krieges Auseinandersetzungen „Subjekt - erlaubtes Objekt“

(Militärangehörige gegen Militärangehörige) sowie „Subjekt - verbotenes Objekt“

(Militärangehörige gegen Zivilpersonen) beinhalten. Die zweite Variante bedeutet einen

‘Tabu’- bzw. ‘Zivilisationsbruch’, was eine mentale Vorbereitung bzw. entsprechende Mobilmachung der Wehrmacht und der Bevölkerung erforderlich macht.

Die ‘kulturelle Konstruktion’ der Krieges seit dem Überfall auf die Sowjetunion fiel aus der des

„europäischen Normalkrieges“14 heraus, was bereits vor dem Krieg durch die Disposition der präexistierenden Feindbilder bedingt wurde. So schrieb Halder am 30. März 1941 in seinem Tagebuch: „Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft.“15

11 Ebenda, S. 72.

12 Ebenda, S. 73.

13 Ebenda, S. 74.

14 Fest, Joachim C., Hitler: eine Biographie, Frankfurt/ M. - Berlin 1992, S. 885.

15 Halder, Friedrich, Kriegstagebuch, Bd. 2, S. 335ff.

Diese Änderung der ‘kulturellen Konstruktion’ des Krieges im Osten wurde durch entsprechende propagandistische Massnahmen sowie Dokumente der nationalsozialistischen Führung vorbereitet. Zu den wichtigsten und bekanntesten zählen z.B. Erlass Hitlers vom 13.5.1941 über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Osten bzw. der sog.

„Kommissarbefehl“ vom 6.06.1941. Im Erlass vom 13.5.1941 stand fest: „Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist“.16 Der Kommissarbefehl behauptete seinerseits: „Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen.“17

Als Kampf zwischen „unserem Volk“ und „dem Feind“ schafft der Krieg eine polarisierte Welt, in der „der Feind“ leicht aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen wird. Diese Entmenschlichung des Anderen trug erheblich zu der psychischen Distanzierung18 zwischen Tätern und Opfern bei, die das Töten erleichterte.

Den militärischen Verbänden, die nach Russland eindrangen, folgten - als zweite Welle - besondere Einsatzgruppen mit dem von Hitler bereits am 3. März 1941 formulierten Auftrag,

„die jüdisch-bolschewistische Intelligenz“ möglichst noch im Operationsgebiet auszurotten.

Während die Wehrmacht in den ersten Kriegswochen stürmisch vorwärts drang, den Dnjepr erreichte und eine Woche später auf Smolensk vorstiess, errichteten die Einsatzgruppen in den eroberten Gebieten ihre Terrorherrschaft, durchkämmten Städte und Ortschaften, trieben Juden, kommunistische Funktionäre sowie überhaupt alle potentiellen Angehörigen gesellschaftlichen Führungsschichten zusammen und liquidierten sie.19 Die Zivilisten wurden somit zum ‘normalen’, erlaubten Objekt der Kampfhandlungen.

Die Tabelle 2 zeigt, dass der Zweite Weltkrieg einen zehnfachen „Sprung“ der Anzahl der Opfer unter Zivilisten leistete, was auf die Entmenschlichung des Feindbildes sowie auf andere o.g. Änderungen der ‘kulturellen Konstruktion’ des Krieges zurückzuführen ist (siehe Anhang).

P. Sorokin und K. Rite haben einen Zusammenhang zwischen durchgreifender Änderung der moralischen Werte in der Gesellschaft und der Anzahl bzw. der Intensität der Kriege

16 Rürup, Reinhard (Hrsg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Eine Dokumentation. S. 45

17 Ebenda, S. 46.

18 Browning, Christopher R., Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die

„Endlösung“ in Polen, Reinbek 1997, S. 208ff.

19 Fest, Joachim C., Hitler: eine Biographie, S. 884-887. Vgl. dazu H. Krausnik, „Judenverfol-gung“, in: „Anatomie des SS-Staates“, S. 363ff.

beschrieben.20 Die globalen Änderungen der Werte in einer totalitären Gesellschaft führten dazu, dass dieselben ihre „zügelnde“ Wirkung verloren und (Tötungs-) Hemmungen aufhoben, polarisierte Feindbilder mit entmenschlichten Züge des Anderen schufen und somit zu einer psychischen Distanzierung zwischen Täter und Opfer - vergleichbar mit der räumlichen Distanz (wie bei der Luftwaffe und Artillerie) - führten.

