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Das soziale Bewusstsein und die Wahrnehmung des Krieges der deutschen und russischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg im Vergleich

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deutschen und russischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg im Vergleich

AM BEISPIEL DER SCHLACHT UM STALINGRAD

DISSERTATION

zur Erlangung des akademischen Grades

des Doktors der Sozialwissenschaften (Doctor rerum socialium)

an der Universität Konstanz

Geisteswissenschaftliche Sektion Fachbereich Geschichte und Soziologie

vorgelegt von

Alexandre PROSKOURIAKOV

geb. am 22.11.1969 in Tambov / Russland

Tag der mündlichen Prüfung: 15. Mai 2003

Referent: Prof. Dr. rer. soc. Dr.h.c. Erhard Roy WIEHN, M.A.

Referent: Prof. Dr. phil. Hans-Georg SOEFFNER

KONSTANZ 2003

(2)

Promotionszeit begleitet, betreut und unterstützt haben.

Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Erhard Roy WIEHN, ohne dessen Hilfe meine Dissertation überhaupt nicht zustande gekommen wäre, sowie Prof. Dr. Hans- Georg SOEFFNER für die Bereitschaft, Zweitgutachter dieser Arbeit zu sein; Prof.

Dr. Lev G. Protasov sowie Dr. Vladimir G. Djatschkov von der Staatlichen Dersha- vin-Universität Tambov (Russland) für die Motivierung zu diesem Promotionsthema sowie für die Betreuung meines Dissertationsvorhabens in der Anfangsphase; Juri Schatton für seine unermüdlichen Korrekturen meiner Übersetzungen; meinem Va- ter Ivan A. Proskurjakov für die Hilfe bei der Suche nach den Feldpostbriefen in rus- sischen Archiven; meiner Frau Linda sowie all denen, die auf verschiedene Art und Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben.

A.P.

(3)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1-9

1. Quellenkritik

1.1. Zensur, Selbstzensur und Authentizität 10 1.2. Erwartungsfilter zwischen Kriegsereignissen und Wahrnehmung 16

1.3. Kommunikationsebenen 17

1.4. Diachrone Briefreihen 24

1.5. Quellen zur Kriegsgeschichte "von unten" 26

2. Theorie und Methode

2.1. Sinnwelten und Handlungsrahmen 28

2.2. Typisierung und Sprache 30

2.3. Prägung durch Institutionen 32

2.4. Interaktonsrahmen und Kommunikation 34

2.5. Sozialpsychologische Grundlagen des Feindbildes und seine Funktion:

2.5.1. - im Dritten Reich 35

2.5.2. - in der Sowjetunion 38

2.6. Auswahlkriterien und Methode 43

2.7. Feindbilder und vergleichende Sprachpraxis 44

3. Präexestierende Feindbilder und propagandistische Indoktrination

3.1. Die Bilder in den Köpfen der Menschen: Stereotype, 47 Images und Vorurteile

3.2. Mentale Kriegsbereitschaft 49

3.2.1. Geschichtliches Russlandbild 49

3.2.2. Russlandbild in der NS-Zeit 52

3.2.3. Propagandistische bzw. politische Vorbereitung der Truppe 59 3.3. Mentale Kriegsbereitschaft: geschichtliches Deutschlandbild 64

3.3.1. Deutschlandbild in der Sowjetunion 68

3.3.2. Propagandistische bzw. politische Vorbereitung der Truppe 71

3.4. Zusammenfassung 75

4. Feindbilder und Motivationen „von oben“

4.1. Objekte der Kampfhandlungen und ‘kulturelle Konstruktion 82 des Krieges’

4.2. Offizielle Feindbilder 91

4.2.1. Feindbilder „von oben“ in Deutschland 92 4.2.2. Feindbilder „von oben“ in der Sowjetunion

97

4.3. Feindbilder - Fazit 102

4.4. Motivationen zum Kampf „von oben“ 104

(4)

4.4.1. Motivationen „von oben“ in Deutschland 108 4.4.2. Motivationen zum Kampf „von oben“ in der Sowjetunion 114 4.5. Zusammenfassung 121 4.6. Leitfragen und Hypothesen 124

5. Feindbilder und Motivationen „von unten“

5.1. Militärhistorischer Hintergrund 127

5.1.1. Geschichte der Stadt 127

5.1.2. Verlauf und Intensität der Kämpfe 1942/43 129

5.1.3. Beteiligte Einheiten und Verluste 138

5.2. Synchrone Kriegsfaktoren 143

5.3. Zustandekommen und Herkunft der Feldpostbriefe 144

5.4. Feindbilder „von unten“ 146

5.4.1. Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen 146 5.4.2. Feindbilder in russischen Feldpostbriefen 158

5.5. Alters- und Dienstgradgruppen 174

5.5.1. Altersgruppen 174

5.5.2. Gruppen nach Dienstgrad 176

5.5.3. Zusammenfassung 178

5.6. Motivationen „von unten“ 189

5.6.1. Motivationen in deutschen Feldpostbriefen 189 5.6.2. Motivationen in deutschen Feldpostbriefen

an offizielle Adressen 224

5.6.3. Motivationen in russischen Feldpostbriefen 232 5.6.4. Motivationen in russischen Feldpostbriefen

an offizielle Adressen 267

5.6.5. Motivationen in Feldpostbriefen an privaten

Adressen im Vergleich 276

5.7. Motivationen nach Alters- und Dienstgradgruppen

5.7.1. Altersgruppen 284

5.7.2. Dienstgradgruppen 286

5.7.3. Motivationen in Feldpostbriefen an offizielle

Adressen im Vergleich 288

5.8. Zusammenfassung 290

6. Wahrnehmung des Krieges von unten und soziales Bewusstsein 299

Literatur und Quellen 306

Anhang I - XXX

(5)

Die Frage nach einer "Militärgeschichte von unten" gilt den Angehörigen von Gesellschaf- ten und politischen Systemen, welche bislang als "Basis" oder "Mitläufer"1 eher am Rande der historischen Forschung gestanden hatten. Der deutsche sowie der russische Soldat im Zweiten Weltkrieg wird in dieser Arbeit nicht als Teil einer strategisch-taktischen Masse thematisiert, sondern als ein Mitproduzent von Geschichte betrachtet, der persönliche und subjektive Befindlichkeiten in geschichtliche Prozesse einbrachte, die bislang lediglich als technik-, politik- oder ereignisgeschichtliche Daten in den Handbüchern zum Zweiten Welt- krieg ihren Niederschlag fanden.

Für diese Ebene der Forschung wird der Versuch unternommen, Geschichte als Prozess durch eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen zu erschliessen: Feldpostbriefe, Kriegstage- bücher, Kriegserinnerungen und -memoiren, Interviews mit Kriegsteilnehmern. Für die Zeit des Nationalsozialismus bedeutete Alltagsgeschichte einerseits den Perspektivenwechsel hin zu den Opfern des Krieges, Verfolgung und Holocaust, andererseits aber auch die Ab- kehr von einer zu starken Theorisierung und zu abstrakter Analyse des nationalsozialisti- schen Systems in Deutschland. Durch die Beschreibung von Überlebens- und Anpas- sungsstrategien der "Mitläufer" des Nationalsozialismus wurden individuelle Beiträge zum Erhalt und zum reibunglosen Funktionieren eines verbrecherischen Systems offengelegt.

Die Wendung von einer unter dem Zeichen des Kalten Krieges stehenden apologetischen Schieflage der Forschung zu einer entmythologisierenden Wissenschaft - Beispiele sind die Aufdeckung des Nimbus einer unbefleckten Wehrmacht und Wehrmachtjustiz - erfolgte in Deutschland erst in den 70er und 80er Jahren.2

Die bis dahin in der Militärgeschichte favorisierten Untersuchungsfelder der Taktik, Organi- sation und politischen Strategie stehen nicht mehr primär im Mittelpunkt vieler neuerer Bei-

1 Bernhard Chiari, Mythos und Alltag: Voraussetzungen und Probleme eines westöstlichen Dialogs zur Historiographie des Zweiten Weltkrieges, Militärgeschichtliche Mitteilungen, 54(1995), Heft 2, S. 540.

2 Einige wichtige Veröffentlichungen aus dieser Zeit: Streit, Christian, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Bonn 1991 (1978): Krausnik, Helmut/Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981; Messerschmidt, Manfred/ Wüllner, Fritz, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Ba- den-Baden 1987.

(6)

träge, sondern die "Millionen einfacher Soldaten und Zivilisten",3 die als Protagonisten der Alltags- oder Mikrogeschichte den Blick "von unten" neu schärften.4

Der dafür notwendige Perspektivenwechsel verlangte das Heranziehen neuer Quellen, die Erfahrungen, Wahrnehmungen, Sinndeutungen und Vorstellungen der am Krieg beteiligten Einzelnen widerspiegeln. Der Blick richtete sich wieder auf die von der Sozialgeschichte als letzte Festung des Historizismus5 kritisierten 'weichen' biographischen Methoden.

Die Zeitzeugeninterviews der Oral History, Feldpostbriefe, Tagebücher, Memoiren und Ver- nehmungsprotokolle der Kriegsgefangenen gehören zu den Quellen, mit deren Hilfe man sich der privaten Dimension der 'Kriegsgeschichte' nähern kann. Die Feldpost als Quellen- gattung erlebte einen Aufschwung, der etwa Mitte der 80er Jahre einsetzte; dies lag und liegt am Reiz der persönlich-subjektiven Dokumente mit der ihr eigenen Kommunikations- struktur und an der ihr zugesprochenen Authentizität, mit der die 'kalte und szientistische' Welt der normativen Quellen (Kriegstagebücher der Kommandostellen, Propagandamateri- alien, Befehle und Generalstabsdokumente) nicht konkurieren kann. Die Verknüpfung von Dokumenten "von unten" mit traditionellen Quellen der Militärgeschichtsschreibung wird dennoch gefordert, um einerseits die "Unterdeckung an Subjektivität"6 der Militärberichte mit Briefen zu ergänzen, und um andererseits die perspektivisch beschränkte Sicht der Quellen "von unten" in einen strategisch-organisatorischen Kontext (z.B. normative Quel- len) einzuordnen, was den Forscher davon bewahren soll, den endemisch auftretenden Gerüchten in dem Gräben, "der Zone der Legendenbildung",7 allein zu vertrauen.

Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist nicht die Totalansicht des Kriegserlebnisses oder ein authentisches Schlachtpanorama. Aus dem vielfältigen Fragekatalog, der auf die Quellen "von unten" angewendet werden kann, wurde ein Ausschnitt ausgewählt: die Wahrnehmung des Krieges.

3 Heyde, Philipp: Bemerkungen zu einigen Neuerscheinungen über den Deutsch-Sowjetischen Krieg 1941-1943, in: NLP 39 (1994), S. 14-33, S. 14.

4 Vgl. Schulze, Winfried (Hrsg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994.

5 Vgl. Gestrich, Andreas: Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: ders. u.a. (Hrsg.), Biographie - sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge, Göttingen 1988, S. 5 - 28, S. 6.

6 Münkler, Herfried, Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frank- furt/M. 1992, S.187.

(7)

Es geht um die Frage, wie die Feindbilder, Stereotypen und Handlungsmuster beschaffen waren, und inwieweit sie sich stabil oder veränderlich zeigten. Gaben die neue Umwelt im Feindesland, die Grenzsituationen im Krieg oder die Interaktion mit den dort kämpfenden und lebenden Menschen Anlass zur Überprüfung der prädisponierenden Einstellungen aus der Heimat? Die im Alltag inkorporierten Einstellungen sind wichtige Determinanten für Ur- teile und Handlungen. Sie liegen in Form eines kollektiven Gesellschaftswissens vor, das durch Sozialisation und Indoktrination, ideologische, pädagogische, literarische, theologi- sche und journalistische Meinungsformung geprägt wurde. Diese Einstellungen wurden im kognitiven Gepäck der Soldaten mitgeführt und waren für die Interpretation und die Kon- struktion der im Krieg erlebten Wirklichkeiten bestimmend.

Somit ist unter dem Begriff die „Wahrnehmung des Krieges" für meine Arbeit die Einstel- lung des einfachen Soldaten zu politischen Zielen des Krieges und Methoden der Kriegfüh- rung zu verstehen. Politische Ziele und Methoden der Kriegführung bestimmte die sog. "in- nere/ moralische Dynamik des Krieges",8 was ihren Widerhall im sozialen Bewußtsein je- des Soldaten gefunden hat.

Somit muss hier die Frage beantwortet werden, in welchem Masse die deutschen und rus- sischen Soldaten die Rechtfertigungen der Regierungen glaubten, wie stark die Indoktrina- tion und Propaganda die Wahrnehmung des Krieges von Soldaten beeinflusste und ihre Feindbilder und Kampfmotivationen bestimmte. Die deutsch-russische Front war die ent- scheidenste Front im Zweiten Weltkrieg; die Kampfhandlungen an dieser Front dauerten besonders lang an, waren intensiv und erbittert. Somit erscheint es notwendig, die Wahr- nehmungen des Krieges von deutschen und russischen Soldaten im Vergleich zu untersu- chen.

Der gemeinsame Krieg wird nicht von allen gemeinsam erfahren. Deshalb ist es erforder- lich, analytische Schnitte vorzunehmen, um die Gemeinsamkeiten und die Differenzen her- ausarbeiten zu können. Die Bewusstseinsprägung erfolgt sowohl durch den Krieg als auch durch die Kriegsfolgen. Deshalb muss analytisch getrennt werden zwischen den Faktoren, welche eine synchrone Reaktion hervorrufen können (Faktoren, welche im Krieg selbst

7 Bloch, Marc, Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, München 1985, S. 86.

8Heer, Hannes, Bittere Pflicht. Der Rassenkrieg der Wehrmacht und seine Voraussetzungen, in:

Mittelweg, Nr. 4/1995, S.79.

(8)

wirksam geworden sind) und den Faktoren, welche eine diachrone Reaktion mit sich brin- gen (auch als Kriegsfolge bezeichnet). Für diese Untersuchung ist die erste Faktorengrup- pe besonders wichtig.

Kriegserfahrungen konnten nur gemacht und ins Bewusstsein gehoben werden, wenn sie in historisch vorgegebene Erfahrungsmöglichkeiten „einrasteten“. Somit gibt es kein Be- wusstsein, das als ‘Kriegsbewusstsein’ isoliert werden könnte. Vielmehr gibt es zahlreiche sozialisierende Bedingungen, die aus der Vorkriegszeit stammten und bewusstseinsprä- gend wirkten. Sie spielen auch die Rolle eines Filters vor den Ereignissen und Erlebnissen im Kriege selbst, und sie bestimmen auch die Trennschärfe der Wahrnehmung für die Er- eignisse und Erlebnisse im Krieg. Sinn, Verhaltensweisen und Einstellungen sowie das davon affizierte und darauf reagierende Bewusstsein werden zunächst geprägt von den unmittelbaren Erfahrungen, die durch die Kriegsereignisse hervorgerufen wurden. Alle Er- lebnisse basierten auf den Ereignissen, in welche die Betroffenen oder Handelnden verwi- ckelt waren.

Zu den wichtigsten Erlebnissen im Krieg gehört der Kontakt zum Gegner. Peter Knoch (1935-1994), der in der deutschen Historiographie als Pionier der Alltagsgeschichte des Krieges gelten kann, kommt für den Zweiten Weltkrieg in dieser Hinsicht zu keinem eindeu- tigen Ergebnis. Er findet Belege, die eine bestürzende Verachtung und Überheblichkeit gegenüber den russischen Truppen und Zivilisten aufweisen, von denen auf den offensicht- lichen Erfolg der Indoktrinationsbemühungen der NS-Führung, das „jüdisch- bolschewistische“ Feindbild in den Wehrmachtsangehörigen zu verankern, geschlossen werden kann.9 In einem späteren Aufsatz über Feindbilder kommt Knoch zu dem Ergebnis, dass der Gegner "sachlich (...) ohne wertende Zusätze"10 beschrieben wurde, Verbalinju- rien eines aggressiven Antibolschewismus dagegen nur selten vorkommen.11 Diese Wider- sprüchlichkeit bestätigt jedoch, dass die Briefschreiber nur in den seltensten Fällen ein und demselben Bewusstseinszustand verhaftet blieben, der Alltag, auch im Krieg, zeichnete sich für seine Teilnehmer durch Veränderungen aus, die das schwankende "Kriegsglück"

9 Vgl. Knoch, Peter.: Kriegsalltag, in: ders.(Hrsg.), Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsall- tages als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung, Stuttgart 1989, S.

222-251.

10 Knoch, Peter: Das Bild des russischen Feindes, in: Ueberschär/ Wette (Hrsg.), Stalingrad, S.

160-167. Knoch untersuchte für diese Studie 383 Dokumente von ca. 140 deutschen Soldaten.

(9)

und die Erfahrungen in einer feindlichen Umwelt mit sich brachten. Wahrnehmungen bei den Soldaten waren nicht statisch, sondern ständig einem Prozess der Vergewisserung und der Suche nach Plausibilitäten unterworfen.

In sowjetischen (und heutigen russischen) Geschichtsforschungen steckt die gründliche Aufarbeitung individueller Erinnerungen unter psychologischen und psychoanalytischen Gesichtspunkten noch in den Anfängen, obwohl gerade hier die Mechanismen der Ver- drängung und Verarbeitung lange unerwünschter Aspekte der Kriegszeit Betroffene und Historiker gleichermassen vom historischen Geschehen trennen. In den Diskussionen um die militärische Katastrophe der ersten Kriegswochen und die Verluste der sowjetischen Streitkräfte bzw. die Opfer in der Bevölkerung wurde in der Hauptsache die Perspektive der

"Grossen Männer", der Stäbe, Ministerien und Behörden beibehalten.

Die Analyse zentraler Beiträge zur Weltkriegsgeschichte ergibt einen Defizit der Kenntnisse der anderen Seite. Hier wirkt, neben pragmatischen Gründen wie fehlenden Sprachkennt- nissen, die durch den Kalten Krieg jahrzehntelang zementierte Selbstbeschränkung auf den

"eigenen" Bereich nach. Die ersten Schritte in die richtige Richtung wurden etwa mit der Beteiligung russischer Historiker an deutschen Sammelbänden unternommen.12 Trotzdem bleiben viele Themen der Militärgeschichte, wie z.B. Militärstrafjustiz,13 noch eine "Sperr- zone" für wissenschaftliche Forschungen.

Es ist zu bemerken, dass die Indoktrination des Massenbewusstseins in der Sowjetzeit auch heute ihre Tragkraft zeigt, wobei das Kriegserlebnis durch eine Art innerer Emigration bzw. innerer Zensur14 quasi eingekapselt und konserviert wurde. Anscheinend gelang es der sowjetischen Propaganda (mindestens zum Teil), Verdrängungsmechanismen in Gang

11 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Ute Daniel und Jürgen Reulecke: Nachwort, in: Golo- vansky, Anatoly u.a. (Hrsg.), "Ich will raus aus diesem Wahnsinn". Deutsche Briefe von der Ost- front 1941-1945, Aus sowjetischen Archiven, Wuppertal 1991, S. 301-315.

