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4. Feindbilder und Motivationen „von oben“

4.4. Motivationen zum Kampf „von oben“

4.4.2. Motivationen zum Kampf „von oben“ in der Sowjetunion

Die psychologische Motivierung der Soldaten sowie aller Bürger der Sowjetunion zum Widerstand gegen den deutschen Angriff war vom Sommer 1941 an die zentrale Aufgabe der politischen Führung Sowjetrusslands. Hittlers Angriff hatte das Land zu diesem Zeitpunkt unvorbereitet getroffen und zunächst bis in die höchsten Spitzen von Staat und Partei hinein eine tiefe Lähmung hinterlassen. Stalin selbst sah sich erst am 12. Tag des deutschen Angriffs imstande, in einer Rundfunkansprache an das Volk vom 3. Juli 1941 zu dem Vorgang der

„wortbrüchigen Zerreißung des Paktes und den Überfall auf die Sowjetunion“ vor der eigenen Bevölkerung Stellung zu nehmen.150

Die Erfahrung des 22. Juni 1941 und der anschliessenden Wochen und Monaten des scheinbar unaufhaltsamen Vormarsches der deutschen Truppen wirkten schockartig. Deshalb fand es die sowjetische Führung besonders wichtig, die Bedrohung der Lage hervorzuheben:

„Über unsere Heimat ist eine ernste Gefahr heraufgezogen“,151 behauptete Stalin in seiner Rundfunkrede am 3. Juli 1941, daher müssen alle Völker der Sowjetunion „sich zur Verteidigung seiner Heimat erheben.“152 Somit tritt an die erste Stelle der Motivationen die Landesverteidigung, dargestellt als Existenz- und Freiheitskampf: „Die Völker der Sowjetunion müssen sich erheben, um ihre Rechte und ihren Boden gegen den Feind zu

148 Bericht der FPP des Panzer-AOK 4 30. Dezember 1942 - 16. Januar 1943, ebenda, S. 101.

149 Siehe Buchbender, Ortwin, Sterz, Reinhold, Das andere Gesicht des Krieges, S. 24

150 Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg de Sowjetunion, S. 5-9. Vgl. auch Zeidler, Manfred, Kriegsende im Osten. Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/45, S. 105ff.

151 Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, S. 5.

152 Stalin, ebenda, S. 9.

verteidigen.“153 Der Aussenminister Molotow betonte das gleiche bereits am ersten Tag des Krieges: „Ich verständigte den deutschen Botschafter im Auftrag der Sowjet-Regierung, daß wir den Kampf annehmen. Das russische Volk kämpft für sein Vaterland, seine Ehre und seine Freiheit“.154 Unter diesem Motto erfolgte die propagandistische Mobilisierung der Soldaten, dabei wurde der Krieg seitens der Sowjetunion zum ersten Mal als „Vaterländischen Krieg“

dargestellt: Der Sowjetstaat hat „alle Werktätigen zum Kampf (zu) mobilisieren, um in unserem Vaterländischen Krieg gegen den deutschen Faschismus unsere Freiheit, unsere Ehre, unsere Heimat unter Einsatz unseres Lebens zu verteidigen.“155 Befreiung der Sowjetunion wurde somit zum offiziellen Kriegsziel erklärt: „Wir haben keine Kriegsziele und können keine Kriegsziele haben wie die Eroberung fremder Gebiete oder die Unterwerfung fremder Völker.

(...) Unser erstes Ziel besteht darin, unsere Gebiete und unsere Völker vom faschistischen deutschen Joch zu befreien.“156

Um das positive Selbstbild zu stärken, wurde die Sowjetunion als „unser friedliebendes Land“

bzw. „unser friedliebender Staat“ dargestellt;157 „die Sowjetordnung“ wurde gleichzeitig als „die stabilste aller Ordnungen“ präsentiert, „die moralische Verfassung“ der Roten Armee sei

„höher als die der deutschen, denn sie verteidigt ihre Heimat gegen fremdländische Eindringlinge“.158 „Zum Unterschied von Hilterdeutschland“, hob Stalin in seiner Rede zum 24.