Moralische Werte werden in jedem totalitären Staat für die politische Indoktrination ausgenutzt. Als Rechtfertigung und Moralisierung des Krieges wird derselbe stark ideologisiert und politisiert. Der Krieg nach Clausewitz ist kein „isolierter Akt“, sondern entsteht aus der Politik, die umgekehrt den Zweck vorgibt, aus dessen Willen zur Durchführung ein Krieg entsteht: „So wird also der politische Zweck als das ursprünglich Motiv des Krieges das Maß sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt erreicht werden muß, als für die Anstrengungen, die erforderlich sind.“21 Der russische Militärsoziologe Wladimir Serebrjannikow weist auch auf eine Gesetzmässigkeit hin, die in der Formel „je politischer ein Krieg ist, desto kriegerischer ist er“22 ausgedrückt werden kann. Nach Clausewitz wird der politische Zweck um so stärker das „Maß“ des Krieges bestimmen, je „gleichgültiger sich die Massen verhalten, je geringer die Spannungen sind, die auch außerdem in beiden Staaten und ihren Verhältnissen sich findet, und so gibt es Fälle, wo er fast allein entscheidet.“23 Daraus resultiert sich die Einsicht, dass es eine ganze Skala des Krieges gibt, von der blossen Bedrohung durch Hochrüstung („Kalter Krieg“) bis zum „totalen“ bzw. „Vernichtungskrieg“.24

Das Konzept des „totalen Krieges“ wurde vor allem durch eine Broschüre von Erich Ludendorf in die Diskussion gebracht. Künftig wird der Krieg - so Ludendorf - noch weit höhere Anforderungen „an das Volk in der Bereitstellung seiner seelischen, physischen und materiellen Kräfte für die Kriegführung stellen, als es schon der Weltkrieg tat.“ Da der Krieg die höchste Anspannung eines Volkes für seine Lebenserhaltung ist, muss sich die totale Politik auch schon im Frieden auf die Vorbereitung dieses Lebenskampfes eines Volkes im

20 Sorokon, Pitirim, PriÝiny vojny i uslovija mira (Ursache des Krieges und Bedingungen für den Frieden), Sozis, 1993, Nr. 12, S. 140-148.

21 Clausewitz 1905, Zitat nach: Fetscher, Iring, Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943

„Wollt ihr den totalen Krieg?“, Hamburg 1998, S. 46-47.

22 Serebrajnnikov, Vladimir, Soziologija vojny (Soziologie des Krieges), Zentrum der Soziologie der Nationalsicherheit, Moskau 1997, S.15ff, S. 171. Dazu auch ¾aburchin, A., Novye uslovija besopasnosti (Neue Bedingungen der Sicherheit), in: Nezavisimoe voennoe obozrenie (Unabhängige Militärrundschau) Nr. 33, 1997.

23 Zitat nach Fetscher, Iring, Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943. „Wollt ihr den totalen Krieg?“, S. 47.

24 Fetscher, Iring, Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943. „Wollt ihr den totalen Krieg?“, S. 47.

Kriege einstellen. Die Führung muss mit allen Mitteln dafür sorgen, die „seelische Geschlossenheit“ des Volkes herzustellen und zu bewahren.25

Zivilisationspessimismus gedeiht am besten in Zeiten des Fortschritts, und der Glaube an den sich unaufhaltsam entwickelnden Fortschritt gehörte zu den universalen Überzeugungen des 19. Jahrhunderts, nicht trotz, sondern wegen der historischen Prägung seiner Kultur.

Geschichte bot zwar einerseits ein überwältigendes Material für eine Kritik der Gegenwart, andererseits aber zeigte sich, dass der historische Verlauf den Weg des Fortschritts nahm.

Die Ideen Charles Darwins verbanden auf einzigartige Weise die modernen Geschichts- und Naturwissenschaften, indem sie das Leben evolutionär erklärten und den Fortschritt so als das weltbewegende Prinzip schlechthin erkannte. Es lag nahe, das Auslesemodell Darwins auf das Leben menschlicher Kollektive wie der Staaten und Völker zu übertragen. 26

Besonders attraktiv war diese ‘Wendung der Dinge’ für Militär, die ihnen erlaubte, dem Krieg eine neue Legitimation zu geben. Viele priesen den Krieg als ein die „Nation einendes und kulturschaffendes Ereignis“,27 oder betonten, dass „nur wenn Volkscharakter und Kriegsgewohnheit in beständiger Wechselwirkung sich gegenseitig tragen, darf ein Volk hoffen, einen festen Stand in der politischen Welt zu haben“.28 Somit wurde die ideologische Basis für die ‘kulturelle Konstruktion’ des „totalen Krieges“ - gestützt auf die bereits beschriebenen präexistierenden Feindbildern - bereits im 19. - Anfang 20. Jahrhunderts vorbereitet.