12 Jurij J. Kursin, Die sowjetischen Streitkräfte am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges, Anatolij G. Chor'kov, Die Rote Armee in der Anfangsperiode des Großen Vaterländischen Krie- ges, Dmitrij A. Volkogonov, Stalin als Oberster Befehlshaber, in: Zwei Wege nach Moskau, Vom Hitler - Stalin - Pakt bis zum Unternehmen "Barbarossa", Hrsg. von Bernd Wegner, München, 1991.

13 Erst im Jahre 1991 wurden solche Themen zur öffentlichen Diskussion gestellt. Vgl dazu: Sved, Evgenij, Strafbat (Strafbataillon), in: Rodina, Nr. 6-7. 1991, S. 58-63.

14 Noch heute weigern sich russische Kriegsveteranen, über Stalinismus, Strafbataillonen, Militär- strafjustiz u. ä. zu sprechen; aus meiner Interviewerfahrung weiß ich, dass viele Kriegsteilneh- mer zu flüstern begannen, wenn an sie Fragen zum Stalinkult, NKVD .u.ä. gestellt werden.

(10)

zu setzen, die zur nachträglichen Umwertung und Veränderung der Augenzeugen führen.

Nach Jahrzehnten offizieller Geschichtsdarstellung ergab sich zunächst die Notwendigkeit der Rekonstruktion historischer Fakten. Die ersten wichtigen Forschugsschritte in diese Richtung unternahm die Moskauer Historikerin Prof. Elena S. Senjavskaja, die die psycho- logische Situation der russischen Kombattanten behandelte.15 Eine Erweiterung und Vertie- fung der Forschung im Bereich "Militärgeschichte von unten" leistete ihre Arbeit "1941- 1945: Frontovoje pokolenie. Istoriko-psichologiceskoe issledovanie (1941-1945: Frontgene- ration. Geschichtlich-psychologische Untersuchung), in der sie verschiedene Alters- und Sozialkategorien der russischen Militärangehörigen im 2. Weltkrieg herausgearbeitet hatte.

In einer späteren Monographie von E. Senjavskaja „½elovek na vojne. Istoriko - psicholo- giÝeskie oÝerki“ (Der Mensch im Krieg. Geschichtlich-psychologische Studien), erschie- nen 1997 in Moskau am Institut für die Geschichte Russlands an der russländischen Aka- demie der Wissenschaften, wird der Krieg von der Autorin nicht nur als eine historische, sondern gleichzeitig als eine psychologische Erscheinung behandelt, die eine besondere Art des menschlichen Bewusstseins und das Phänomen des „kämpfenden Menschen“ er- zeugt.16

Doch derartige Ansätze wurden in der historiographischen Arbeit in Russland kaum beach- tet, obwohl die wichtigsten Schwerpunkte und Begriffe von Senjavskaja schon differenziert worden sind. Sogar in einem 1997 erschienen Sammelband mit dem Titel "Velikaja ote- cestvennaja vojna v ocenke molodych"17 werden unter 16 Aufsätzen die wichtigsten Aspek- te der Militärgeschichte "von unten" kaum behandelt.18

15Elena S. Senajvskaj, Duchovnyj oblik frontovogo pokolenija ( Psychologische Gestalt der Front- generation), Vestnik Moskovskogo Universiteta, 1992, Serija 8 "Istoriaj" (Geschichte), Nr. 4;

Dies.: ½elovek na vojne: opyt istoriko-psichologiceskoj charakteristiki rossijskogo kombattanta (Der Mensch im Krieg: Ein Versuch zu historisch-psychologischer Charakteristik des russischen Kombattanten), in: Otecestvennaja istoria, 1995, Nr. 3.

16 In dieser Arbeit wird außerdem der Soldatenalltag auf der Grundlage von Feldpostbriefenreihen vier Autoren aus den Jahren 1914-1915, 1916, 1942 sowie 1985 skizziert. Abgesehen von un- terschiedlichen Kampfsituationen sowie von individuellen Besonderheiten der Briefschreiber ge- lingt es der Autorin, typische Ähnlichkeiten der Alltagsprobleme der Soldaten, die für jeden Krieg gelten, nachzuweisen.

17 Kirsanov N.A. (Hrsg.), Velikaja oteÝestvennaja vojna v ocenke molodych (Der Große Vaterlän- dische Krieg in Einschätzungen von Jungen). Sammelband der Aufsätze von Studenten, Dokto- randen und jungen Wissenschaftlern, Moskau 1997.

18 Typische Themen z.B. sind: Markov A.D., Militär-politische Aspekte des Einverleibes der West- ukraine sowie weslichen Weißrußlands von der UdSSR, S. 12-24; Mjasnikov A.V., Teilnahme der 5. Armee an der Operation Rshev-Vjas'ma (Januar -April 1942). S. 100-110, u.ä.

(11)

Die ersten Ansätze zu einer kritischen Aufarbeitung wurden erst in der jüngsten Zeit im be- scheidenen Rahmen unternommen: N. B. Krylova, „Feldpostbriefe von Rotarmisten - den Verteidigern Stalingrads“19 oder z.B. E. Pojanskij, Zili-byli tri brata. Pis'ma s kommentarijami (Es waren einmal drei Brüder, Briefe mit Kommentaren), in: Isvestija, 3.4.1991.

Ein erster Versuch, sowjetrussiche Feldpostbriefe inhaltlich zu analysieren, stellt die Arbeit von Sabine Rosemarie Arnold dar.20 In ihrem Aufsatz sind 201 Briefe von 53 Absendern von der Front, welche die Autorin aus mehreren russischen Archiven zusammengetragt hatte, kritisch und inhaltlich nach folgenden Themen behandelt: Trennung von der Familie, Familie als seelischer Zufluchtsort, Ideologie als Zufluchtsort, Motivation zum Kämpfen, Todes- und Tötungsängste, Tendenzen der Veränderung in vier Kriegsjahren.

Zwischen dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und dem Ende des Krieges 1945 haben die Soldaten auf beiden Seiten der Front kriegsphasenabhängige, kollektive und individuelle Erfahrungen mit dem Fremden gemacht. In den Begegnungen der Solda- ten mit dem Fremden wird die Schnittstelle vermutet, an der sich persönliche Einstellungen der Soldaten festigten oder veränderten. Eben diese Schnittstelle in den Mitteilungen der Feldpostbriefe aufzuspüren, ist die zentrale Aufgabe meiner Arbeit.

Durch eine quantifizierende Darstellung soll versucht werden, die Anteile der Empathie bzw. Empathieverweigerung gegenüber dem „Fremden“ transparent zu machen. Diese Vorgehensweise erleichtert auch das Auffinden typischer Wahrnehmungsmuster, von de- nen aus Rückschlüsse auf kollektiv geprägte - durch Indoktrination oder Fremderfahrung - Einstellungen gezogen werden können.

Für das Verständnis der soziologischen und sozialpsychologischen Mechanismen gegen- seitiger Bedingungen zwischen Gesellschaft und Individuum, d.h. zwischen dem Dritten Reich und den Soldaten der Wehrmacht sowie zwischen dem Sowjetstaat und den Rotar-

19

Wolfram Wette u. Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Stalingrad : Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht. Orig.- Ausg, Frankfurt am Main 1992.

20 Arnold, Sabine Rosemarie, "Ich bin bisher noch lebendig und gesund". Briefe von den Fronten des sowjetischen "Großen Vaterländischen Krieges", in: Vogel, Detlef, Wette, Wolfram (Hrsg.):

Andere Helme - Andere Menschen? Heimaterfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg; ein internationaler Vergleich, Essen 1995.

(12)

misten, ist die Darstellung der Prägekraft einer Gesellschaft wichtig.21 Auf beiden Seiten hatte sich das gesellschaftliche Wissen durch das Deutungsmonopol der totalitären Regime kanalisiert. Die Wirkung, die von einer zentralisierten Propaganda auf den Wissenshaushalt der Menschen damals ausging, darf deshalb nicht unterschätzt werden. Dies gilt um so mehr für den Einfluß der Propaganda auf die Wahrnehmung eines erst potentiellen und dann ab Juni 1941 wirklichen Feindes.

Die Schreiber der Feldpostbriefe wurden aber nicht nur durch die, die in einen bestimmten vorherrschenden Zeitgeist eingebettete Sozialisation geprägt, sondern insbesondere auch von der Institution, die sie für den Krieg ausbildete. Sowohl in der Wehrmacht als auch in der Sowjetarmee wurden die Soldaten vor Tatsachen gestellt, die eine Distanz zu ihrer zivi- len Vergangenheit schufen und die aktiv an der Vermittlung von Deutungen und Werten beteiligt waren.

In weiteren Kapiteln werden die Vorprägungen und Prädispositionen der sowjetischen wie der deutschen Gesellschaft durch historisch tradierte und propagandistisch unterfütterte Fremden - und Feindbilder nachgezeichnet, die in der Indoktrination der Bevölkerung durch die Medien ihren Niederschlag fanden. Der normative Befehls- und Weisungsrahmen, den die militärische Führung vorgab, steckte den Handlungsrahmen ab, in dem sich die Solda- ten nach dem Überfall gegenüber dem militärischen Gegner und den Zivilisten bewegten.

Über Wochenschauen, Ausstellungen, Pressemitteilungen, Versammlungen u.a. propa- gandistische Aktivitäten wurden sowohl die Zivilbevölkerung als auch die Soldaten auf den Krieg vorbereitet und geprägt. Auf eine spezielle militärische Indoktrination zielte dagegen die Militärpropaganda.

Durch einen Vergleich zwischen der Sprachpraxis in den Briefen und der Militärpropagnda soll eine Zielidentität oder -diskrepanz zwischen Soldaten und Führung untersucht werden.