Jahrestag der Oktoberrevolution am 6. November 1941 in Moskau hervor, „führen die Sowjetunion und ihre Bundesgenossen einen Befreiungskrieg, einen gerechten Krieg, der auf die Befreiung der unterjochten Völker Europas und der UdSSR von der Hitlertyrannei abzielt.“159

Der erfolgreiche Vormarsch der deutschen Wehrmacht und Niederlagen der Roten Armee erforderten dringend Motivationen, welche die eigene Stärke festigen, Siegeserwartungen - gestützt auf Überlegenheitsgefühl - hervorrufen könnten. „Die Geschichte zeigt“, behauptete Stalin, „daß es keine unbesiegbare Armeen gibt und nie gegeben hat“. In bezug auf die Stärke der Sowjetunion betonte er: „Unsere Kräfte sind unermesslich. Der frech gewordene Feind wird sich bald davon überzeugen müssen. Zusammen mit der Roten Armee erheben sich

153 Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, S. 11.

154 Molotow, Rede zum Kriegsbeginn am 22. Juni 1941, Text auf Deutsch in: Moos, Herbert von, Das große Weltgeschehen, Bd. 2, S. 301.

155 Stalin, Werke, Band 14, S. 242.

156 Stalin, Bericht in der Festsitzung des Moskauer Sowjets der Deputierten der Werktätigen am 6.

November 1941, S. 36.

157 Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg de Sowjetunion, S. 7.

158 Stalin, ebenda, S. 22.

159 Stalin, Werke, Band 14, S. 257.

Tausende und Abertausende der Arbeiter, Kollektivbauern und der Intelligenz zum Krieg gegen den Feind.“160

Haß- und Rachegefühle nahmen einen großen Platz in der sowjetischen Propaganda ein. In seinem Befehl Nr. 130 zum Maifeiertag des Jahres 1942 sprach Stalin von einer in den vergangenen Monaten unter den Mannschaften der Roten Armee eingetretenen Wandlung, die bewirkt habe, dass die Armeeangehörigen inzwischen die Fähigkeit zum Haß auf die

„deutschen Eindringlinge“ entwickelt hätten. Stalin wörtlich: „Verschwunden sind die Gutmütigkeit und die Sorglosigkeit gegenüber dem Feind, die in den ersten Monaten des Vaterländischen Krieges unter den Rotarmisten zu verzeichnen waren. Die von den faschistischen deutschen Eindringlingen an der friedlichen Bevölkerung und an den Sowjetkriegsgefangenen verübten Bestialitäten, Plünderungen und Gewalttaten haben unsere Rotarmisten von dieser Krankheit geheilt.“ Die Sowjetsoldaten, fuhr Stalin fort, seien „härter und schonungsloser“ geworden, sie hätten es gelernt, die ‘faschistischen deutschen Eindringlinge’ richtig zu hassen und begriffen, „dass man den Feind nicht besiegen kann, ohne es gelernt zu haben, ihn aus ganzer Seele zu hassen.“161 Haßgefühle aus der Propaganda widerspiegelten sich in Dokumenten der politischen Organe der Einsatzarmee. So verfasste z.B. im September 1942 die politische Verwaltung der Stalingrader Front einen Appell an die Verteidiger von Stalingrad, wo unter anderem stand: „...Warum werden wir siegen? Weil wir den Feind mit allen Kräften unserer Seele hassen. Weil wir mit Rache für die Greueltaten der deutschen Scheusale lodern...“162

