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»im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt«

3.7. Im Schatten eines elegischen Glücks

In einer Notiz, die »ab etwa 1928 bis etwa 1929, vielleicht 1930 niederge-schrieben« wurde (GS VI, 760), d. h. während der Arbeit am Proust-Essay oder unmittelbar danach, heißt es:

Dialektik des Glücks: ein zweifacher Wille: das Unerhörte, nie Dagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Und: Ewiges Noch‑Einmal der gleichen Situation, ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks. (202)

Im Proust-Aufsatz werden die zwei Pole dieser Dialektik als hymnische bzw. elegische Glücksgestalt dargestellt.74 Hymnisch ist jene Form des Glücks, in der »das Unerhörte, das Niedagewesene« (GS II, 313) uns mit Seligkeit überwältigt, elegisch dagegen jene Glücksgestalt, in deren Mittel-punkt »das ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks« (ebd.) steht. Über die Letztere schreibt Benjamin:

Diese elegische Glücksidee, die man auch die eleatische nennen könnte, ist es, die für Proust das Dasein in einen Bannwald der Erinnerung verwandelt. (Ebd.) Während das Hymnische mit der landläufigen Vorstellung von Glück als frohe Zufriedenheit, Hochstimmung oder gar Genuss in Übereinstimmung steht,75 wirkt dagegen die Unterstellung einer elegischen Glücksgestalt eher verblüffend. Denn elegisch bedeutet schließlich ›klagend, wehmütig, traurig‹. In der Antike war die Elegie bekanntlich die dichterische Form

74 Für eine philosophische Erhellung von Benjamins eigenartiger weil nicht teleologischer Idee des Glücks vgl. Khatib 2013 (279−316).

75 Etwa bei Voltaire fällt der bonheur mit einer »suite des plaisirs«, ihrerseits als »sentiments agréables« definiert, zusammen. Schon Locke sah im Glück nichts anderes als »ein Ma‑

ximum von pleasure« (Robert Spaemann, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Schlagwort ›Glück‹, S. 699).

der Klage. Auch in der deutschen Literatur bezeichnet man als Elegien

»Gedichte, deren Grundzüge ›weiche, hinschmelzende Rührung und weh-mütig betrachtendes, sehnendes Erinnern‹ sind«.76 Dementsprechend stellt uns Benjamins These vor eine Paradoxie: Neben einem fröhlichen Glück gebe es ein gleichsam trauriges, wehmütiges, klagendes Glück, das sich aus einem sehnenden Erinnern speist. Wie so häufig bei Benjamin erweist sich dennoch dieses Paradoxon nicht als aporetische Sackgasse, sondern vielmehr als euporetische Anregung zur Ausgrenzung der gewöhnlichen begrifflichen Raster.

Bei Proust wird die mémoire involontaire tatsächlich als unwillkür-licher und glückunwillkür-licher Einfall beschrieben. So liest man z. B. im letzten Band der Recherche:

[L]a vision éblouissante et indistincte me frôlait comme si elle m’avait dit:

›Saisis‑moi au passage si tu en as la force, et tâche à résoudre l’énigme de bonheur que je te propose‹.77

Jedes ungewollte Eingedenken bringt ein »Rätsel des Glücks« (»énigme de bonheur«) mit sich. Nicht unmittelbar erhebt sich das eingedenkende Subjekt zu einem Zustand des intensiven Glücks. Zuerst wird es von einem unerwarteten, plötzlich aufgetauchten Bild aufgerufen und dazu eingeladen, in es einzutauchen, um mit diesem als rätselhaft anmutenden Bild eine Erfahrung zu machen. Darum geht es nämlich, dieses wie ei-nen Strumpf eingewickelte oder ein Fächer eingefaltete Bild in seiner strahlenden Expressivität zu entfalten. Rätselhaft ist die blitzhaft vorbei huschende Erinnerung, weil sie noch keinen klaren Umriss hat: Sie er-scheint als bloße Andeutung eines zu entfaltenden Sinns, d. h. als reine Potenzialität, die einen möglichen Zugang zum Glück eröffnet.

Rätselhaft ist das Glück aber vor allem hinsichtlich seiner zeitlichen Struktur: Kann man vom Glücklich-Sein im Modus Präsens reden? Oder ist Glück nicht eher etwas, was man erst nachträglich, aufgrund des er-folgreichen Durchlaufens einer Erfahrung feststellen darf?78 Oder kann Glück vielleicht sogar aus der unwillkürlichen Vergegenwärtigung eines an sich nicht besonderen erlebten Augenblicks entstehen, in der es sich »um

76 Stichwort ›Elegie‹, in Deutsches Fremdwörterbuch von Hans Schulz, Verlag Karl J. Trübner, Strasburg, 1913, S. 168.

77 Proust 1927, 174.

78 Diese Annahme könnte auch von der vermutlichen etymologischen Herkunft des Wortes Bestätigung finden: »Glück wäre aus ›Art wie etwas schließt, endigt, ausläuft‹ zu ›was gut ausläuft, sich gut trifft‹ geworden. Auf die Entwicklung mögen mhd. gelinc m., gelinge f. n. ›Gelingen‹ eingewirkt haben. Vergleichbar sind dann lat. fortuna und successus, frz.

succès und réussir.« (Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Walther Mitzka, De Gruyter, Berlin, 1960, S. 262)

Bilder [handelt], die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten« (GS II, 1064)?79 Auf gar keinen Fall schließen diese drei Modi des Glücks einander aus, die als verschiedene Nuancen oder Färbungen des Glücks angesehen werden können. Offensichtlich haftet dem dritten Modus ein elegischer Ton an, weil die Erinnerung einer Offenbarung der Vergänglichkeit zum Durchbruch verhelfen kann.