Neben der Darstellungweise eines Feindbildes wird das propagierte Soldatenbild berück- sichtigt, in dem sich eine offizielle Erwartungshaltung ausdrückte, die sich als Konventions- filter auch auf die Sprach- und Deutungsgemeinschaft der Heimatbriefe der Soldaten aus-

21 Vgl. das Programm "Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit", das der Wissensoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann entstammt: Peter L. Berger / Thomas Luckmann:

Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: eine Theorie der Wissenssoziologie, 16.

Aufl., Frankfurt am Main 1999.

(13)

wirkte.

(14)

1. QUELLENKRITIK

1.1. Zensur, Selbstzensur und Authentizität

War das Schreiben von Briefen und Tagebüchern im 19. Jahrhundert noch weitgehend auf bürgerliche Schichten beschränkt, so kam es im Ersten Weltkrieg zu einem millionenfachen Austausch persönlicher und privater Zeugnisse zwischen Front und Heimat. Es werden 28,7 Milliarden Postsendungen auf der deutschen Seite geschätzt, die im Laufe des Ersten Weltkrieges zwischen Front und Heimat befördert wurden. Dabei war für den größten Teil der Soldaten, vor allem für diejenigen aus den Unterschichten, die Trennung von daheim erstmals mit dem Zwang verbunden, sich in schriftlicher Form über einen längeren Zeitraum hinweg mitzuteilen.21

Briefeditionen und -sammlungen wurden schon kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges von der militärischen Führung angelegt, um der Nachfrage und dem Bedürfnis der Bevölkerung nach "authentischen Kriegserlebnissen" zu entsprechen.22 In der Nachkriegszeit wurden Feldpostbriefe als "historisches Rohmaterial" für politische Zwecke in Anspruch genommen, für die sie jeweils die erwünschte "des Kriegserlebnisses" darstellen konnten.23 Als

"Verhaltensschablone und Wahrnehmungsraster"24 konnten die Editionen "zum austauschbaren Zulieferer für feststehende politische Meinungen"25 degradiert - in der Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik zukünftige Kriegserfahrungen antizipieren und modellieren.

Briefe sind, sofern sie nicht als literarisches Kunstwerk angelegt, schriftliche Überreste, die

"unabsichtlich" zu einer Quelle wurden. Historische Kenntnis wird durch den Gegenwartsbezug der Briefe unwillkürlich vermittelt.

Die Lebensbeschreibungen präsentieren die persönliche Geschichte in der Retrospektive und werden häufig mit der Absicht auf eine Veröffentlichung abgefaßt. Im Vergleich dazu sind Feldpostbriefe stärker situationsgebunden, d.h., dass sich mit derartigem Quellenmaterial unter

21 Vgl. Warneken, Bernd-Jürgen, Populäre Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985, S. 13ff. u. 136.

22 Ulrich, Bernd, Militärgeschichte von unten". Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen, und Perspektiven im 20. Jahrhundert, in: GG 22 (1996), S. 473-503.

23 Ders., Feldpostbriefe des Ersten Weltkrieges - Möglichkeiten und Grenzen einer alltagsgeschichtlichen Quelle, in: MGM 53 (1994), S. 73-83.

24 Ebenda, S. 78 u. 80 ff.

(15)

gewissen methodischen Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet, ein annäherungsweise authentisches Bild der individuell erfahrenen Wirklichkeit in einer bestimmten lebensgeschichtlichen Phase nachzuzeichnen. Während z. B. in die Schilderung der Kriegssituation im Rahmen einer Autobiographie die Erfahrungen der ersten Nachkriegszeit ebenso wie die unserer gegenwärtigen Gesellschaft eingehen, bieten Feldpostbriefe eine relativ ungefilterte Darstellung der Bewusstseinslage des Verfassers, die subjektive Bewältigung der Kriegssituation, mit welcher der Soldat konfrontiert ist, und das Leben der Männer im Krieg bzw. der Soldaten an der Front und deren subjektives Erleben der Wirklichkeit des Krieges in einem bestimmten historischen Moment.

Ein Problem der Quellenkritik bei den Feldpostbriefen ist die Wirkung der Zensur, die sich in eine äußere (Kontrolle durch Öffnen) und innere (Selbstzensur) unterteilen läßt. Für den Zweiten Weltkrieg wurde die Gesamtzahl der Postsendungen zwischen den Kriegsschauplätzen und der Heimat für Deutschland auf 40 Milliarden geschätzt: Die Front erhielt ca. 76%, die Heimat 24% des Gesamtumlaufs.26 Die Zensur erfolgte durch Feldpostprüfstellen (FPP), deren Arbeit in einer Dienstanweisung des Oberkommando der Wehrmacht (OKW) vom 12. März 1940 geregelt wurde.27 Die jeweiligen Armeeoberkommandos (AOK) unterstellt, zogen in jeder dieser Prüfstellen jeweils fünf Offiziere und 14 Unteroffiziere ihre Stichproben aus rund - wiederum geschätzten - 10 Milliarden Sendungen in die Heimat.

Zur Verhinderung und Abwehr von Spionage und "Zersetzung" sollte bei der Briefzensur besonders auf folgende Verstöße geachtet werden:

1. Angaben über dienstliche Vorgänge, die der Geheimhaltung unterlagen, 2. Verbreitung von Gerüchten aller Art,

3. Versand von Lichtbildern und Abbildungen aller Art, die der Geheimhaltung unterlagen, 4. Versand von Feindpropaganda (Flugblätter),

5. Kritische Äußerungen über Maßnahmen der Wehrmacht und der Reichsregierung und 6. Äußerungen, die den Verdacht der Spionage, Sabotage und Zersetzung erweckten.28

"Die Prüfung der Postsendungen", stellte ein Zensuroffizier im November 1940 folgerichtig fest,

25 Ders.: „Eine wahre Pest in der öffentlichen Meinung“. Zur Rolle von Feldpostbriefen während des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit, in: Niedhard, Gottfried / Riesenberger, Dieter (Hrsg.), Lernen aus dem Krieg / Deutsche Nachkriegszeiten 1918 und 1945, S. 319-330, S. 328-330.

26 Buchbender, Ortwin/ Sterz, Reinhold, Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945, München 1982, S. 13 ff.

27 Buchbender/ Sterz, Das andere Gesicht, S. 14.

28 Humburg, Martin, Die Bedeutung der Feldpost für die Soldaten in Stalingrad, S. 71, in: Stalingrad.

Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Hrsg. von Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär, Frankfurt a.M. 1992.

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sei "ein Mittel, um jederzeit ein unverfälschtes Bild über die Stimmung der Truppe und der Heimat zu gewinnen".29 Auch alle sowjetrussischen Feldpostbriefe im Zweiten Weltkrieg gingen prinzipiell durch die Zensur. Sie wurde in den Feldpostprüfstellen im Hinterland ausgeübt, die anfangs dem Volkskommisariat für Staatssicherheit (NKVD) und ab 1943 der Spionageabwehrabteilung "SMERSCH" (smert' spionam - Tod den Spionen) unterstanden.

Neben der Kontrolle des Informationsaustausches diente die Zensurbehörde auch gleichzeitig dazu, die Stimmung in der Truppe zu erkunden30 und die Ergebnisse an den "Rat für kriegspolitische Propaganda" beim Zentralkomitee der kommunistischen Partei (KPdSU) weiterzuleiten.

Zensiert wurde stichprobenartig und aus disziplinarischen Gründen offen. Mißliebiges wurde mit schwarzer Tinten gestrichen und auf die Rückseite des Briefes der Stempel "Von der Zensur geprüft" gesetzt.31 Verboten waren sowohl die Benennung des Standortes und der Waffen als auch Fakten anzugeben, die Aufschluß über die Frontsituation liefern konnten. Darüber hinaus unterlag die Erwähnung von Kriegs- und Staatsgeheimnissen und Kritik an der Partei oder an Stalin einem strengen Verbot. Genauso war es sehr gefährlich, darüber zu schreiben, daß man in Kriegsgefangenschaft oder einen Kessel geraten war, oder etwa vor dem Feind zurückweichen mußte. War dieses Verhalten bisher unentdeckt geblieben, so konnte eine solche Bemerkung in einem Brief doch noch vor ein Kriegsgericht führen. Bei schweren Verstößen gegen die Zensurbestimmungen wurden die Briefe nicht weitergeleitet und der Schreiber zur Rechenschaft gezogen.

Darüber hinaus wurde zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich streng zensiert. Dabei könnte die Bedeutung des Kriegsschauplatzes und die Kriegssituation eine Rolle gespielt haben. Z.B.

wurden die Briefe von der Stalingradfront von August bis Dezember 1942 kaum zensiert, nach dem Sieg im Februar 1943 dann aber sowohl Ortsnamen als auch Dienstgrade und Namen geschwärzt.

29 Vogel, Detlef, "... aber man muß halt gehen, und wenn es in den Tod ist". Kleine Leute und der deutsche Kriegsalltag im Spiegel von Feldpostbriefen, in: Vogel, Detlef/ Wettte, Wolfram, Andere Helme - Andere Menschen? Heimaterfahrungen und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Essen 1995.

30 Siehe z.B. den bereits erwähnten ‘Sonderbericht’ vom 30. April 1942 „Über die politisch-moralische Verfassung der Kämpfer der 57. Armee der Südfront nach Materialien der Militärzensur“, in:

Stalingradskaja :popeja (Die Epopöe Stalingrad), S.137 - 143; dazu auch ‘Sonderbericht’ der Sonderabteilung des NKVD der Stalingrader Front an die Leitung der Sonderabteilungen des NKVD der UdSSR „Über die Reaktionen der Militärangehörigen bzw. deren Familien auf die Frage nach Eröffnung der zweiten Front durch die Alliierten in Europa nach Materialien der Militärzensur“ vom 30.

