• Keine Ergebnisse gefunden

3. PRÄEXISTIERENDE FEINDBILDER UND PROPAGANDISTISCHE INDOKTRI- NATION

3.2. Mentale Kriegsbereitschaft

3.2.1. Geschichtliches Rußlandsbild

In einer Tradition, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, galten zunächst das Zarenreich und dann die Sowjetunion nicht nur als besonders gefährlich, sondern auch als fremdartig und minderwertig. Frankreich etwa war trotz aller Vorurteile niemals der Rang einer großen europäischen Kulturnation abgesprochen worden.12

Die Vorstellung, dass es mit dem Großreich im Osten wenig oder gar keine Gemeinsamkeiten gebe, schien ihre Bestätigung durch die bolschewistische Revolution und die Etablierung eines entschieden abgelehnten politisch-gesellschaftlichen Systems zu finden. Im Kriegsfall mußte diese Einstellung zu einer Radikalisierung und Brutalisirung des Denkens und Handels führen.

Mit der Zerstörung des Bonaparte-Reichs waren die waffenbrüderlichen Verbindungen Russlands vor allem mit Preußen, aber auch mit anderen deutschen Staaten auf dem Höhepunkt. Doch während des Wiener Kongresses von 1815, auf dem die Karte Europas neu gezeichnet wurde, keimten bereits die Widersprüche, die später zu kritischen

10 Arnold, Sabine R., Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitären Staat, Bochum 1998, S.17-19. Dazu auch Assmann, Aleida, Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis - zwei Modi der Erinnerung. In Kristin Platt und Mihran Dagab (Hrsg.):

Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995.

11 Dazu auch: Rober M.-A., Tillmann F., Psichologija individa i gruppy (Gruppen- und Individualpsychologie ), Moskau 1988, S. 85-86.

Stimmungsschwüngen und neuer Entfremdung auswuchsen. Der Wiener Kongreß schrieb die Restauration in Frankreich und die Zerstückelung Deutschlands fest. Die demokratisch Gesinnten im Westen Europas, besonders die Jugend, sahen nun vor allem in Russland, dem übermächtigen Mitglied der Heiligen Allianz, die bedrohliche Gewalt der europäischen Reaktion.

Die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue (1819), der als ‘Agent des Zaren’ galt und sich öffentlich zu Russland bekannte, war ein Indiz der zunehmenden Russlandsaversion.

Sie intensivierte sich nach dem Aufstand in Polen 1830/31, den zarische Truppen grausam niederschlugen. In den Revolutionsjahren 1848/48 gab es bereits offene Feindschaft zum Zarenstaat.13 Dagegen hofften auf ihn alle deutschen Konservativen, alle Gegner der Revolution. Der Kaiser von Österreich rief russische Truppen zu Hilfe, um die ungarische nationaldemokratische Revolution zu bekriegen. Zar Nikolaus I. wurde als ”Gendarm Europas”

in einen Teilen der Gesellschaft gesegnet, in den anderen verdammt.

Die Niederlagen, die das russische Kaiserreich im Krimkrieg 1854/55 hinnehmen musste, deckten nicht nur seine militärischen Schwächen auf, sondern auch tiefe wirtschaftliche, sozialpolitische und moralische Gebrechen. Das Zarenimperium, das als die stärkste militärische Weltmacht gegolten hatte, musste einen demütigenden Friedensvertrag unterzeichnen und auf seine Kriegsflotte im Schwarzen Meer verzichten. Obwohl Alexander II.

nach dem Tod seines Vaters Nikolaus I. liberale Reformen einleitete und die fast dreihundertjährige Leibeigenschaft der Bauern aufhob (1861), litt das Ansehen Russlands schwer durch die rücksichtslose Niederschlagung eines neuen Aufstands in Polen (1863/64).

Der Schwund an Autorität und Einfluß, den Russland angesichts dieser Fehlschläge und Gewalttätigkeiten zu verzeichnen hatte, bewirkte in Deutschland, vor allem in Preußen, einen enormen Auftrieb des nationalen Selbstbewußteins, das durch die Siege gegen Dänemark und Österreich noch gesteigert wurde.

Die Fremdheit und Rückständigkeit des Zarenreiches ist mit dem Schlagwort vom ”asiatischen”

Charakter Russlands auf eine griffige Formel gebracht worden. Der Entwicklungsrückstand gegenüber Westeuropa erschien in einer verbreiteten völker-psychologischen Sicht als Ergebnis einer naturgegebenen Primiivität und Kulturunfähigkeit der Völker des Zarenreiches.