Das unwillkürliche Eingedenken lässt sich allerdings nicht auf eine sehnsüchtige Erinnerung ans unwiederbringlich verlorene Glück reduzie-ren. Wie wir wissen, drängt sich dabei dem Subjekt geradezu ein »ewiges Noch-einmal«, eine »ewige Restauration« auf. Dass sich hinter diesen Formeln ein Hinweis auf Nietzsche versteckt, vermag eine spätere Auf-zeichnung aus Zentralpark zu bestätigen:

Die ewige Wiederkunft ist ein Versuch, die beiden antinomischen Prinzipien des Glücks mit einander zu verbinden: nämlich das der Ewigkeit und das des:

noch einmal. (GS I, 682 f.)

Aufgrund dieses Aphorismus kann unser Gedankengang folgendermaßen weitergeführt werden: Das hymnische Glück erscheint als eine Suspen-dierung der Zeit, in der man sich ewig fühlt.80 So meint Proust, wenn er schreibt:

Une minute affranchie de l’ordre du temps a recréé en nous pour la sentir l’homme affranchi de l’ordre du temps.81

Ewigkeit erscheint als vergängliche, momentane Befreiung vom Zeitver-lauf in der Gegenwart, d. h. in der Zeit selber. Elegisch wird das Glück dagegen, wenn es in der Vergegenwärtigung eines gelebten Augenblicks besteht. Handelt es sich in diesem Falle um eine Wiederholung? Diesen Schluss würde der Ausdruck »noch einmal« rechtfertigen, allerdings müsste er sogleich relativiert werden, wenn man bedenkt, dass das Ver-gegenwärtigte mit dem ursprünglich Erlebten nicht zusammenfällt. Und zwar hauptsächlich deswegen, weil beide Momente durch eine Latenzzeit, also, wie schon erwähnt, durch ein an ihnen eifrig arbeitendes Vergessen, voneinander getrennt sind. Die hier in Frage stehende Restauration ist

79 So bemerkt Werner Hamacher treffend: »Glück wird an keiner Gegenwart offenbar, ohne daß diese auf ein Gewesenes bezogen wäre. Es wird aber nicht an einer oder in einer vergangenen Wirklichkeit erfahren, sondern am Irrealis von deren nichtaktualisierter Möglichkeit.« (2002, 147)

80 Es liessen sich daraus Parallelen zu Spinozas Gleichstellung von ›beatitudo‹ und ›aeternitas‹

ziehen, die ihren berühmtesten Niederschlag im Scholium zur Propositio 23 im fünften Buch der Ethica gefunden hat: »[S]entimus experimurque nos aeternos esse.« (»[W]ir fühlen und erfahren, daß wir ewig sind.«)

81 Proust 1927, 179.

keine bloße Wiederholung, sondern Offenbarung des (als solchen) nie erlebten Vergangenen in seiner Vergänglichkeit.

Die prominente Stellung des Vergänglichkeit-Motivs führt uns zwangs-läufig zum Theologisch-politischen Fragment, in dem Benjamins elegische Auffassung des Glücks ihre prägnanteste Formulierung findet: »Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt.« (GS II, 204) Im Laufe desselben Frag-ments wird dann das Glück als »Rhythmus« des ewig vergehenden Welt-lichen bzw. der messianischen Natur bestimmt. Der enge Zusammenhang zwischen Glück und »Vergängnis« könnte nicht deutlicher ausgedrückt werden. Nur aufgrund dieses Zusammenhanges wird die Idee einer ele-gischen Glücksgestalt vollkommen verständlich. Dass dieser Gedanke für Benjamin eine wichtige Rolle spielt, erhellt nicht zuletzt daraus, dass er fast zwanzig Jahre später auf ihn zurückgreift, und zwar in der zweiten These Über den Begriff der Geschichte:

Das Bild von Glück, das wir hegen, [ist] durch und durch von der Zeit tingiert […], in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns einmal verwiesen hat.