Opferbereitschaft sowie Erfüllung seiner Pflicht nahmen auch einen wichtigen Platz in der offiziellen Propaganda. In seinem Befehl vom 23.02.1943 betonte Stalin: „Dieser Kampf wird Zeit, Opfer, die Anspannung unsere Kräfte und die Mobilisierung aller unserer Möglichkeiten erfordern.“163 Diese Motivationen hoben auch die Militärräte der Roten Armee hervor: „Ohne unsere Kräfte zu schonen, den Tod verachtend, lassen wir die Deutschen nicht zur Wolga, geben wir Stalingrad nicht auf! (...) Kein Schritt zurück! (...) Vorwärts, Genossen, in den schonungslosen Kampf für Stalingrad!“164 Die Führung der Sowjetunion war bemüht, die Soldaten zum Kampf und Sieg um jeden Preis zu motivieren. Stalin äusserte sich dazu wie folgt:„Unser Ziel ist klar und edel. Wir wollen unseren Sowjetboden von den faschistischen deutschen Schurken befreien. (...) Wir können es erreichen, und wir müssen das erreichen, es

160 Stalin, Werke, Bd. 14, S. 242.

161 Stalin, Über den Großen Vaterländischen Kireg der Sowjetunion, S. 60ff.

162 Doronin, P., Soldaty Stalingrada (Die Soldaten von Stalingrad), Kischenew 1974, S. 45.

163 Befehl des Obersten Befehlshabers vom 23.02.43, Stalin, Werke, Bd. 14, S. 307.

164 Aus dem Befehl des Militärrates der Süd-Ostlichen Front vom 1. September 1942, Text in: Doronin, ebenda, S. 69-70.

koste, was es wolle.“165 „Gebt unsere Lieblingsstadt nicht auf! Verteidigt Stalingrad um jeden Preis!“ - verlangten die Aufrufe und Appelle an die Rotarmisten im Kampf um Stalingrad.166

Auf dem Höhepunkt der Rückzugskämpfe der Roten Armee wurde im Stalingrader Raum am 28. Juli der Befehl Nr. 227 erlassen, der auch als „Keinen Schritt zurück“-Befehl bekannt ist. In diesem Befehl führte Stalin die Strafkompanien und Einheiten zur „Sicherung des rückwärtigen Raumes“ (Sperrabteilungen) aus dem Bestand der Truppen des NKVD in die Praxis des Frontlebens ein;167 diese drastischen Massnahmen sollten die Motivation und die Kampfstärke der Roten Armee erhöhen. Die “Sonderabteilungen“ des NKVD waren dabei beauftragt, die Reaktionen der Rotarmisten auf diesen Befehl zu überprüfen.168

Die politische Führung des Landes erwartete eine Bestätigung, dass die Rotarmisten entsprechend motiviert und zur Erfüllung ihrer Pflicht um jeden Preis bereit sind. Ausser Sonderabteilungen des NKVD kamen solche Bestätigungen von den politischen Abteilungen der Truppe: „Jeder neue Tag bringt immer neue Tatsachen der beispiellosen Treue, Standhaftigkeit und Mut der Gardisten“, meldete ein mit politischer Arbeitet in der 27. Garde-Schützendivision beschäftigter Oberst an seinen Vorgesetzten.169

Um auf den Fundus des geschichtlichen Gedächtnisses des Volkes zurückzugreifen, benutze die Propaganda geschichtliche Heldenbeispiele als Motivationen: „Der Krieg, den ihr führt, ist ein Befreiungskrieg, ein gerechter Krieg. Möge euch in diesem Krieg das heldenmütige Vorbild eurer großen Vorfahren beseelen - Alexander Newskis, Dmitrij Donskojs ...“170 „Kein Schritt zurück! Zeigen wir alle wie eins unsere selbstlose Tapferkeit, Standhaftigkeit und Heldenmut im Kampf gegen frechgewordenen Feind“, verlangten die politische Organe der Roten Armee von den Soldaten.171

Einen besonderen Platz unter Motivationskategorien nahm der Bodenfaktor ein. Bereits in seiner Rede zum Kriegsausbruch sprach Stalin: „Die Rote Armee und die Rote Flotte kämpfen

165 Befehl des Volkskommissars für Verteidigung vom 1.5.1942, in: Stalin, Werke, S. 275.

166 „Appell des Leiters der politischen Verwaltung der Stalingrader Front P. Doronin an die Verteidiger von Stalingrad“ (September 1942), Text in: Doronin, P., Soldaty Stalingrada, S. 84.

