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Profane Typologie oder das Vergangene als ›forma futuri‹

»im Augenblick des Eingedenkens«

5.4. Profane Typologie oder das Vergangene als ›forma futuri‹

Wie ultraviolette Strahlen zeigt Erinnerung im Buch des Lebens jedem eine Schrift, die unsichtbar, als Prophetie, den Text glossierte.

(Walter Benjamin) Schon 1973 hat Peter Szondi auf die Eigentümlichkeit von Benjamins Kindheitserinnerungen nachdrücklich hingewiesen, indem er einen inte-ressanten Vergleich mit Prousts Recherche anstellte:

Proust sucht die Vergangenheit, um in deren Koinzidenz mit der Gegenwart – einer Koinzidenz, die analoge Erfahrungen herbeiführen – der Zeit zu entrinnen, und das heißt vor allem: der Zukunft, ihren Gefahren und Drohungen, deren letzte der Tod ist. Benjamin dagegen sucht in der Vergangenheit gerade die Zukunft. Die Orte, zu denen sein Eingedenken zurückfinden will, tragen fast alle (wie es einmal in der Berliner Kindheit heißt) die Züge des Kommenden.

Und nicht zufällig trifft seine Erinnerung eine Gestalt der Kindheit im Amt des Sehers, der das Künftige voraussagt. Proust horcht auf den Nachklang der Vergangenheit, Benjamin auf den Vorklang einer Zukunft, die seitdem selbst zur Vergangenheit geworden ist. […] Der Dichter des déjà vu [Proust, S. M.] ist auf der Suche nach jenen Augenblicken, in denen die Erlebnisse der Kindheit wieder aufleuchten: so muß er ein ganzes Leben erzählen. Benjamin dagegen kann vom Späteren absehen und sich der Beschwörung jener Augenblicke der Kindheit widmen, in denen ein Vorklang der Zukunft sich verbirgt.69

Auf der Basis unserer Lektüre des Proust-Aufsatzes70 erweist sich Szondis Deutung in vielerlei Hinsicht als fragwürdig. Zunächst einmal scheint Szondi die immerhin wesentliche Tatsache zu vernachlässigen, dass die mémoire involontaire Proust nicht zur Versenkung in eine träge Sehn-sucht nach der verlorenen Vergangenheit geführt hat, sondern zur un-ermüdlichen, geradezu titanischen Arbeit an seinem Meisterwerk. Das heißt aber: Die von Proust gesuchte Vergangenheit erschließt ihm die Zukunft als zeitlichen Horizont, in dem sein Unternehmen verwirklicht werden kann, und zwar ohne die geringste Rücksicht auf seine eigene Gesundheit.71 Wie Benjamin in Zum Bilde Prousts betont, war der Autor der Recherche als »vollendeter Regisseur seiner Krankheit« (GS II, 322) seines heranrückenden Todes vollkommen bewusst:

69 Szondi 1973, 285 f., 287.

70 S. o. Kapitel 2.

71 Vgl. auch Anna Stüssis Kritik an Szondi: »Zukunft ist nicht nur verloren in der Vergan‑

genheit, die Begegnung mit ihr im Erinnern führt zugleich zum Choc, der vorwärtstreibt in die Nähe ihrer Realisierbarkeit. […] Auch Prousts Erinnerung führt nicht nur auf den Nachklang der Vergangenheit, sondern in ihr auf die Spuren einer unbekannten Zukunft.«

(1977, 249)

Dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen, wenn nicht seine Kunst es ge‑

schaffen hat. Seine Syntax bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese seine Erstickungsangst nach. Und seine ironische, philosophische, didaktische Reflexi‑

on ist allemal das Aufatmen, mit welchem der Alpdruck der Erinnerungen ihm vom Herzen fällt. In größerem Maßstab ist aber der Tod, den er unablässig, und am meisten wenn er schrieb, gegenwärtig hatte, die drohende, erstickende Krise. So stand er Proust gegenüber und lange, bevor sein Leiden kritische Formen annahm. Dennoch nicht als hypochondrische Grille, sondern als ›réa‑

lité nouvelle‹, jene neue Wirklichkeit, von der der Reflex auf Dingen und auf Menschen die Züge des Alterns sind. (323)