Der Zweite Weltkrieg wies eine allgemeine gefährliche Tendenz zur Vergrösserung der Opfer unter Zivilbevölkerung auf. Die Zivilisten der beiden kämpfenden Parteien wurden zum Objekt der Kampfhandlungen. Wenn der Kampf „Subjekt - unerlaubtes Objekt“ auf deutscher Seite durch entsprechende Ansätze der Kriegs- und Vorkriegspropaganda sowie Dokumente der Führung vorbereitet und legitimiert wurde, so war es auf der sowjetrussischen Seite eine innere ‘destruktive Dynamik’29 des Krieges, verstanden als Bestandteil seiner ‘kulturellen Konstruktion’, die Angriffe gegen die deutsche Zivilbevölkerung auslöste. Rachegefühle

25 Fetscher, Iring, Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943, S. 47. Dazu auch: General Ludendorf, Der totale Krieg, Müchen 1936.

26 Storz, Dieter, Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford, Berlin, Bonn 1992, S. 79 - 81.

27 Friederich von Bernardi 1910, Zitat nach: Storz, Dieter, Kriegsbild und Rüstung vor 1914.

Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford, Berlin, Bonn 1992, S. 79.

28 Clausewitz 1806, Zitat nach Storz, Dieter, Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreit kräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford, Berlin, Bonn 1992, S. 79.

29 Die Idee dieser ‘inneren Dynamik’ hat Clausewitz 1905 mit den Worten „Der Krieg hat seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene Logik“ zum Ausdruck gebracht, Zitat nach: Fetscher, Iring, Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 1943, S. 47.

bedingten eine Dehumanisierung des Feindes und wurden nicht nur gegen ‘erlaubtes Objekt’

des Kampfes auf dem Schlachtfeld, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet.

Ein markantes Beispiel dafür lieferte das Verhalten der Sowjetarmee in Ostpreussen 1945.30 Wie sehr in den Tagen des Einmarsches in Deutschland Anfang Januar 1945 Haß- und Rachegefühle unter den Angehörigen der Roten Armee verbreitet waren, belegen viele sowjetische Militärmemoiren, truppengeschichtliche Darstellungen aus der Nachkriegszeit sowie Feldpostbriefe. Ein Veteran der im Rahmen der 2. Weißrussischen Front Marschall Rokossovskijs operierenden 19. Armee sprach vom „blinden Gefühl der Rache - des ‘Auge um Auge’, ‘Zahn um Zahn’ - das sich leicht in äußeres Handeln umsetzen konnte“.31 „Wir befürchteten zuerst, dass künftig keine deutschen Soldaten mehr gefangengenommen würden“, schrieb der sowjetische General Tschujkow.32

Als Folge führte dies zu zahlreichen Tötungsverbrechen, seien es Einzeltötungen, die Ermordung kleiner Gruppen oder die Massentötung Dutzender von Menschen;

Tötungsverbrechen standen dabei mit Vergewaltigungen und Mißhandlungen in engem Zusammenhang.33 Auch Feldpostbirefe aus dem Jahre 1945 belegen, dass Feindbilder der Sowjetsoldaten äußerst negative gefühlsbetonte ‘Füllung’ hatten, die kein Mitleid mit dem Gegner zuliess:

28. Januar 1945

„...Heute geben wir der feindlichen Gruppierung den Rest. (...) Haus für Haus nehmen wir täglich ab. Der Gegner hungert, seine Soldaten bekommen 2-3 Tage nichts zu essen. (...) Laß sie doch hungern. Sie haben Appetit auf ukrainischen Speck bekommen. Sollen sie jetzt Ziegelsteine fressen.

....Als unsere Soldaten dann bei dem Sturm eines Stadtviertels Gefangene genommen haben, haben sie die mit gutem Herzen ordentlich verprügelt, und einer davon hat überdies bekommen, weil er einen deutschen Helm trug. Heute haben wir SS-Leute gefangengenommen, Kameraden haben sie dann auch in der Hitze des Gefechts wegen ihrer SS-Uniform verprügelt.“34

30 Siehe Kapitel 5 „Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden und die Gegenmaßnahmen der Führung“(S.135 - 167) sowie Kapitel 6 „Die Rote Armee als Besatzungsmacht“ (S. 168-206) in:

Zeidler, Manfred, Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands von Oder und Neiße 1944/45, München 1996; dazu auch Kopelew, Lew, Aufbewahren für alle Zeit! München 1987.

31 Zeidler, Manfred, Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands, S. 135.

32 Tschujkow, W., Gardisten auf dem Weg nach Berlin, (Ost) Berlin 1976, S. 287

33 Zeidler, Manfred, Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands, S. 144-145

34 Aus Briefen von Archipov Wladimir, eigene Übersetzung, Originaltext in: "Auf beiden Seiten der Front", S. 108, Text auf Deutsch siehe Anhang.