167 Siehe Larionow, Walentin, Reflexionen zur Schlacht um Stalingrad au heutiger Sicht, in: Jacobsen, Hans-Adolf u.a., Deusch-russische Zeitenwende. Krieg und Frieden 1941-1995, Baden-Baden 1995, S. 262-263.

168 Siehe z.B. „Meldung der Sonderabteilung des NKVD der Stalingrader Front an die Leitung der Sonderabteilungen des NKVD der UdSSR über die Reaktionen der Mannschaften der Stalingrader Front auf den Befehl Nr. 227 vom 8. August 1942“, Text in: Stalingradskaja epopeja, S. 166-167.

169 Aus dem ‘politischen Bericht’ an den Leiter der politischen Abteilung (PA) der 65. Armee, ZAMO (Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums Russlands), F. 27gwsd, Bestand O. 1, D. 82, L. 221.

170 Stalin, Rede bei der Parade de Roten Armee am 7. November 1941, in: Stalin, Werke, S. 261.

171 „Appell an die Verteidiger von Stalingrad“ der politischen Verwaltung der Stalingrader Front (September 1942), Text in: Doronin, P., ebenda, S. 46.

aufopferungsvoll unter Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten um jeden Fußbreit Sowjetbodens“.172 Das symbolische Bild „eines Fußbreit des Sowjetbodens“ wurde zu einer oft wiederholten Motivationskategorie. Stalin wörtlich: „Die Rote Armee, die Rote Flotte und alle Bürger der Sowjetunion müssen jeden Fußbreit Sowjetbodens verteidigen, müssen bis zum letzten Blutstropfen um unsere Städte und Dörfer kämpfen (...)“173 Dieses symbolische Bild wiederholten auch politische Organe der Truppe: „Jedem Kämpfer und Kommandeur soll deutlich bewusst sein, dass der Boden, wo jetzt gekämpft wird, mit dem Blut unserer Väter durchtränkt ist; die Aufgabe sogar einen Fußbreit dieses Bodens vor dem Feind ist eine Schande vor dem Andenken an denen, die in den Kämpfen gegen die Weissgardisten gefallen sind, und ein schweres Verbrechen vor unseren Nachkommen.“174 „Schande sei dem, der nur noch einen Fußbreit dieses heiligen Bodens vor dem Feind aufgibt“, behauptete Agitationsschilder in Stalingrad.175

Auch alle sowjetrussischen Feldpostbriefe im Zweiten Weltkrieg gingen prinzipiell durch die Zensur. Sie wurde in den Feldpostprüfstellen im Hinterland ausgeübt, welche dabei auch nicht zu den Institutionen der sowjetischen Feldpost gehörten: Sie unterstanden anfangs dem Volkskommissariat für Staatssicherheit (NKVD) und ab 1943 der Spionageabwehrabteilung

"SMERSCH" (smert' spionam - Tod den Spionen) (Siehe Kap. I, S. 10-11). Über die Struktur und das genaue Funktionieren der sowjetischen Militärzensur war eine Zeitlang wenig bekannt. Erste Informationen lieferten die von einem ehemaligen Mitarbeiter der Militärzensur 1993 veröffentlichten Erinnerungen.176 Der Verfasser arbeitete in der Militärzensur jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg, und konnte deshalb wenig Informationen über die Tätigkeit der Zensur während des Krieges überliefern. Einen „Durchbruch“ in dieser Richtung leistete der Sammelband „Stalingradskaja :popeja“177 (Die Epopöe Stalingrad), in dem insgesamt 13 Berichte der sowjetischen Militärzensur sowie der „Sonderabteilungen“ (Abwehr) aus der Schlacht um Stalingrad veröffentlicht wurden. Diesen Dokumenten ist vor allem zu entnehmen, nach welchen Kriterien Briefe der Rotarmisten eingestuft bzw. beschlagnahmt

172 Stalin, Werke, ebenda, S. 239.

173 Stalin, ebenda.

174 Aus der Direktive der politischen Leitung der Roten Armee an die politische Abteilungen der Truppe, Text in: Doronin, ebenda, S. 80.