Juli 1942, in: Stalingradskaja :popeja, S.153 - 154 u-a..

31 Für den Dienstgebrauch benutzte die sowjetische Militärzensur Kennbuchstaben; Kennbuchstabe „A“

bedeutete, dass der Brief von der Zensur geöffnet und weitergeleitet wurde; Kennbuchstabe „K“ stand für beschlagnahmte Briefe. Siehe Stalingradskaja :popeja, Anmerkungen, S. 444.

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Wegen des Briefpapiermangels an der Front falteten einige Soldaten ihre zuweilen auf Buchseiten oder „Beutepapier“ geschriebenen Briefe zu Dreiecken und verschickten sie ohne Umschlag. Das trug den Frontbriefen allgemein den Namen "Treugol'niki" (Dreiecke) ein und den Zensoren blieb in diesen Fällen das Aufschneiden von Briefumschlägen erspart.32 Ab 1943 bekamen die Soldaten an der Front zusätzlich Postkarten, die mit gezeichneten Kriegsszenen und Losungen geschmückt waren. Die Beförderungsdauer eines Briefes konnte wenige Tage oder viele Monate betragen. Wenn die Poststellen wie z.B. beim Vormarsch 1944 weit hinter der Front zurückblieben, bekamen die Soldaten ihre Briefe oft bündelweise erst nach vielen Wochen, manchmal aber auch gar nicht.

Es ist auch zu bemerken, dass viele der sowjetischen Soldaten nur unzureichend alphabetisiert waren, und es ist den Briefen anzumerken, daß sich manche Schreiber nicht nur mit dem schriftlichen Formulieren sondern auch mit dem Schreiben selbst schwertaten. Nicht zuletzt gab es auch so etwas wie schonendes Verschweigen gegenüber den Angehörigen, die nicht mehr als nötig belastet werden sollten. So wurden auch in der Roten Armee viele Briefe geschrieben, die allein die Funktion hatten, den Angehörigen ein Lebenszeichen zu geben. Worte wie: "Ich bin noch am Leben und gesund" kommen in sehr vielen Feldpostbriefen vor:

8.09.43.

"... Es ist noch alles in Ordnung. Ich bin am Leben und gesund. Keine Zeit, viel zu schreiben.

Wenn längere Zeit keine Briefe kommen, macht Euch keine Sorgen, weil Euch unbedingt mitgeteilt wird, wenn etwas passiert; ich kann einfach nicht oft schreiben. Am 2. September war ich in meinem ersten Kampf. Vier Tage lang war ich ohne Unterbrechung im Kampf.

Jetzt - eine kleine Atempause..."32

Die äußere Zensur wurde auf beiden Seiten als Stimmungsbarometer eingesetzt, um die geistige Verfassung der Soldaten kontrollieren und einschätzen zu können sowie schwere Verstöße gegebenenfalls disziplinarisch zu verfolgen. Den meisten Soldaten dabei war die Gefahr, ein Opfer der Zensur zu werden, völlig klar:

"... Den 5.August 1943 behalte ich jedoch für mein ganzes Leben. Vieles schreibe ich Dir wohl

32 Arnold, Sabine Rosemarie / Hetling, Manfred, Briefe aus Stalingrad in sowjetischen Archiven, in:

Wette, Wolfram / Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, S.

82ff.

32 Aus den Briefen von Alexander Nasarenko, Zugführer, Jahrgang 1923, eigene Übersetzung.

Originaltext in russischer Sprache in: Schindel, Alexander, (Hrsg.): „Po obe storiy fronta“ (Auf beiden Seiten der Front), Moskau 1995, S. 85.

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nicht - ich darf nicht. Wenn wir uns treffen, dann erzähle ich Dir von diesen schrecklichen Kämpfen, die ich gezwungen war mitzumachen."33

Das Problem der äußeren Zensur kann in der Forschung wesentlich reduziert werden, wenn z.B. die Wahrnehmung des Feindes ins Auge gefaßt wird, die weder negativen noch positiven Sanktionen unterlag. Briefschreiber auf beiden Seiten der Front waren nicht gezwungen, sich negativ zum Feind zu äußern.34

Außerdem zwingt uns nichts dazu, nur die Fragen an die Briefe zu stellen, die auch die Zensoren interessierten, und ebensowenig zwingt dazu, sie auf deren Art zu beantworten zu suchen. Je weiter die wissenschaftliche Untersuchung von Feldpostbriefen den Brennpunkt ihres Interesses von dem der Prüfer verlagert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, Aussagen zu finden, die von den Wirkungen der Zensur frei sind. Dazu gehören nicht zuletzt die Passagen privaten Inhalts, die den größten Teil der Briefe ausmachten, von den Prüfungsberichten aber allenfalls mit einem Nebensatz bedacht werden. Auch diese Briefabschnitte enthalten eine Fülle von erfahrungsgeschichtlich relevantem Material.35

Je stärker die Analyse sich bemüht, die Briefe auch zwischen den Zeilen und gegen den Strich zu lesen, um so eher kann sie, den Wirkungen der Zensur zum Trotz, Erkenntnisse auch über kritische Haltungen der Soldaten gewinnen. Diese gilt vor allem dann, wenn die Briefserien einzelner Verfasser untersucht werden und nicht nur herausgegriffene Einzelstücke.

Wenn die schwebende Drohung der Zensur dem Briefschreiber nahelegt, kritische Äußerungen zu unterlassen, so schreibt sie ihm jedoch nicht vor, positive Stellungnahmen zu verfassen;

diese werden also relativ unverfälscht erscheinen. Ist die Wirkung der Zensur also nicht von vornherein, geschweige den exakt, auszumessen, dann kann diese, pragmatisch gewendet, zunächst nur bedeuten, sie als Frage bei der Analyse präsent zu halten. Erst in der konkreten Auseinandersetzung mit den Quellen werden sich ihre Wirkungen abschätzen lassen.

Für die Soldaten gab es zudem ein probates Mittel, die Zensur zu umgehen, nämlich den Brief einem Kameraden mitzugeben, der auf Heimaturlaub fuhr. Dies wurde im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg zur oft geübten, wenngleich verbotenen Praxis.

33 Aus den Briefen von Alexander Golovin, Panzerführer, Jahrgang 1923, eigene Übersetzung;

Originaltext: „Po obe storony fronta“, S. 99.

34 Dazu Buchbender, Ortwin: Zentrum des Bösen. Zur Genesis nationalsozialistischer Feindbilder, in:

Wagenlehner, Günter (Hrsg.), Feindbild, Frankfurt/M. 1989, S. 17-39.

35 Latzel, Klaus, Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis - Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn; Münmchen; Wien; Zürich: Schöning 1998, S. 29-31.

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Mit „innerer Zensur“ ist die Selbstkontrolle und Selbstbeschränkung der Soldaten gemeint, die sich auf die Mitteilungsmodi in den Briefen auswirken konnten und zu der die Rücksicht auf die Empfängerin oder den Empfänger führt. Diese „Zensur“ drückte sich vor allem im Unwillen aus, den 'Lieben daheim' von den grauenhaften Momenten des Krieges, von Verzweiflung, von Kriegsverbrechen oder von der eigenen Entfremdung und den durchgemachten Sinnkrisen zu schreiben. Der Drang zur Mitteilung lebte in ständigem Widerstreit mit dem Wunsch, nicht zu beunruhigen und das Maß an Sorgen möglichst gering zu halten (manchmal im gleichen Brief):

1.IV.44

"Guten Tag, liebe Mutter und Lida!

Ich schreibe Euch diesen Brief, da ich gezwungen bin, mal eine Pause zu machen. Zwei Wochen soll ich mich ausruhen. Der verdammte Fritz hat mir den linken Arm durchschossen, die Verwundung ist jedoch leicht, der Knochen ist unverletzt. Ungefähr in 15 Tagen muß ich zur Truppe zurückkehren.

Meine Stimmung ist nicht schlecht. Das erzwungene Nichtstun fällt mir jedoch schwer. Jetzt bin ich im Lazarett bei unserer Einheit. Mutter, mach Dir keine Sorgen um mich, ich schreibe Dir die Wahrheit. Du fängst noch an, Dich aufzuregen..."36

Selbstbeschränkung konnte sich jedoch in der Reproduktion von Heldentum und Kreigsverherrlichung äußern, was auch ihren Widerhall in den Feldposbriefen gefunden hatte:

21.1.44

"Gestern hat die Hauptstadt unserer Heimat Moskau Salut uns zu Ehren für die Eroberung der Stadt (von der Zensur gestrichen) geschossen. Gestern um 9.20 Uhr bin ich in der Vorhut in die Stadt (von der Zensur gestrichen) hineingestürmt.

Vor der Einnahme der Stadt mußten wir 7 Tage lang die faschistischen Eroberer hartnäckig schlagen. 7 Tage lang war ich ohne Unterbrechung in Kämpfen unter den vordersten Reihen. 7 Tage lang schwebte der Tod neben mir. Ich bin jedoch auch jetzt davongekommen - unversehrt und unverletzt. In 7 Tagen haben wir Dutzende von Orten befreit. Deutsche ziehen sich zurück, sie fletschen hartnäckig die Zähne, brennen auf ihrem Weg Dörfer und Städte nieder."37

36 Aus den Briefen von Vladimir Popov, Leutnant, Jahrgang 1924, eigene Übersetzung, Originaltext: „Po obe storony fronta“, S. 119.