Was die Recherche kennzeichnet, wäre demzufolge der ständige Umgang mit dem Tod, keineswegs der Versuch, ihm zu entrinnen. An dieser Stelle muss aber eine weitere bedeutsame Einsicht Benjamins hervorgehoben werden: Durch das Schreiben beabsichtigt Proust nicht, seine Erinnerungen zu verewigen, sondern ihren »Alpdruck« (ebd.) los zu werden, d. h. sie zu verabschieden. Mutatis mutandis gilt das auch für Benjamin: Mit seinen Aufzeichnungen versucht er nicht nur, eine Selbstimpfung gegen Sehn-suchtsanfälle anzustellen, sondern auch, sich »die Last vom Rücken« (438) zu nehmen. Er sucht nicht »in der Vergangenheit gerade die Zukunft«, wie Szondi schreibt, sondern in der Befreiung der in der Vergangenheit schlummernden Potenzialität einen Zugang zur Gegenwart.

Damit komme ich zu einem zweiten Argument, das Szondis These stark relativiert: In ihrer auf der Hand liegenden Verschiedenheit teilen Prousts Roman und Benjamins Kurzprosastücke ein gemeinsames Anliegen. In bei-den Fällen erweist sich das Erschließen eines Zugangs zur entstellten Welt der Kindheit als Einsatz ihres streng antipsychologischen eingedenkenden Schreibens. Ihre Ariadne ist ein eigentümliches Heimweh »nach der im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre sürrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt« (314). Nicht von ungefähr verwendet Benjamin in seinen Erinnerungen dasselbe Bild vom Strumpf wieder, das er zuerst in Bezug auf Proust herausgearbeitet hatte.72

Die Erkundung der entstellten Welt des kindlichen Mimetismus fällt mit der Befreiung der in ihr verborgenen Kräfte bzw. ihrer Potenzialität in eins. So laufen Prousts und Benjamins Erinnerungen nicht so sehr auf die Konstruktion eines eigenartigen Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Zukunft, als vielmehr darauf, die Gegenwart durch den plötzlichen, geradezu schockartigen Einbruch eines vergessenen Moments aus der Vergangenheit zu wecken. Demzufolge erscheint das unwillkürliche Ein-gedenken sowohl bei Proust als auch bei Benjamin als Offenbarung der

72 Vgl. »Schränke« (GS IV, 283−287) und – in der »Fassung letzter Hand« – das stark abgekürzte Stück »Der Strumpf« (GS VII, 416−417). Für den Proust‑Aufsatz vgl. GS II, 314.

im Gewesenen auf Erlösung wartenden Zukunft  – eine Auffassung, die schon von Ernst Bloch ausgearbeitet wurde.

Fest steht, dass Benjamin bereits in der Berliner Chronik, vor allem aber in der Berliner Kindheit den prophetisch-typologischen Ansatz viel stärker als Proust geltend macht. Schon im kurzen Vorwort zur Berliner Kindheit schreibt er, die Bilder seiner Großstadtkindheit seien möglicherweise befä-higt, »in ihrem Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren«

(GS VII, 385). Wenngleich vorsichtig formuliert, ist das eine extrem an-spruchsvolle Behauptung, in der das nicht bloß autobiographische, viel-mehr geschichtsphilosophische Anliegen von Benjamins Aufzeichnungen zum Ausdruck kommt. Denn diese Formel besagt mindestens zweierlei:

Zunächst einmal wird der Versuch unternommen, »geschichtliche Erfah-rung« wieder möglich zu machen, und zwar in einer historischen Phase, in der die Erfahrung »im Kurse gefallen« (GS II, 214) ist. Zweifellos schwebte Benjamin weder die problematische Wiederherstellung von vormodernen Lebensformen noch der reaktionäre Rückgriff auf uralte Traditionen (wie z. B. bei Ludwig Klages) vor, bezieht er doch in Erfahrung und Armut eine klare Stellungnahme für ein resolut destruktives, raumschaffendes, nicht nostalgisches Vorgehen: Er hält es ausdrücklich »mit den Männern, die das von Grund aus Neue zu ihrer Sache gemacht und es auf Einsicht und Verzicht begründet haben« (219). Mag es sich um einen Verzicht auf die altehrwürdige, bürgerliche Erfahrung des Bildungshumanismus bzw. des

