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Das Zitat als sprachliche Form des Eingedenkens

Kraus als monumentale Gestalt

4.4. Das Zitat als sprachliche Form des Eingedenkens

Der »Unmensch«, der im Mittelpunkt des dritten Abschnitts des Kraus-Essays steht, stellt keineswegs eine im Hegelschen Sinne dialektische Synthese von »Allmensch« und »Dämon« dar, sondern kann  – wie im Folgenden argumentiert wird  – als Figur einer destruktiven Affirmation des Ursprungs als Medium bzw. des Mediums als dynamischer Ursprung betrachtet werden. Geradezu definitorisch formuliert Benjamin: »Der Un-mensch ist die Überwindung des mythischen Menschen (und daher Engel)«

(GS II, 1106). »Überwindung« will allerdings nicht als Aufhebung verstan-den werverstan-den: Ihr Kennzeichen heißt Destruktion, nicht Aufbewahrung des Negierten. Weder die starre Treue des Allmenschen der ungeschichtlichen Schöpfung gegenüber, noch die dämonische Verstrickung mit der Sphäre des Rechts können dazu beitragen, der Technik gerecht zu werden, um eine reale »menschliche Emanzipation« (364) zu ermöglichen.57 Statt

57 Dass für Benjamin die menschliche Emanzipation ohne die Herausarbeitung eines neuen Verhältnisses zur modernen Technik undenkbar ist, belegen zahlreiche Stellen aus seinen Schriften, z. B. das Stück »Zum Planetarium«, das Einbahnstraße abschließt. In Erfahrung und Armut beruft er sich bezeichnenderweise auf Paul Scheerbart, der sich dafür interes‑

siert hat, »was unsere Teleskope, unsere Flugzeuge und Luftraketen aus den ehemaligen Menschen für gänzlich neue sehens‑ und liebenswerte Geschöpfe machen« (GS II, 216).

So heißt es auch im Kraus‑Essay: »Der Durchschnitteuropäer hat sein Leben mit der Technik nicht zu vereinen vermocht, weil er am Fetisch schöpferischen Daseins festhielt.«

den vergeblichen Willen zu behaupten, »[d]ie bürgerlich-kapitalistischen Zustände zu einer Verfassung zurückzuentwickeln, in welcher sie sich nie befunden haben« (363), statt »dem Phantom des unpolitischen oder ›na-türlichen‹ Menschen« (364) nachzuhängen, gilt es also sich aktiv für einen

»Befreiungskampf« bzw. »eine materialistische Befreiung vom Mythos«

(365) einzusetzen. Bei dieser Befreiung steht der Unmensch Pate, in dem Benjamins mimetische Kritik an Kraus zu ihrem Höhepunkt kommt. So schildert er Kraus’ Abwendung vom klassischen zum realen Humanismus hin, d. h. den sprunghaften Übergang vom allmenschlichen Kredo hin zu einem »politischen[] Kredo« (365).

Auch diese letzte, entscheidende Wende im Essay kann vom Kier-kegaardschen Gesichtspunkt des Verhältnisses aus beleuchtet werden.

Diesmal wird allerdings der Begriff ›Verhältnis‹ mit Marx materialistisch aufgewertet. Die Anerkennung der grundlegenden Rolle der ›Verhältnisse‹

bildet bekanntlich den Ausgangspunkt des historischen Materialismus, nach dem das menschliche Wesen nichts anderes als »das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ist.58 Erst die Destruktion des bürgerlichen Individuums – und seiner schwerwiegenden Voraussetzungen, die auf die griechischen Ursprünge der abendländischen Metaphysik zurückzuführen sind – ermöglicht aber den Zugang zum »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«.

In seinen kurzen Prosastücken Der destruktive Charakter (1931) und Erfahrung und Armut (1933),59 deren enge theoretische Verbindung mit dem Kraus-Essay auf der Hand liegt, hat Benjamin die Überwindung des bürgerlichen Individuums als Sprengung des »Intérieurs« am anschaulichs-ten geschildert. Denn das Intérieur nötigt »den Bewohner, das Höchstmaß von Gewohnheiten anzunehmen, Gewohnheiten, die mehr dem Intérieur, in welchem er lebt, als ihm selber gerecht werden«. (GS II, 217) Der

de-(367) Außerdem plädiert Benjamin – diesmal in den »Paralipomena« – für eine »Solida‑

risierung der Kreatur mit der zerstörenden Natur. Sie ist es, die das neue Verhältnis zur Technik schafft« (1106). Bezeichnenderweise sah Benjamin im Krieg nichts anderes als die fürchterlichste Folge dieses fehlenden Verhältnisses zur Technik, d. h. der Tatsache,

»daß die Gesellschaft nicht reif genug war, sich die Technik zu ihrem Organ zu machen, daß die Technik nicht ausgebildet genug war, die gesellschaftlichen Elementarkräfte zu bewältigen« (GS I, 507).