175 Aus der Überschrift auf einem Agitationsschild in Stalingrad im September 1942, Doronin, ebenda, S. 63.

176 Avzeger, Leopold, Ja vskryval vaÞi pis’ma. Vospominanija bywÞego tajnogo cenzora MGB, („Ich habe Ihre Briefe aufgemacht.“ Erinnerungen eines ehemaligen geheimen Zensors des Ministeriums für Staatssicherheit), IstoÝnik 1993/0, S. 86-106.

177 Basik I. u.a. (Red.), Stalingradskaja :popeja, Moskau 2000, siehe Anmerkung 27 in Kapitel 1.

waren. Die wichtigsten Kategorien waren dabei „Briefe mit alltäglichem Inhalt“, „Briefe mit positiven Äusserungen“ und „Briefe mit negativen Äusserungen“178

Bei solchen „negativen Äusserungen“ wie Benennung des Standortes und der Waffen als auch der Fakten, die Aufschluss über die Frontsituation liefern konnten, wurde Missliebiges mit schwarzer Tinten gestrichen und auf die Rückseite des Briefes der Stempel "Von der Zensur geprüft"179 gesetzt, der Brief wurde an den Empfänger weitergeleitet. Zu dieser Kategorie gehörten auch inoffizielle Mitteilungen über den Tod anderer Rotarmisten, Beschwerden über schlechte Verpflegung,180 Briefe mit Mitteilungen über die Ergebnisse feindlicher Bombenangriffe, Briefe mit „religiösem Inhalt“ bzw. mit „Verfallsstimmung“;181 in den Dokumenten der Militärzensur für Dienstgebrauch wurden solche Briefe mit dem Kennbuchstaben „A“ versehen.

Der Kennbuchstabe „K“ stand für beschlagnahmte Briefe.182 Solche Briefe wurden entweder vernichtet (verbrannt), oder an den zuständigen NKVD-Offizier weitergeleitet. Im letzten Fall folgte fasst immer ein Strafverfahren, der Briefschreiber kam vor Kriegstribunal. Unter dieser Kategorie wurden Briefe mit Erwähnung von Kriegs- und Staatsgeheimnissen, „Veran-lassungen zum Desertieren“, Briefe mit „provokativem Inhalt“183 bzw. Kritik an der Partei oder an Stalin persönlich eingestuft. Genau so gefährlich waren die Mitteilungen, dass man in Kriegsgefangenschaft oder einen Kessel geraten war oder etwa vor dem Feind zurückweichen musste.

Aus Papiermangel verfassten vieler russische Soldaten ihre Briefe auf erbeuteten Papier bzw.

Postkarten. Wenn dieses Papier oder Postkarten Texte auf Deutsch, Porträts der deutschen Führung, Abbildungen der deutschen Luftwaffe u.ä. enthielten, wurden solche Briefe beschlagnahmt und verbrannt; das gleiche galt für die auf topographisch Karten oder auf Porträts der sowjetischen Führung verfassten Briefe.184

178 Dokument Nr. 26. „Aus einem Sonderbericht der VZ-Abteilung der 62. Armee an die Sonderabteilung des NKVD der Stalingrader Front“ vom 2. August 1942, Stalingradskaja epopeja S. 158.

179 Dieser Stempel bedeutete jedoch nicht automatisch, dass der Brief auch gelesen wurde. „Den Stempel gab es oft, die Zensur war jedoch nicht immer da“, sagte Lew Kopelew, der ehemalige Propagandaoffizier, in einem Interview im Dezember 1996 / Interview vom 10.12.1996 in Köln, eigenes Archiv.