37 Aus den Briefen von Vladimir Popov, ebenda, S. 117.

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Aus diesen Gründen stellt sich die Frage, ob das 'wirkliche Kriegserlebnis' realistisch durch Feldpostbriefe zu rekonstruieren ist. Eines steht fest: Die Mitteilungen in Briefen sind selbst Konstruktion und damit die subjektive Interpretation einer objektiv erlebten Erfahrung.38 Doch geht es hier nicht darum, dem Geist der Authentizität hinterherzujagen, der sich vor der Komplexität vorgeschalteter Wahrehmungsfilter auflösen muß. Daher soll in dieser Arbeit nicht versucht werden, die Wirklichkeit aus den Briefen herauszudestillieren, sondern sich mit dem Bild auseinanderzusetzen, das die Soldaten von der Wirklichkeit hatten und das kurz-, mittel- oder langfristige Plausibilitäten bereithielt. Die Dokumente geben nicht ausschließlich das wieder, was der Soldat wirklich sah, sondern das, was man zu seiner Zeit im gewöhnlichen Wahrnehmungsbereich lag.

1.2. Erwartungfilter zwischen Kriegsereignissen und Wahrnehmung

Alle Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse durchlaufen Erwartungsfilter, die den Grad der Einwirkung und die Richtung derselben bestimmen. Sie lassen keine objektive, kongruente Abbildung der Realität zu, weil ein soziales Vorwissen dazwischengeschaltet ist, dem als Filter die primäre und die sekundäre Sozialisation39 eingeschliffen sind. Die Wahrnehmungsfähigkeit im Krieg wird auch durch die militärische Funktion und den Einsatzort des Soldaten beeinflußt.

es macht einen großen Unterschied, ob Befehlsfunktionen oder Funktionen des Gehorsams dominierten (Später dazu - Kapitel IV "Präexistierende Feindbilder und propagandistische Indoktrination" sowie Kapitel VI "Bewußtsein- bzw. wahrnehmungprägende Faktoren im Laufe des Krieges").

Das Decodieren von Konventions- und Erwartungssystemen oder von kulturellen Paradigmen mit Hilfe der Filter ist auch anhand von ausführlichen Angaben, welche die sozialgeschichtliche Biographieforschung fordert, schwer zu leisten. Filter sind ebenso wie die personale und soziale Identität nicht statisch, sondern in einer prozeßimmanenten Veränderung begriffen.

Daher werden hier nur die Filter operationanalysierbar gemacht, die von den Institutionen als Realitätssinn und Einstellungen stiftende Strukturen (Propaganda, tradierte Bilder und Begriffe,

38 Dazu Schröder, Hans Joachim, Die gestohlenen Jahre: Erzählgeschichten und Geschichtserzähung im Interview; der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehmaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992, S.

221.

39 Sozialwissenschaftlich versteht man unter primärer Sozialisation die Prägung durch Familie und signifikante Gruppen, unter sekundärer die weitere Prägung der Persönlichkeit, z.B in Bildungsinstitutionen wie Schule oder Universität. Weitere Institutionen sind der Arbeitsplatz oder

"totale Institutionen", die resozialisierend wirken können . Krasses Beispiel dafür ist das System der Konzentrationslager. Dazu Koselleck, Reinhart: Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Wette (Hrsg.), Der Krieg des Kleinen Mannes, S. 324-343.

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Militärinstitutionen) mitproduziert wurden.40

Institutionen als Filter sind persönlichkeits- und habitusformierend; sie prämieren aber nur die mentalen Haltungen und Einstellungen, die für ihr eigenes Überleben Bedingung sind.

Filter, die sich auf die Primärsozialisation beziehen, können durch das hier herangezogene Quellenmaterial nicht aufgespürt werden. Diese 'private Filter' bergen auch die Gefahren in sich, die Rekonstruktion von Handlungen aus ihren durch die Sozialisation allein bestimmten Intentionen heraus zu erklären, was leicht in die Sphären der Tiefenpsychologie führen kann, die an und für sich nicht historisch sind. Um die Motivationsstruktur für internationales Handeln zum Ausdruck zu bringen, findet man sich schnell auf dem Feld der Psychoanalyse, deren Analyse von psychischen Innenansichten wenig Raum für Kontrolle bieten.

1.3. Kommunikationebenen

Ein funktionaler Aspekt der Kommunikation zwischen Heimat und Front war für die militärische sowie politische Führung erwünschte reziproke Stärkung von Motivation und Moral.

Die Feldpost und ihre Bedeutung für die Soldaten sowie ihre Angehörigen läßt sich mit einigen ersten theoretischen Überlegungen genauer fassen,41 die gleichzeitig gestatten werden, die leitende Fragestellung nach der Kriegserfahrung im Medium von Feldpostbriefen in zunächst noch allgemeiner Form zu entwickeln. Die Wichtigkeit der Ersatzfunktion für alltägliche verbale Kommunikation betonen jedoch viele Briefschreiber selbst:

(an die Mutter)

23.08.42

"Du nimmst mir auch übel, dass keine Briefe von mir kommen. Ich schreibe jedoch sehr regelmäßig. Ich will doch die ganze Zeit mit Dir sprechen. Und sobald wir eine Pause zwischen den Kämpfen haben, schreibe ich sofort an Dich."42

Es ist für die Sprachpraxis in den Briefen von größter Bedeutung, zu klären, ob es sich um Eltern, Freundinnen oder Verwandte handelte oder aber um offizielle Institutionen wie den NSDAP-Ortsverband, eine Partei- oder Komsomolorganisation, den ehmaligen Arbeitgeber,

40 Vgl. Rehberg, Kalr-Siegbert: Ambivalente Filter, in: Müller, Max / Soeffner, Hans-Georg (Hrsg), Modernität und Barbarei: Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20 Jahrhunderts, Frankfurt/M.

1996, S. 290-305.

41 Löffler, Klara: Aufgehoben: Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektive Wirklichkeit des Krieges, Bamberg 1992, S. 27-33, 43-74.

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eine Zeitung etc.43 Kaum möglich, das ein Rotarmist in einem Brief an seine Familienangehörige Redewendungen wie "unvergänglicher Ruhm", "Schwur vor den gefallenen Helden" etc. verwendet. Wenn der Empfänger jedoch z.B. eine Komsomolorganisation ist, ändert sich dementsprechend die Sprachpraxis:

22.Oktober 1944

„Guten Tag, liebe Landsleute-Komsomolzen. Ich gratuliere Ihnen zum 26. Jahrestag des mit 2 Orden ausgezeichneten Leninschen Komsomols. Unser Komsomol hat sich mit unvergänglichem Ruhm bedeckt. (...) Unsere Komsomolzen schlagen sich heldenhaft auf Schlachtfeldern. Dutzende Komsomolzen sind in unserer Einheit Helden, Hunderte - Ordensträger geworden. Wir werden nie den Helden unserer Einheit Anatolij Zivov vergessen, der bei einem Kampf um die Stadt N. die Heldentat von Alexander Matrosov (die Vernichtung einer MG-Stellung durch Selbstopferung - Anmerkung des Übersetzers - A.P.) wiederholt hat; Ivan Pjatak, der sich selbst in die Luft jagte und 8 Hitleristen mit in den Tod genommen hat . (...) Wir, Komsomolzen, haben einen Schwur vor den gefallenen Helden abgelegt. Und wir halten unseren Schwur. Der Komsomolze Selesnjov Juri, von deutschen MP-Schützen umringt, hat seine Feinde angegriffen und im Nahkampf 8 Hitleristen vernichtet, wobei er unverletzt davongekommen ist, wofür er mit dem Slava-Orden III.

Grades ausgezeichnet wurde. (...) Man könnte zahlreiche Heldentaten der Komsomolzen aufführen...44

Die Kommunikation zwischen Familienangehörigen oder auch sonst enger verbundenen Personen erfüllt eine wesentliche, wenngleich nicht ständig bewußte Aufgabe: Die täglich oder regelmäßig neue Bestätigung der eigenen Identität. Es sind vor allem sog. "signifikanten Anderen",45 die dem Individuum das zentrale Element seiner subjektiven Wirklichkeit vermitteln:

Seinen Ort in der es umgebenden Welt, sein Vertrauen auf die Gewißheit der Plausibilitätsstrukturen, die es umgeben. Sie versichern es ständig neu des "sozialen Wissens", das im Prozeß der Sozialisation internalisiert worden ist und auch die eigene Identität definiert.

Angefangen mit der Sprache, erstreckt sich der gesellschaftliche Wissensvorrat, den sich das Individuum einverleibt hat, über typisierte Handlungsweisen des praktischen Bewußtseins bis hin zu ausformulierten oder symbolischen Sinnwelten, den letzten Instanzen gesellschaftlicher

42 Aus den Briefen von Alexander Golovin, Panzerführer, Jahrgang 1923, eigene Übersetzung, Originaltext in: „Po obe storony fronta“, S. 97.

43 Vgl. Schröder, H-J.: Alltagsleben im Rußlandskrieg 1941-1945. Eine deutsche Perspektive, in:

Jacobsen, Hans-Adolf u.a. (Hrsg.), Deutsch-russische Zeitwende. Krieg und Frieden 1941-1945, Baden-Baden 1995, S. 388-409.

44 Aus den Briefen von Sergej ¾indjapin, Unterleutnant, eigene Übersetzung, Originaltext in russischer Sprache in: Borisow, G. (Red.), Pokolenie, opalennoe vojnoj (Die vom Krieg versengte Generation).

Velikaja oteÝestvennaja vojna 1941 - 45 gg. v vospominanijach i pis’mach (Der Grosse Vaterländische Krieg 1941 - 1945 in Erinnerungen und Briefen). Tambov 1995, S. 179-180.