58 Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Dietz Verlag, Berlin, 1990, 5 ff.

59 Der destruktive Charakter (GS IV, 396−398) erschien am 20. November 1931 in der Frankfurter Zeitung (in den von Tillman Rexroth bereitgestellten Anmerkungen der GS findet man auch die wichtigen »Notizen über den ›destruktiven Charakter‹«, ebd., 999−1001). Für den Artikel Erfahrung und Armut (GS II, 213−19), der in der Prager Zeitung Die Welt im Wort vom 7. Dezember 1933 veröffentlicht wurde, konnte man bislang kein sicheres Entstehungsdatum ausmachen. Detlev Schöttker (1999, 196) nimmt an, dass er »zwei Jahre zuvor«, d. h. 1931, verfasst wurde.

struktive Charakter – sowie der mit ihm eng verwandte Unmensch – stellt dagegen die Überwindung des »Etui-Menschen« dar:

Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui‑Menschen. Der Etui‑Mensch sucht seine Bequemlichkeit, und das Gehäuse ist ihr Inbegriff. Das Innere des Gehäuses ist die mit Samt ausgeschlagene Spur, die er in die Welt gedrückt hat.

Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der Zerstörung. (GS IV, 397 f.)60

In seinem bequemen Intérieur bildet sich das bürgerliche Individuum ein, schöpferisch zu sein.61 Dagegen haben Kraus und seine gleichsam barbarischen Mitstreiter (besonders Adolf Loos)62 diesen Anspruch aufs schärfste verworfen, um mit destruktiven Verfahren experimentierfreudig umzugehen. Denn »[a]llzulange lag der Akzent auf dem Schöpferischen«

(GS II, 366).63 Als sprachliches Pendant zur Destruktion gilt Benjamin das Zitat, in dessen Verwendung sich der Übergang von Kraus’ »reaktio-närer Theorie« zu seiner »revolutionären Praxis« (342) am deutlichsten zeigt.64 Revolution heißt für Benjamin profane Erlösung. Mit Recht wurde diesbezüglich bemerkt, das Zitat nehme »im Verhältnis zur Sprache eine vergleichbare Stellung ein wie die Erlösung im Verhältnis zur Historie«.65

Um den tiefen Zusammenhang von Zitat, Eingedenken und Erlösung aufzuklären, müssen die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen ana-lysiert werden, auf die der Begriff des Zitats verweist. Im Zitieren geht nämlich eine komplexe Operation vor sich, in der Benjamin drei Momente hervorhebt: das Aufrufen eines Wortes »beim Namen« (362), das

zerstö-60 In einem überlieferten Manuskript Benjamins zum destruktiven Charakter ist der Bezug auf die Überwindung des Dämons explizit: »Der destruktive Charakter hat nichts mit dem dekadenten und ebenso wenig mit dem dämonischen zu tun. Ihm kommt es nicht auf private Abenteuer an sondern nur auf die Gewißheit, daß er nicht einen Augenblick ohne geschichtlichen Auftrag lebt.« (GS IV, 1000) Für einen ausführlichen Kommentar zu Der destruktive Charakter vgl. Wohlfarth 1978b.

61 Für eine philosophische Kritik des bürgerlichen Intérieurs vgl. auch Adorno 1933, 61−69.

62 Die Erfahrungsarmut wird von Benjamin auch als »eine Art von neuem Barbarentum«

bezeichnet, und zwar mit der ausgesprochenen Absicht, »einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen« (GS II, 215).

63 Die scharfe Kritik gegen die Vorstellung des Künstlers als Schöpfer wurde von Benjamin zunächst durch seine Auseinandersetzung mit George und dem George‑Kreis herausgear‑

beitet: Man denke an seinen Verriss von Gundolfs Buch über Goethe im Wahlverwandt-schaften‑Essay (GS I, 157−164). Noch im Kunstwerk‑Aufsatz (1936) betont Benjamin den »Kampfwert« seiner Thesen, die es darauf absehen, »eine Anzahl überkommener Begriffe – wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Stil, Form und Inhalt – beiseite[zusetzen]« (473).