180 Dokument Nr. 21. „Sonderbericht über die politisch-moralische Verfassung der Kämpfer der 57.

Armee der Süd-Front nach Materialien der Militärzensur vom 30. April 1942, Stalingradskaja epopeja, S. 137-138.

181 Meldung der Abteilung VZ-15 (russischen Abkürzung für „Militärzensur“ -A.P.) vom 1. August 1942, Stalingradskaja epopeja, S. 155.

182 Siehe Stalingradskaja :popeja, Anmerkungen, S.444.

183 Meldung der Abteilung VZ-15 vom 1. August 1942, Stalingradskaja epopeja, S. 155.

Neben der Kontrolle über Geheimhaltung und Informationsaustausch diente die Zensurbehörde auch gleichzeitig dazu, die Stimmung in der Truppe zu erkunden und die Ergebnisse an die höherstehende Behörde („politische Abteilungen“ der Armee bzw. der Front) und schliesslich an den "Rat für militärisch-politische Propaganda" beim Zentralkomitee der kommunistischen Partei (KPdSU) weiterzuleiten. Die politische Führung der Sowjetunion erwartete Bestätigungen dafür, dass die Soldaten hochmotiviert und bereit sind, unter allen Umständen weiterzukämpfen. So meldete z.B. eine VZ-Abteilung im August 1942: „Viele Briefe zeigen eine gesunde politisch-moralische Verfassung der Mannschaften der Armee, hohen Geist des Patriotismus, Treue der Heimat sowie die Bereitschaft, den Kampf gegen den Faschismus bis zur völligen Vernichtung der deutschen Armee zu führen“.185

Ihre Berichte über den Kampfgeist und die Motivation der Truppe untermauerten die sowjetischen Feldpostprüfstellen oft mit Briefzitaten: So zitierte z.B. eine VZ-Abteilung den Soldaten G. Olejnin aus de Brief an seine Schwester: „...1942 wird Schluss mit dem Faschismus. In bezug auf die Faschisten, liebe Schwester, sei sicher, dass meine Hand nicht erzittern wird und die Kugel an keinem Faschisten, dem ich begegnet bin, vorbei fliegt. Sie sollen von mir eine doppelte Vergeltung erhalten, für Vater, für Mutter, für die Ukraine, für das ukrainische Volk. Ich werde mich für alles abrechnen, ich werde weder meine Kräfte noch mein Leben selbst schonen bis zum endgültigen Sieg über den Feind.“186

Zu den Aufgaben der sowjetischen FPP gehörte auch die Kontrolle über solchen Äußerungen, welche zeigten, wie die russischen Militärangehörigen sekundäre Belastungen des Krieges vertragen. Darunter waren die Erwähnungen von ungenügender Verpflegung; gutem oder schlechtem Gesundheitszustand, Ungezieferplage, Magen- und Darmerkrankungen u.a.

Entdeckte die Zensur Äusserungen über die sinkende Stimmungen der Truppe oder einzelner Rotarmisten (oft bezeichnet als „Verfallsstimmung“), wurde das im entsprechenden Bericht auch mit Zitaten untermauert: Soldat Pakomut, Feldpostnummer 1966, schrieb an seine Frau:

„Mein Leben ist nicht leicht, ich habe nicht wenig zu kämpfen, ich habe dieses Leben schon satt. Ich wäre froh, wenn ich verwundet oder tot wäre, mit ginge dann besser. Wenn ich fallen werde, dann muss ich mir nicht mehr um euch Sorgen machen, sowie um die Kinder; würde ich schwer verwundet, erwarte mich zu Hause, Verwundete lässt man nach Hause...“187 Soldat

184 „Sonderbericht über die politisch-moralische Verfassung der Kämpfer der 57. Armee der Süd-Front nach Materialien der Militärzensur vom 30. April 1942, Stalingradskaja epopeja, S. 138-139.

185 „Aus einem Sonderbericht der VZ-Abteilung der 62. Armee an die Sonderabteilung des NKVD der Stalingrader Front“ vom 2. August 1942, Stalingradskaja epopeja S. 158.