Das Ausmass der sinnlosen Gewalt und Zerstörung sowie die Gefahr des Überhandnehmens marodierender Elemente wurde für die Sowjetarmee alsbald zum Problem. Die Attacken auf

‘unerlaubtes Objekt’ zerstörten die militärische Disziplin und Kampfmoral, vernichteten ungezählte Sachwerte und verletzten auch das moralische Empfinden nicht weniger Rotarmisten.35 Als Gegenmassnahme ist bereits am 27. Januar 1945 der Befehl Nr. 004 an die Truppen der 1. Ukrainischen Front ergangen, der die Truppenoffiziere aufforderte, die z.T.

verlorengegangene Disziplin wiederherzustellen und diese „schändlichen Erscheinungen“ mit aller Härte zu bekämpfen.36

Zur ‘kulturellen Konstruktion’ eines ‘totalen Krieges“ gehört auch Attacke auf materielles und kulturelles Gut, das im Zweiten Weltkrieg auch zum Objekt der Kampfhandlungen wurde. Die Kriegspartei, die sich in einer schlechteren, existenzbedrohlichen militärischen Situation befindet, benutzt öfter die sog. Taktik der „verbrannten Erde“. So erging im November 1941 aus dem Hauptquartier des Obersten Befehlshabers der Roten Armee der Befehl Nr. 0428 vom 17. November, der von den Armeetruppen verlangte, alle Ortschaften 40 bis 60 km ins Hinterland des Gegners hinein sowie 20 - 30 km rechts und links von den Autostraßen zerstören bzw. niederzubrennen.37

1941 wurde das Schutzgebiet und das Museum des grossen russischen Dichters Alexander Puschkin durch die 218. Schützendivision der Wehrmacht besetzt. Bis 1943 wurde das Schutzgebiet gepflegt und überwacht, am Grab des Dichters fanden jährlich kirchliche Trauerfeiern statt. Ab März-April 1943 erfolgten jedoch systematische Attacken auf die kulturellen Gegenstände im Schutzgebiet. Als die Truppen der 3. Baltischen Front der Roten Armee das Schutzgebiet am 12. Juli 1943 eingenommen hatten, entdeckten sie das gesprengte Gebäude der Uspenkij-Kathedrale, niedergebrannte Klosterbauten u.a. Spuren der Zerstörung, auch das Grab des Dichters wurde geschändet.38

Dass solche Attacken keine militärischen Funktionen erfüllten, sondern eher durch die destruktive Dynamik des Krieges ausgelöst wurden, geht auch aus den Feldpostbriefen hervor:

26.04.1944

35 Zeidler, Manfred, a.a.O., S. 154.

36 Ebenda, S. 155.

37 IstoriÝeskij archiv (Historisches Archiv), 1993, Nr. 3, S. 148 - 150. Mit der Verbesserung der militärischen Lage der Roten Armee wurde die Taktik der ‘verbrannten Erde’ schnell aufgegeben. So verlange Stalin in seinem Befehl Nr. 95 vom 23. Februar 1943, „dem zurückweichende Feind“ keine

„Möglichkeit zu geben, unsere Dörfer und Städte niederzubrennen“. Quelle: I.W. Stalin. Werke, Dortmund 1976, Bd. 14, S. 308.

„Ich habe mit eigenen Augen viele Gemeinheiten der Deutschen gesehen, ich habe vollkommen niedergebrannte Dörfer ohne Vieh und Geflügel gesehen (...) Ich habe gesprengte Brücken, Bahnbetriebswerke, Fabriken gesehen, ich habe sogar gesehen, wie die Deutschen mit der ihnen eigenen Pedanterie junge Gärten in der Ukraine mit den wunderbaren Aprikosen- und Apfelbäumen abgesägt hatten, Birnen und Pflaumen lagen da, neben den Wurzeln. Das ist kein Krieg mehr, dadurch kann man die Lage an der Front nicht retten, das ist bloss eine bestialische Wut auf alle und alles Sowjetische. (...) Unserer Offensive standzuhalten hat der Deutsche keine Kräfte mehr. Es bleibt ihm jetzt nur noch sich zu rächen, alles zu verderben (...), wo und wie es nur geht.“39

Jeder Krieg bedeutet Kampf, der eine eigene destruktive Dynamik auslöst, welche gegen dieses oder jenes, erlaubtes oder unerlaubtes Kampfobjekt gerichtet werden kann. Vor allem Kombattanten als Akteure des Krieges befinden sich in einem ständigen Selektionsprozeß zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten; dabei erfolgt die wichtige Selektion zwischen unterschiedlichen Kampfobjekten.

Jeder Krieg bedeutet Kampf, der eine eigene destruktive Dynamik auslöst, welche gegen dieses oder jenes, erlaubtes oder unerlaubtes Kampfobjekt gerichtet werden kann. Vor allem Kombattanten als Akteure des Krieges befinden sich in einem ständigen Selektionsprozeß zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten; dabei erfolgt die wichtige Selektion zwischen unterschiedlichen Kampfobjekten.