Gleichzeitig wurden jedoch die Größe, die Macht und die ”Eroberungslust” des russischen Reiches gefürchtet. Die Kosaken mit der Knute waren immer ein Drohbild, das in Deutschland

12 Rürup, Reinhard (Hrsg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion. Eine Dokumentation. Berlin 1991, S.

11.

13 Kopelew, Lew: Am Vorabend des großen Krieges, in: Keller, Mechthild (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19./20. Jahrhundert. Von der Bismarkszeit bis zum Ersten Weltkrieg.

München 2000, S. 12.

verstanden wurde.14 Ein ”Kampf des Germanentums gegen den Panslavismus”, verstanden als die ”Unterjochung aller Völker unter das slavische Rassentum” wurde bereits im 19.

Jahrhundert zum ”Wahrzeichen der nächsten Geschichtsperiode” erklärt.

Im Zeitalter des Imperialismus trat in Deutschland neben das Gefühl der Bedrohung auch eine neue Begehrlichkeit. Die baltischen Provinzen (mit ihrer kleinen deutschen Oberschicht) und die Ukraine (mit ihrem Getreide- und Rohstoffreichtum) wurden als mögliche Kolonien vor der eigenen Haustür diskutiert. Der Erste Weltkrieg bewirkte eine extreme Zuspitzung des antirussischen Feindbildes von der ”asiatischen Barbarei” und der existentiellen Bedrohung des deutschen Volkes. Für einen kurzen Augenblick schienen 1918 auch die imperialistischen Träume Wirklichkeit zu werden, als Polen, die baltischen Provinzen, die Ukraine und Georgien unter deutscher Herrschaft standen. Der große russische Raum wäre ‘schicksalhaft’ für deutsche Kolonisation bestimmt: Man glaubte, einst wäre dort ein Staat von ‘germanischen Kriegern’, den Warägern, aufgebaut worden, der aber später trotz aller Bemühungen deutschstämmiger oder deutschorientierter Zaren und Staatsmänner immer schwächer und kränklicher wurde. Diese und ähnliche Vorstellungen und Stereotype von der alten und neuen Geschichte Rußlands, die von Historikern wie Heinrich Rückert, Ernst von der Brügge, Theodor Schiemann und Hans Delbrück, won Publizisten wie Paul Rohbach und Bernhard Stern gepredigt und unnötigerweise weiterverbreitet wurden, sind in wenigen Jahrzehnten zu theoretischen Begründungen für den Krieg 1914 - 1918 und für die Eroberungsgelüste des Dritten Reichs (ausge-prägt z.B. im ”Ostorientierung oder Ostpolitik” in Hitlers ”Mein Kampf”).15

Während der Weimarer Republik wurden durch politische Verträge, den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen und die gegenseitige Militärhilfe die ideologischen Frontstellungen in der praktischen Politik relativiert. Dennoch blieb die Sowjetunion - sieht man vom idealisierten Wunschbild der deutschen Kommunisten und der Faszination mancher Intellektuellen einmal ab - für die große Mehrheit der Bevölkerung das ”Feindbild Nr.1”: Eine Gefahr für Staat und Gesellschaft, für Religion und Kultur, für Familie und Jugend.16 In Deutschland und nicht minder in den westlichen Demokratien war die Überzeugung weit verbreitet, dass sich seit 1917 in Russland mit dem Bolschewismus ein Staats- und Gesellschaftssystem etabliert hatte, welches

14 So erschien z.B. 1893 Friedrich Daniel Bassermanns Buch ”Deutschland und Rußland”, das als Motto Napoleons Diktum ”In fünfzig Jahren ist Europa kosakisch” vorangestellt war. Siehe Kopelew, Lew: Am Vorabend des großen Krieges, S. 34.

15 Kopelew, Lew: Am Vorabend des großen Krieges, S. 65. Dazu auch der von Gerd Koenen herausgegebene Band der ”West-östlichen Spiegelungen”: Deutschland und die Russische Revolution 1917 - 1924. München 1998.

16 Rürup, Reinhard (Hrsg.), Der Krieg gegen die Sowjetunion. Eine Dokumentation. Berlin 1991, S.

12 - 13.

zumindest eine ideologische Herausforderung, wenn nicht Bedrohung für das westliche Abendland darstellte.17