64 Bei Kraus findet man laut Benjamin »das seltsame Wechselspiel zwischen reaktionärer Theorie und revolutionärer Praxis« (GS II, 342).

65 Weigel 2008, 48. Zu Recht bemerkt Schulte dazu: »[D]ie im Essay begründete Zitattheorie reformuliert eines der verstecktesten Motive des frühen Sprachaufsatzes: das Motiv der Exzitation des richtenden Wortes« (2003, 39).

rende Herausbrechen oder Herausreißen des aufgerufenen Wortes »aus dem Zusammenhang« (363) und schließlich das Zurückrufen des zitierten Wortes »zurück an seinen Ursprung« (ebd.). Wie wir sehen werden, kann man eine tiefe Analogie zwischen Zitat und Eingedenken aufweisen, in-dem man auch beim Letzteren eine ähnliche Struktur beobachten kann.

Übrigens war Benjamin selber ein leidenschaftlicher Zitaten-Sammler, wie das Trauerspielbuch und die Passagenarbeit paradigmatisch zeigen.66

Zunächst lohnt es sich auf die Etymologie einzugehen: ›Zitat‹ stammt aus dem lat. ›citare‹, ein Intensivum von ciere (gr. kineo), i. e. ›in Bewegung setzen‹. Ursprünglich wird das Wort ›citare‹ »vor allem als juristischer Terminus gebraucht: jemanden vorladen (vor Gericht), aufrufen (um die Anwesenheit festzustellen), in seltenen Fällen jedoch auch: jemanden als Zeugen oder Gewährsmann namentlich anführen, nennen, sich auf jemanden oder einen Text berufen, eine Äußerung anführen«.67 Damit stößt man auf eine erste semantische Schicht des Zitats: seinen juristischen Hintergrund, mit dem offensichtlich die Motive der Anklage und des Welt-gerichts bei Kraus zusammenhängen. Jede Ausgabe der Fackel lässt sich als Schauplatz eines Prozesses beschreiben, auf dem die Sprache die ewig neue Verurteilung der immer gleichen journalistischen Phrase durchsetzt:

Man begreift seine »Sprachlehre« nicht, erkennt man sie nicht als Beitrag zur Sprachprozeßordnung, begreift das Wort des anderen in seinem Munde nur als corpus delicti und sein eigenes nur als das richtende. Kraus kennt kein System.

Jeder Gedanke hat seine eigene Zelle. Aber jede Zelle kann im Nu, und scheinbar durch ein Nichts veranlaßt, zu einer Kammer, einer Gerichtskammer werden, in welcher dann die Sprache den Vorsitz hat. (349)

In Kraus’ äußerst eigenartiger »Sprachprozeßordnung« gilt nicht das Recht bzw. das Gesetz als oberste richtende Instanz, sondern die Sprache:

Sie hat ja »den Vorsitz« und als Zeugen zitiert sie – im Sinne des recht-lichen Vorladens  – nichts anderes als Zitate, die ja als »Requisiten von mimischen Entlarvungen durch den Zitierenden« (347) fungieren. Damit begegnet man einer grundlegenden, genuin jüdischen Voraussetzung, die

66 Über die im Trauerspielbuch angewandte »tollste Mosaiktechnik« vgl. den Brief an Scho‑

lem vom 22. Dezember 1924, in dem Benjamin seine Überraschung darüber ausdrückt,

»daß, wenn man so will, das Geschriebne fast ganz aus Zitaten besteht« (GB II, 508). An Benjamin als besessenen Zitaten‑Sammler erinnert sich Hannah Arendt: »Jedenfalls war nichts für ihn in den dreißiger Jahren charakteristischer als die kleinen, schwarzgebundenen Notizbüchlein, die er immer bei sich trug und in die er unermüdlich in Zitaten eintrug, was das tägliche Leben und Lesen ihm an ›Perlen und Korallen‹ zutrug, um sie dann gelegentlich wie Stücke einer erlesen kostbaren Sammlung vorzuzeigen und vorzulesen.«

(Arendt 1968, 92)

67 Roland Kany, Stichwort ›Zitat‹ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, S. 1343 (Hervorhebung S. M.). Dazu bemerkt Manfred Voigts (2000, 836): »Benjamin nimmt die ursprüngliche Bedeutung des Wortes citare: vor Gericht laden auf.«

Benjamin und Kraus gemeinsam ist: die Gleichstellung von Sprache und Gerechtigkeit, bzw. die Auffassung der Sprache als »Mater der Gerechtig-keit« (363).68 Hingegen beruht das Recht, wie oben ausgeführt, auf der Abstraktion, mithin auf der dämonischen Zweideutigkeit eines aus dem medialen Verhältnis herausgetretenen Wissens.