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Legitimation. Er schafft Sinn im weitesten Sinne, indem er dem Individuum seine alltägliche Welt nicht nur verständlich, sondern tendenziell selbstverständlich macht.46

Am häufigsten geschieht diese Absicherung der subjektiven Wirklichkeit durch die Kommunikation im alltäglichen Gespräch. Gewöhnlich, das heißt im Falle alltäglicher Routine, findet die Versicherung der Identität eher implizit als explizit statt. Der gemeinsame Sinnhorizont muß nicht ständig thematisiert werden, er wird vielmehr im größten Teil der täglichen Konversation als deren Basis stillgeschwiegend vorausgesetzt.

Der Krieg bricht diesen Zusammenhang von Alltag, Routine und Gespräch dramatisch auf. Er zerreißt die persönliche Beziehung durch räumliche Trennung, von der zumal ungewiß ist, sie nicht im schlimmsten Falle endgültig sein wird. Er versetzt den ehemaligen Zivilisten in die neue Rolle des Soldaten, konfrontiert ihn nicht nur mit neuen Personen und Verhaltneserwarungen, sondern bedroht ihn auch mir körperlichen und seelischen Strapazen, mit Gewalt, Sterben und Tod. Um sich in der neuen Wirklichkeit zurechtzufinden, ist der Soldat gehalten, sie auch zu seiner subjektiven Wirklichkeit zu machen, sie also mit Sinn zu versehen. Bei Strafe des Verrücktwerdens muß es ihm gelingen, Plausibilitäten zu finden, die ihm die neue Welt erträglich machen. Das muß keine vollständige Transformation der gewöhnten Plausibilitätsstruklturen zur Folge haben, die Trennung von den Angehörigen soll ja nicht vollständig und endgültig sein. Der zwangsweise Aufenthalt in der neuen Wirklichkeit erhält von vornherein zeitlich begrenzten Charakter, wenn auch die tatsächliche Dauer des Kriegsdienstes unbekannt ist und während des Krieges ebenso bleiben wird. Der Soldat steht vielmehr vor der Aufgabe, die Elemente der vergangenen und der neuen subjektiven Wirklichkeit möglichst weitgehend zu integrieren.47 Dies mag ihm um so eher gelingen, wie er bereits diejenigen Bestandteile des sozialen Wissens internalisiert hat, die für das Verständnis der Soldatenrolle als historisch variable Interpretationsmuster bereitliege, vom Katalog "männlicher Tugenden"

bis zu den Legitimationen des Kriegstodes. Dennoch bleibt der Erfolg einer solchen inneren Ausrüstung im Hinblick auf die subjektive Entlastung höchst prekär. Ist schon im zivilen Alltag der Tod die ärgste Verunsicherung all dessen, was sonst als gewiß gilt, so wird er im Kriege zur manifesten Bedrohung, im Verein mit weiteren körperlichen und seelischen Belastungen, welche die Grenze des Erträglichen nur zu oft überschreiten.

Trotzdem kommt der Soldat nicht umhin, zumindest den Versuch zu unternehmen, sich der eigenen Stellung unter diesen Bedingungen zu vergewissern. Hierzu braucht er erneut die

45 Latzel, Klaus, Deutsche Soldaten- Nationalsozialistischer Kreig? S. 32.

46 Vgl. Berger / Luckmann, Konstruktion, S. 157-166.

47 Ebenda, S. 167-174.

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"signifikanten Anderen". Sie finden sich nun zum einen unter denjenigen, mit denen die neue Wirklichkeit geteilt wird. Mögen die soldatischen Kleingruppen vordergründig auch diejenigen Figurationen in der Armee sein, denen für den "Kampfgeist" höchste Bedeutung zukommt,48 so gilt doch für derartige Beziehungen, insbesondere für den Komplex der Kameradschaft, daß sie vorrangig von außen gestiftet werden, nämlich vom Druck des Krieges:

20.04.1943

"... Ich möchte von prima Menschen, jungen, freundschaftlichen und tatkräftigen Kommandeuren erzählen. Wir haben viele gute Kameraden, und Schwierigkeiten, Nöte, Kämpfe und unsere Zusammenarbeit hat sie alle zu einem Kollektiv zusammengeschweißt.

Wir haben hier verschiedene Nationalitäten: Russen, Mordwinen, Juden, Georgier, Aserbaidshaner, Ukrainer usw. Während ich diese Zeilen schreibe, sitzt neben mir mein Freund und schreibt einen Brief an seine Mutter. Er ist Jude, ehemaliger Student, Leutnant.

Wodurch hat er sich ausgezeichnet? Er ist ein gewöhnlicher Kommandeur, bescheiden, einfach, und er weiß selbst nicht, daß er schon viel Vortreffliches geleistet hat..."49

Gewiß gewinnen, nicht zuletzt durch die Intensität der geteilten Erlebnisse, solche Beziehungen ganz wesentliche Bedeutung beim Aufbau neuer Plausibilitätsstrukturen. Doch es gehört eben zum Wesen der Kameradschaft, "dass sie, unbeschadet ihrer positiven Seiten, gerade nicht im Persönlichen und Individuellen der Partner gründet, sondern von der vorgegebener Situation der Gruppe, vom jeweiligen 'Einsatz' her bestimmt und unterschiedslos jedem gewährt wird, der 'dazugehört'. Sie ist Kodex und Pflicht und erfordert gerade nicht das Sich-Einlassen auf das Besondere und Individuelle des Partners, sondern gilt im Gegensatz zu Freundschaft ohne Ansehen der Person."50

Hilft die Beziehung zu den Kameraden dem Soldaten also beim Schaffen neuer gemeinsamer subjektiver Kriegswirklichkeiten, so hilft sie doch eher wenig bei der Integration dieser Elemente in seine, des Soldaten, subjektive Vorkriegswirklichkeit, denn dazu bedarf es der Hinsicht auf die Person im soeben zitierten Sinne. Hier kommen nun die Angehörigen wieder ins Spiel, und mit ihnen die Feldpostbriefe. Letztere sind nunmehr das Medium, in dem das durch den Gesellungsbefehl unterbrochene 'signifikante' Gespräch fortgeführt wird. Sie bieten sowohl die Möglichkeit für den Versuch, sich im brieflichen Austausch der gemeinsamen subjektiven Wirklichkeit der Vorkriegszeit zu versichern, als auch für das Bemühen, sich die neue

48 Charles C. Moskos, Eigeninteresse, Primärgruppen und Ideologie. Eine Untersuchung der Kampfmotivation amerikanischer Truppen in Vietnam, in: Beiträge zur Militärsoziologie, hrsg. von René König, Köln/ Opladen 1968, S. 199-220.

49 Aus den Briefen von Ivan Gusev, Panzerfahrer, Jahrgang 1922, eigene Übersetzung, Originaltext in:

„Po obe storony fronta“, S. 50 - 51.

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Wirklichkeit anzueignen (und sei es in der Verständigung darüber, daß sie abzulehnen ist), sie den Angehörigen und sich selbst sinnvoll und erträglich (in wie unzureichender Form auch immer) zu machen. Schließlich geben sie Gelegenheit für den Vorgriff auf die Nachkriegszeit in der Phantasie, für den Entwurf fortgeschriebener alter oder auch, durch die Erfahrung des Krieges, modifizierter oder gar gewandelter Identitäten für den antizipierten zivilen Alltag.

In doppelter Hinsicht unterscheidet sich das auf den Briefwechsel eingeengte Gespräch von dem im zivile Alltag gewohnten: Zum einen reduziert das Medium 'Brief' die Kommunikationen zugleich quantitativ und qualitativ. Quantitativ, indem die alltägliche Konversation zur meist unregelmäßigen und seltener stattfindenden Korrespondenz wird, in er zugleich die Spanne zwischen Rede und Antwort auf Tage oder Wochen auseinandergerissen wird. Qualitativ, indem das Gespräch der "Begleiterscheinugnen des Stimmklanges und der Aktenzuierung, der Gebärde und der Miene" entkleidet wird, die für das gesprochene Wort ebenso eine Quelle der Verundeutlichung wie der Verdeutlichung sind".51 Das birgt bereits die Möglichkeit für Mißverständnisse zwischen den Briefpartnern, mehr noch aber für Mißverständnisse beim Interpreten solcher Briefe, der den Absender nur aus dessen Briefen kennt. Denn ihm fehlt die Möglichkeit, den bloßen Inhalt der Worte aus der Erinnerung an die Person um die fehlenden

"Begleiterscheinungen", und sei es notdürftig, zu ergänzen. Wird diese Situation dem Briefschreiber bewußt, kann sie ihn allerdings auch dazu anhalten, schriftlich zu formulieren, was sonst vielleicht ein Blick, eine Geste oder ein Blumenstrauß gesagt hätten.

Andererseits verlangt die Situation, aus der heraus die Briefe geschrieben werden, eine gesteigerte Intensität der Kommunikation in dem Sinne, daß das Gespräch nicht mehr vor dem Hintergrund alltäglicher Routine stattfindet, sondern die gegenseitige Absicherung subjektiver Wirklichkeiten jetzt helfen muß, die Krisen zu bewältigen, in welche diese Wirklichkeiten durch die Kriegserlebnisse geraten können. Wo aber Selbsverständlichkeiten erschüttert und mit Unverständlichkeiten konfrontiert werden, da wächst die Wahrscheinlichkeit, daß beide zum Gesprächsthema werden, daß auch vieles, was vor dem Kriege implizit vermittelt wurde, nun ausgesprochen wird. Dies mag jedoch im Einzelfall sehr unterschiedlich sein.

Diese Überlegungen sind in verschiedener Hinsicht zu differenzieren. Zunächst ist zu betonen, daß die Identifizierung der Quelle "Feldpostbriefe" als Medium "signifikanter Gespräche" eine wesentliche Funktion benennt, die sie für die Beziehung zwischen den Angehörigen erfüllen.