(GS I, 693)

Diese überraschende Engführung von Glück und Vergänglichkeit erlaubt uns, vor dem Horizont der oben zitierten Zeile aus dem Theologisch-politischen Fragment (»Im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang«

[Hervorheb. S. M.]), das Glück als jene Stimmung zu benennen, in der der Mensch sich mit der sonst beängstigenden Vergänglichkeit endlich versöh-nen kann.82 Am vollkommensten erweist sich das Glück im Eingedenken, weil in ihm die Vergängnis gerettet wird. Das, was vergegenwärtigt wird, ist nämlich das Noch-einmal-Vergehen des gelebten Augenblicks mit sei-nen verpassten Potenzialitäten. Daraus ließe sich eine weitere, für unsere Arbeit auschlaggebende Definition ableiten: Eingedenken lautet der Name der vollendeten Gegebenheitsweise der Vergängnis als solcher. So lässt sich der zunächst rätselhaft anmutende Zusammenhang von ungewolltem Eingedenken und Glück erhellen. In Le Temps retrouvé findet man etliche Bestätigungen dieser Deutung. In der mémoire involontaire geht es nach Proust weder um die Gegenwart noch um die Vergangenheit, sondern um ein Drittes, um ihre Konstellation, in der wir »un peu de temps à l’état pur« festhalten können. Das Glück fällt mit dieser Erfahrung der reinen Zeit qua absoluter Vergängnis zusammen. Auf diesem Hintergrund lässt sich auch ein fulminanter Aphorismus aus Einbahnstraße besser deuten:

82 Auf eine ähnliche Haltung scheinen auch Freuds Überlegungen zur Vergänglichkeit hin‑

auszulaufen: «Ich erklärte es für unverständlich, wie der Gedanke an die Vergänglichkeit des Schönen uns die Freude an demselben trüben sollte.« (Freud 1916, 225)

Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden können. (GS IV, 113)

Der Schrecken, der das Subjekt in seiner Selbstreflexion überkommen kann, rührt aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit, des unaufhalt-samen Ablaufs der Zeit. Wenn man von Kants transzendentaler Ästhetik ausgeht, heißt »seiner selbst innewerden« übrigens nichts anderes, als die reine Anschauungsform der Zeit festzustellen, die den »inneren Sinn«

ausmacht. Die Entdeckung der eigenen Zeitlichkeit bringt die unheimliche Offenbarung der eigenen Vergänglichkeit, d. h. der eigenen unumstößlichen Sterblichkeit mit sich. Nur wenn die Zeitlichkeit nicht als bedrohliches Hindernis bzw. als Verhängnis, sondern als zu erkundender Spielraum erlebt wird, dessen Rhythmus Vergängnis heißt, nur dann wird man glücklich sein.

Die von Benjamin an mehreren Stellen evozierte Dialektik des Glücks kennt zwar keine Synthese, doch immerhin eine fruchtbare intensive Steigerung, wie wir in der zweiten Fassung seiner autobiographischen Skizze Agesilaus Santander (1933) beobachten können. Der neue Engel, dem in diesem Text eine wesentliche Rolle in seiner ständigen Präsenz als alter ego zugeschrieben wird, »will das Glück: den Widerstreit, in dem die Verzückung des Einmaligen, Neuen, noch Ungelebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten liegt«. (GS VI, 523) Aufgrund des bisher Ausgeführten wird man in diesen Zeilen eine prägnante Beschreibung des ungewollten Eingedenkens deutlich erkennen.

Es sei schließlich daran erinnert, dass die Erkenntnis des »Echten«

in der Vorrede zum Trauerspielbuch eine ähnliche Verschmelzung von Einmaligem und »Nocheinmal« aufweist:

Das Echte – jenes Ursprungssiegel in den Phänomenen – ist Gegenstand der Entdeckung, einer Entdeckung, die in einzigartiger Weise sich mit dem Wie‑

dererkennen verbindet. (GS I, 227)

Auch in diesem Falle verschränken sich ›erstes Mal‹ und ›noch einmal‹

auf fruchtbare Weise: »das Moment der Einmaligkeit und der Wieder-holung […] bedingen« einander (936). Nun kann man in der Recherche die literarische Einlösung dieser höchst anspruchsvollen philosophischen Forderung erblicken. Auf einen Begriff zurückgreifend, den Benjamin in einem anderen Kontext zur Sprache gebracht hat, ließe sich Prousts Meisterwerk als die »Realisierung« des Eingedenkens darstellen. So liest man in der Kurzprosa »Gut schreiben«:83

83 Am 16. Februar 1934 wurde dieses Stück, als einziges der Kleinen Künst-Stücke, unter dem Titel »Der gute Schriftsteller« in der Schweizerischen Zeitschrift Der öffentliche Dienst veröffentlicht (GS IV, 429).

Der gute Schriftsteller sagt nicht mehr als er denkt. Und darauf kommt viel an. Das Sagen ist nämlich nicht nur der Ausdruck sondern die Realisierung des Denkens. So ist das Gehen nicht nur der Ausdruck des Wunsches, ein Ziel zu erreichen, sondern seine Realisierung. Von welcher Art aber die Realisierung ist:

ob sie dem Ziel präzis gerecht wird oder sich geil und unscharf an den Wunsch verliert – das hängt vom Training dessen ab, der unterwegs ist. (GS IV, 435) Wie die letzten Seiten von der Recherche deutlich zeigen, ging es Proust nicht bloß darum, seinen Erinnerungen einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, sondern vielmehr darum, die Potenz der mémoire involontaire zu befreien und sprachlich zu realisieren.

Das Zitat als sprachlicher Schauplatz des