Das Verb ›Rufen‹ und alle aus ihm gebildeten Komposita verweisen auf die Sphäre des Namens. So heißt es im frühen Sprachaufsatz: »Der Name ist […] nicht allein der letzte Ausruf, er ist auch der eigentliche Anruf der Sprache.« (145) Das rechtliche Zitieren als Aufrufen bildet demzufolge eine einheitliche semantische Reihenfolge mit dem Ausruf und dem Anruf, in der letzten Endes das mediale Verhältnis des Menschen zum Namen aufgeht.

»Ein Wort zitieren heißt es beim Namen rufen.« (362) Die eigentüm-liche Operation, die den Ausgangspunkt des Zitierens ausmacht, besteht somit darin, aus einem Wort bzw. einem sprachlichen Gebilde einen Namen zu machen. Das Zitieren isoliert im sprachlichen Kontinuum ein Fragment, indem Letzteres aufgerufen wird. Etwas ähnliches geht bei der Herbei-führung von Beispielen vor sich:69 Indem man z. B. das lat. Nomen ›rosa‹

in seinen verschiedenen Deklinationsfällen zitiert, erscheint ›rosa‹  – wie von den Anführungszeichen bzw. der Kursivschrift signalisiert – nicht als einfacher Name, der ein bestimmtes Ding bezeichnet, sondern als Name des Namens^bzw. als Name, der sich selbst in seinem Funktionieren zeigt.

Wie der Name ist das Zitat »dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt«. (144) In diesem Sinne ist das Zitat nicht bloß ein Element, sondern eher ein Verhältnis, denn in ihm ruft man keinen Inhalt, sondern die Sprache als Medium auf: »Man kann den Namen als die Sprache der Sprache bezeichnen (wenn der Genetiv nicht das Verhältnis des Mittels, sondern des Medi-ums bezeichnet).« (144 f.) Diese letzte Unterscheidung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Von ihr hängt das Verständnis von Benjamins Ansatz ab.70 Steht im landläufigen Begriff des Zitats »das Verhältnis des

68 Die zwei Stellen des Essays, an denen diese These zur Sprache gebracht wird, lauten folgendermaßen: »[A]uch [Kraus bleiben] Gerechtigkeit und Sprache ineinander gestiftet […]. Das Bild der göttlichen Gerechtigkeit als Sprache – ja in der deutschen selber – zu verehren, das ist der echte jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons zu sprengen sucht.« (349) Weiter: »Im rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit.« (363)

69 Über die Logik des Beispiels als ›Paradigma‹ vgl. Agamben 2008a.

70 Es scheint, dass Manfred Voigts gerade diese Unterscheidung vernachlässigt, wenn er fragt: »Wer ist der aktive Teil, das Zitat in seiner innersprachlichen Geschlossenheit oder der Zitierende, der immer auch außersprachliche Zwecke verfolgt?« (2000, 839) Viele von den angeblichen Widersprüchen, die sich nach Voigts durch Benjamins angedeutete Zitattheorie hindurchzögen, lösen sich, um sich in fruchtbare polare Spannungen zu

Mittels« im Vordergrund, d. h. die Vorstellung, nach der der Zitierende die Zitate als Mittel zu seinen eigenen Zwecken einsetzt und ausnützt, so erscheint das Zitat dagegen bei Benjamin als Aufruf der Sprache als Medium: als »Sprache der Sprache« im Sinne eines Ausdrucks, der sich nicht auf die Sprache als Gegenstand bezieht, sondern in dem sich die Sprache als Medium offenbart.