Wie sie dies tun, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die tendenziell so vielfältig sind wie die Personen unterschiedlich, welche die Briefe verfassen, und die Situationen verschieden,

50 Martin Broszat in der Einleitung zu Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hrsg. von Martin Broszat, München 1987, S. 7-22.

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aus denen heraus sie geschrieben werden.

Die vom Krieg auferlegte Trennung der Soldaten von ihrer Angehörigen führten, indem sie zum Briefschreiben nötigte, zwischen 1914/18 und zwischen 1939/45 zu einem beispiellosen Schub der Verschfriftlichung von Erfahrungen. Die schriftliche Sprachfertigkeit aber ist sehr ungleich verteilt. Gleiches gilt für die Wahrnehmungsfähigkeit und für die Mitteilsamkeit de Soldaten. Für die unterschiedliche Sprachfertigkeit mag der jeweilige formale Bildungsstand ausschlaggebend sein, währen die Differenzen der Wahrnehmungsfähigkeit und Mitteilsamkeit wohl schwerlich auf einen wesentlichen Faktor zurückgeführt werden können, sondern allenfalls in biographischen Zusammenhängen aufzufinden wären, über die in den Feldpostbriefen jedenfalls nicht von vornherein Auskunft zu erwarten ist.

Es ist nicht dasselbe, ob ein Sohn seinen Eltern, ein Bruder seiner Schwester, ein Ehemann seiner Ehefrau oder ein Vater seinen Kindern schreibt; es macht ferner einen Unterschied, ob dieser Sohn noch bei seine Eltern wohnt oder sich bereits abgenabelt hat, ob diese Eheleute seit zwei Monaten oder seit zehn Jahren verheiratet sind, ob diese Kinde Kleinkinder oder nahezu erwachsen sind, und was der denkbaren Konstellationen mehr sind.

Zwei als Beispiel analysierte Briefe vom selben Rotarmisten zeigen, wie sich die Sprachpraxis unterscheidet - je nachdem, ob der Verfasser sich an die Mutter oder an die Schwester wendet.

In einem am 26.04.1942 verfaßten Brief52 an die Mutter befriedigt der Briefschreiber vor allem seine Grundbedürfnisse nach der Kommunikation, die der Versicherung der gegenseitiger Verbundenheit dienen. Der Rotarmist gibt mit diesem Brief ein Lebenszeichen und versichert, dass es ihm „nicht schlecht geht“, fragt nach den Adressen vom Vater und Jurij (vermutlich ein Bekannter) und beklagt sich über den Zeitmangel. Außerdem kommen Zukunftserwartungen in Bezug auf seine eigene Person - „weiß nicht , wie es weiter geht, ich hoffe, es wird noch besser“- wie auf die Familie vor: „dann werden wir wieder als ganze Familie leben“.

Offensichtlich wird „innere Zensur“ stark eingesetzt, denn es folgen keine Beschreibung der primären Kriegsbelastungen geschweige denn des Kriegsgreuels; solche Wörter wie „Kampf“,

„Krieg“, „Front“, „vorderste Linie“, „Stellung“ usw. kommen überhaupt nicht vor, die militärische Funktion des Schreibers wird nicht erwähnt. Außer einer wütenden Bemerkung über die

„Hitlerhunde“, die man für eine gemeinsame Zukunft „zerschlagen“ muss, beinhaltet dieser Brief auch keine Erwähnungen des Feindes.

51 Vgl. den "Exkurs über den schriftlichen Verkehr" zur "Soziologie des Briefes" bei Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Rammstedt - 3. Aufl. - 1999.

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Der etwa drei Monate später verfaßte Brief vom 3.08.1942 an die Schwester53 dient auch als ein Lebenszeichen - „ich verbleibe gesund und munter“, und betont die Wichtigkeit der Kommunikation: „Antworte mir gleich, halte die Antwort nicht auf“. Jedoch in diesem Brief findet der Verfasser es weniger wichtig, den Empfänger zu schonen und gibt z.B. damit an, dass er

„als Scharfschütze schon 20 Hitlersoldaten“ auf seinem „Konto“ hat und noch mehr vernichten wird, wenn er „das nächste Mal an vorderste Front in Stellung“ geht. Der Rotarmist betont auch, dass er „den Befehl des Genossen Stalin“ ausführt, „alle Fritze bis auf den letzten auszurotten“;

außerdem empfiehlt er einen Propagandafilm als eine Schilderung seines Lebens im Winter.

Der Brief an die Schwester hebt sich somit durch die Beschreibung primärer Eigenschaften des Krieges (Kampf, Kriegsereignisse, militärische Funktion des Soldaten usw.) und der Feindbilder von dem an die Mutter ab.

Militärische Funktion des Soldaten, Einsatzort und Kriegsphase spielen immer eine wesentliche Rolle: Die Gelegenheit, überhaupt Briefe schreiben zu können, ist für den Infanteristen in vorderster Linie ungünstiger als für den Mann am Klappenschrank, ist im besetzten Paris günstiger als in den Kellern von Stalingrad.

Diese Faktoren überlagern sich zudem und bewirken in ihrer Gesamtheit, daß das "signifikante Gespräch" zwischen den Millionen von Soldaten und ihren Angehörigen ganz unterschiedliche Formen annehmen kann, auch wenn seine Funktion die gleiche bleibt.

Nun erschöpfen Feldpostbriefe sich nicht darin, im genannten Sinne den Austausch subjektiver Wirklichkeiten zu gewährleisten und auf diese Weise den Soldaten zu helfen, der eigenen Stellung unter den neuen Lebensumständen des Krieges gewahr zu werden. Ebenso wichtig ist ihre Funktion als Lebenszeichen. Sehr oft wird ein eilends aufs Papier geworfener Gruß für die Angehörigen von viel größerer Bedeutung gewesen sein als ein seitenlanger Bericht über die Ereignisse, verbunden mit ausführlichen Reflexionen über die eigene Person im Krieg.

Zwischen diesen Extremen hat das Gros der Feldpostbriefe seinen Ort.

Damit ist der Zeitpunkt gekommen, sich zum ersten Mal in eines der "signifikanten Gespräche"

einzublenden, also die Quellen ausführlich zu Wort kommen zu lassen, wobei die vorliegenden Soldatenbriefe gezwungenermaßen nur die eine Seite des Gesprächs vermitteln können.

52 Aus den Briefen von Viktor Pozdnjakov, Scharfschütze, Leningrader Front, Originaltext in: „Po obe storony fronta“, S. 27, deutsche Übersetzung siehe Anhang, Dokument 1.

(28)

1.4. Diachrone Briefreihen

Viele Historiker und Schriftsteller, die sich mit der Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Krieges befassen, setzen Feldpostbriefe als eine Quelle ein, die untermaunernd für oder korrigierend gegen eine These, Behauptung oder einen Mythos wirkt.54 Als falsifizierndes Korrektiv stehen der zitierte Brief oder der Briefauszug aber verloren auf dem historischen

„Zeitstrahl“; sie können nur die in Worte gefaßten Erfahrungen von dieser einen zeitlichen Position aus mitteilen, die - aus dem diachronen Kontext gerissen - nicht mehr als eine Momentanaufnahme bieten kann. Sollen Briefbeispiele eine Theorie oder These stützen, ist dieses Bestreben immer mit der Gefahr verbunden, die kontrastreichen Stellen anzuführen, die extremen Aussagen zu typischen Beispielen zu machen, um - sicherlich oft unbewußt - den Anschein zu erwecken, sie seien eine probates Mittel, um von der Erforschung "im Kleinen" auf das makroskopische Ganze zu schließen.55 Dieser Induktionsschluß führt, will er über die impressionistische Thesen bzw. Theorien korrigierende Ebene hinaus, in die Irre.

Um die schriftliche Aussage von einzelnen Briefen einzelner Soldaten verifizieren zu können, bedarf es einer weiteren Überprüfung auf der Basis von Briefreihen, die eine gewisse Relativierung der situativen Gebundenheit der Entstehung des Einzelbriefes - z.B. im Frontgraben oder im Hinterland - ermöglichen und deren diachrone Struktur des Informationsflusses zeigt, ob es "Anlaufzeiten, Peripetien oder Kriesen und deren Ende"56 gab;

erst eine gewisse Dichte von Kommunikationszeugnissen auf dem Zeitstrahl kann Veränderungen bei den Schreibern aufzeigen.57

Zwei Zeitschichten von Kriegserfahrung sollen unterschieden werden: Eine gewissermaßen konjunkturabhängige Schicht von, gemessen an der menschlichen Lebenszeit oder auch nur an der Dauer der Kriegsteilnahme, kurzlebigen Stimmungen und Verstimmungen, die als unmittelbare Reaktionen auf die aktuellen Wechselfälle der kleineren und größeren Kriegsereignisse, -erlebnisse und -pausen gelten können, sowie eine Schicht der Orientierung an langlebigeren Sinnmustern, also an dauerhafteren, Vorkriegs- und Kriegszeit übergreifenden Strukturen des sozialen Wissens, deren subjektive Gültigkeit für das Individuum mit einer

53 Aus den Briefen von Viktor Pozdnjakov, Scharfschütze, Leningrader Front, Originaltext in: „Po obe storony fronta“, S. 27 - 28, deutsche Übersetzung sieht Anhang, Dokument 2.

54 Bartov, Omer, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1995.

55 Wette, Wolfram, In Worte gefasst. Kriegskorrespondenz im internationalen Vergleich, in: ders. /Vogel, Bernd (Hrsg.), Andere Helme - Andere Menschen? Heimatserfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg; ein internationaler Vergleich, Essen 1995, S. 329.

56 Koseleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, S. 146.

57 Dazu Knoch, Peter, Kriegserlebnis als biografische Krise, in: Gestrich u.a. (Hrsg.), S. 86-108.

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