186 Ebenda, S. 159.

187 Dokument Nr. 30. „Sonderbericht der Sonderabteilung des NKVD der Stalingrader Front an die Leitung der Sonderabteilungen des NKVD de UdSSR übe die Verfallsstimmung der Militärangehörigen und ihrer Familien an der Stalingrader Front (nach Materialien der Militärzensur)“ vom 8. August 1942, Stalingradskaja epopeja, S. 170.

U. Disirow an seine Eltern: „Wir waten im Wasser über die Knie, wir haben Hunger, die Tagesration ist sehr gering, wir werden nicht satt, und gegen Bezahlung kriegt man nichts, ich hab’ somit starken Hunger. Mehr als eine Rotarmisten-Tagesration kann man nicht ergattern“.188

4.5. Zusammenfassung

Die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Auswertung von Feldpostbriefen werden von allen Autoren erkannt. Zensur und Selbstzensur, verzerrte Wahrnehmung der Realität sowie die einseitige und zufällige Überlieferung werfen Probleme bei der Auswertung auf. In Archiven und sonstigen Sammlungen wurde nur ein verschwindender Teil der insgesamt in Milliardenhöhe entstandenen Feldpostbriefe aufbewahrt. Deren Auswahl erfolgte zudem nicht nach einem bestimmten System, sondern war eher durch Zufälle geprägt.

Deshalb erfordert die Untersuchung, welche Feldpostbriefe als Quellen benutzt, eine Vernetzung mit anderen Quellengattungen - Materialien der Militärzensur, der Kriegspropaganda, Reden der politischen Führer usw. Ausserdem erfordert die vorliegende Untersuchung Rücksicht auf den Kontext der Entstehung einer Quelle, in dem Fall - auf militärisches Geschehen in der Schlacht um Stalingrad.

Aber auch ausserdem gibt es eine Fülle von Kontextinformationen, die man nicht brachliegen lassen sollte. Ob ein Brief während schwerer Kämpfe oder in einer ruhigen Phase, auf dem Rückzug nach einer Niederlage oder auf dem siegreichen Vormarsch, nach einer Auseinandersetzung mit Kameraden, bei stockender Lebensmittelzufuhr, nach schweren Anstrengungen, bei großer Kälte, nach einem Partisanenüberfall oder einem anderen besonderen Ereignis, nach dem Tod eines Freundes usw. verfaßt wurde, hat zumindest potentiell großen Einfluß auf seinen Inhalt. Interessant - jedoch in der Praxis nicht machbar - wäre sicher ein Vergleich mit Briefen, die derselbe Verfasser im Frieden in einer ganz anderen Situation geschrieben hat.

Das gleiche gilt für den sozialen Hintergrund des Schreibers, für seinen Rang, seine Dienstaufgaben, seine Waffengattung und den Ort seiner Stationierung. All dies gilt es bei einer Interpretation der Briefe zu berücksichtigen. Nicht immer ist dies möglich, doch wenigstens der Versuch sollte unternommen werden.

188 „Sonderbericht über die politisch-moralische Verfassung der Kämpfer der 57. Armee der Süd-Front nach Materialien der Militärzensur vom 30. April 1942, Stalingradskaja epopeja, S. 142.

Der Mensch erscheint in der Soziologie primär als normgesteuertes Wesen, was ein autonomes Handlungsobjekt voraussetzt, das sich zum Guten oder Bösen entscheiden kann.189 Die Militärangehörigen als Akteure des kollektiven Handels im Krieg sind dazu gezwungen, ihr Handeln aneinander anzupassen oder aufeinander abzustimmen, um eine Erwartungssicherheit zu erreichen und konfliktfreie Verhältnisse herzustellen. Dazu benötigen sie gemeinsame Normen bzw. Regeln, welche die Rolle eines Verständigungsmittels übernehmen.190

Diese Regeln können logisch rekonstruiert werden und gelten als Bestandteil eines

Diese Regeln können logisch rekonstruiert werden und gelten als Bestandteil eines