Damit komme ich zum zweiten Moment, d. h. zu einer weiteren Schicht des Zitierens, die spezifisch mit seiner textuellen Dynamik und mit sei-ner Wirkung auf den Text zusammenhängt. Diesen Effekt beschreibt ein Aphorismus aus Einbahnstraße aufs anschaulichste:

Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen. (GS IV, 138)

Das Denkwürdige an Zitaten liegt nicht zuletzt daran, dass sie zwei Monologe unterbrechen, um sie aufeinander stoßen zu lassen. Mag der Zitierende einen durchaus instrumentellen Einsatz von fremden Wörtern im Sinn haben, so stellt ein Zitat als solches den Einbruch einer fremden Stimme in das Gewebe des geschriebenen Textes bzw. der mündlichen Rede dar, wobei tatsächlich, um eine Wendung Benjamins zu variieren, etwas jenseits des Zitierenden dem Gesagten ins Wort fällt.71 Gegen die verbreitete Auffassung meint Benjamin also, Zitate gälten nicht so sehr als autoritative Mittel zum Zweck des Überzeugens, sondern erwiesen sich ganz im Gegenteil als Zäsuren, in denen die eigenen Überzeugungen ins Schwanken gerieten. Kraus’ Unternehmen ist in dieser Hinsicht exempla-risch: Sieht es die Presse täglich darauf ab, Meinungen, i. e. Überzeugungen massenweise herzustellen, so gelingt es Kraus mit seiner Fähigkeit, »selbst die Zeitung zitierbar zu machen« (GS II, 363), die künstlich hergestellten Meinungen in ihrer Unechtheit zu entlarven.

Technisch geht es bei dieser zweiten Schicht um ein gewalttätiges He-rausreißen bzw. -brechen. Das destruktive Moment steht hier im Vorder-grund: Im Zitieren vollzieht man einen Gestus, der sich programmatisch

verwandeln, sobald man den Kraus‑Essay vor der Folie des frühen Sprachaufsatzes liest.

Fest steht, dass die Intentionen des Zitierenden in Benjamins Ausführungen deswegen keine Rolle spielen, weil es sich im Kraus‑Essay u. a. darum handelt, die dämonische Selbstbespiegelung des Subjekts zu überwinden. Diesbezüglich hat Josef Fürnkäs (1987, 217) zutreffend bemerkt: »Im Zitat ereignet sich der Tod der Intention, erscheint das Ausdruckslose: Einerseits wird es aus seinem instrumentellen Zusammenhang gerissen, damit dessen Wirken, dessen Intention unterbrochen, zum Stillstand gebracht; andererseits wird auch die Intention des Zitierenden unterbrochen, tritt hinter die Autorität des Zitats zurück. Das Zitat spricht für sich, läßt Wahrheit bruchstückhaft aufblitzen, verweisend auf den Endzustand einer erlösten Sprache.«

71 An einer berühmten Stelle über die Zäsur im Wahlverwandtschaften‑Essay ist die Rede davon, dass »etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort fällt« (GS I, 182).

von jedem Anspruch auf ›Schöpfertum‹ verabschiedet hat, da man ja einen schon vorliegenden Ausdruck wieder aufnimmt und reproduziert. Nicht von ungefähr zählt die »Selbstbescheidung« (367) zu den charakteristi-schen Merkmalen des Unmencharakteristi-schen.

Inwiefern das Herausbrechen des zu zitierenden Teils aus einem Ganzen gewalttätig sein kann, zeigt am deutlichsten Benjamins eigenes zitierendes Verfahren mit den Texten Kraus’. Wenngleich es unbestreitbar ist, dass

»nirgends […] Benjamin der Auswahl von Textstellen und der Anordnung von Motti größere Aufmerksamkeit gewidmet« hat,72 so muss man beto-nen, dass alle drei von Benjamin angeführten Motti und nicht wenige Zitate im Text durch Weglassungen bzw. nicht signalisierte Eingriffe stark entstellt sind.73 Im Zitat hat man es nicht mit einem getreuen Abbild des Originals zu tun, sondern mit einer entstellenden Sprengung des Zusammenhangs, die sich gegen jede Kontrolle sträubt, um ihre nomadisch-verfremdenden Effekte zu entfalten.

Schließlich spielt eine dritte Bedeutung beim Zitieren eine entscheidende Rolle: Es handelt sich um jenes ›zurück an den Ursprung Rufen‹, das als die eigentliche geschichtsphilosophische Leistung des Zitierens erscheint.

Demnach können Zitate als Vektorpfeile im Text bzw. in der Rede ange-sehen werden, die den Text nicht nur intertextuell mit anderen Texten,74 sondern mit der Geschichte kollidieren lassen. Mit diesem dritten Moment kommt Benjamins Theorie des Zitats zu ihrer Klimax: Das Aufrufen und das Herausreißen finden erst in dem Zurückrufen ihren vollen Sinn: »Vor der Sprache weisen sich beide Reiche  – Ursprung so wie Zerstörung  – im Zitat aus.« (363) Der allmenschliche Glauben an die paradiesische Natur als an einen von der Geschichte unangetasteten Ursprung erfährt damit seine radikale Überwindung. Es handelt sich insofern um einen dialektischen Umschlag, als die Natur von Benjamin als Kraftfeld gedacht wird, in dem zwei entgegengesetzte Pole am Werk sind: einerseits ein schöpferischer, andererseits aber ein zerstörerischer. Nachdem Kraus »die Vergeblichkeit seines Unternehmens« – i. e. der Versuch, seine eigene Klasse zu ändern – eingesehen hatte, »legte er die Sache wieder in die Hände der Natur zurück: diesmal der zerstörenden, nicht der schöpferischen« (365), was Benjamin mit Versen aus Kraus’ Gedicht »Gebet an die Sonne von Gibeon« eindrücklich belegt.

72 Alexander Honold, in Lindner 2006, 533.

73 Für ein Beispiel von Weglassung vgl. Schultes Analyse des ersten Mottos (2003, 57).

Auch im Falle des dritten Mottos hat Benjamin »den ursprünglichen Vers […] nicht nur halbiert, sondern auch den zitierten Satzteil derart verfremdet, daß er als geschlossener Aussagesatz erscheint.« (101)

74 Vgl. Kristeva 1969, 85.

Wie erklärt sich aber dieser enge Zusammenhang von Zerstörung und Ursprung? Inwiefern kann der Ursprung als zerstörerisch bezeichnet werden? Wie wir wissen, ruft das Zitat »das Wort beim Namen auf, […]

eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung« (363).

Das heißt aber: Im Zitieren als einem Bei-Namen-Rufen gewinnt der Name seinen Vorrang vor der mitteilenden Rede zurück. In diesem Sinn kann man in den Anführungszeichen, die das Zitat umzäunen, so etwas wie »Putten«75 erblicken, welche die Rede erlösen, indem sie sie »aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes« (363) aufstören.76 Deshalb besteht Benjamin auf der unauflöslichen Verschränkung von Rettung und Zerstö-rung im Zitat. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Widerspruch, wie Manfred Voigts meint,77 sondern um eine schlichte Feststellung: Wenn man die Sprache von ihrer verheerenden »Verknechtung […] im Geschwätz«

(154) befreien will, stellt sich die unumgängliche Aufgabe einer Auflo-ckerung des Kontinuums der mitteilenden Rede. Schließlich kommt es Benjamin darauf an, sich einen Zugang zur Sprache als mediales Verhältnis zu erschließen. Der ›Ursprung‹, von dem er redet, ist kein chronologischer Anfang, keine auf eine unvordenkliche Urzeit zurück zu datierende Quelle, keine die Welt und die Geschichte aus sich herausbringende Schöpfung aus dem Nichts.78 Was Benjamin anvisiert, ist nämlich der Versuch, »eine Konzeption von Geschichte zum Ausdruck zu bringen, in der der Begriff der Entwicklung gänzlich durch den des Ursprungs verdrängt wäre«. (GS VI, 442 f.) Wenn aber der Ursprung keine Entwicklung in Gang setzt,

(154) befreien will, stellt sich die unumgängliche Aufgabe einer Auflo-ckerung des Kontinuums der mitteilenden Rede. Schließlich kommt es Benjamin darauf an, sich einen Zugang zur Sprache als mediales Verhältnis zu erschließen. Der ›Ursprung‹, von dem er redet, ist kein chronologischer Anfang, keine auf eine unvordenkliche Urzeit zurück zu datierende Quelle, keine die Welt und die Geschichte aus sich herausbringende Schöpfung aus dem Nichts.78 Was Benjamin anvisiert, ist nämlich der Versuch, »eine Konzeption von Geschichte zum Ausdruck zu bringen, in der der Begriff der Entwicklung gänzlich durch den des Ursprungs verdrängt wäre«. (GS VI, 442 f.) Wenn aber der Ursprung keine Entwicklung in Gang setzt,