›Allmenschen‹73 handeln, so heißt das nicht unbedingt, dem ›Unmenschen‹

sei jeder Zugang zur Erfahrung endgültig verschlossen. Noch in den Thesen Über den Begriff der Geschichte hält Benjamin am Begriff der Erfahrung fest, der sich wie ein roter Leitfaden durch seine Schriften hindurchzieht.

Vorbildlich war für ihn Baudelaire nicht zuletzt deswegen, weil es diesem gelang, gerade mit und aus jener sinnlosen Folge von Schocks, die das Leben in einer Großstadt darstellt, eine Erfahrung zu machen.74

Das paradoxe Unternehmen Benjamins besteht dementsprechend da-rin, den Schock zur Gelegenheit einer Erfahrung zu machen. Zu diesem Zweck  – damit komme ich zum zweiten Punkt  – greift Benjamin auf die Kindheit zurück, weil das Kind noch ontogenetisch im Besitz eines wunderbaren mimetischen Vermögens ist, das ihm ermöglicht, einen nicht instrumentellen Umgang mit seiner nach den Grundsätzen der instru-mentellen Vernunft eingerichteten Umwelt zu experimentieren. Dadurch, dass man die kindliche mimetische Aneignung von Dingen und Worten aus der Vergessenheit rettet und wieder aktualisiert, kann man in ihr ein

73 Vgl. den ersten Teil des Essays Karl Kraus (GS II, 334 ff.). Darüber s. o. Kapitel 4.3.

74 S. u. Kapitel 8.

empirisches Vorbild, d. h. einen wertvollen typos ausweisen, in dem eben geschichtliche Erfahrung präformiert wird. Dieses besondere Verb wird von Benjamin wohl nicht im Sinne einer naiven Präformationslehre, son-dern in Anlehnung an Goethes Morphologie eingeführt: In der Kindheit macht Benjamin das ›Urphänomen‹ des Mimetismus ausfindig, dessen Goethesches Vorbild ›Metamorphose‹ heißt.75

Die geschichtliche Erfahrung zu »präformieren«: das ermöglichen die

»Bilder« von Benjamins Großstadtkindheit nicht in dem, was sie erzählen, sondern in ihrem Modus, d. h. in der Art und Weise ihrer eingedenkenden Heraufbeschwörung. Dieser Modus charakterisiert sich dadurch, dass man in ihm nicht psychologisch vom Subjekt ausgeht, sondern vom jeweiligen Medium bzw. von den verschiedenen medialen Verhältnissen, in denen es zu vielfachen Subjektivierungsversuchen kommt.76 Diese Medien heißen Mimesis, sinnliche Wahrnehmung, Farben, Spiel, Liebe, Sprache. Da das Kind mit diesen Medien spielt, sich in sie experimentierfreudig vermummt, anstatt sie zu Mitteln herabzuwürdigen, können die heraufbeschworenen Bilder unsere aktuelle geschichtliche Erfahrung präformieren.

Benjamins Methode kann demzufolge als eine profan-typologische bezeichnet werden. Jeder von ihm evozierte Ort erscheint als Schauplatz von Begegnungen, kleinen Abenteuern und Erlebnissen, die  – nach dem impliziten theologischen Muster einer typologischen Hermeneutik  – als

»forma futuri« (Röm. 5, 14), d. h. als Vorausbildung des Kommenden ausgelegt werden können.77 Ein schlagendes Beispiel dafür bietet jene berühmte Stelle der Berliner Chronik, an der die Erfahrung des Sich-Verirrens in der Stadt beschrieben wird:

Diese Irrkünste [wie man sich in einer Stadt verirrt, S. M.] hat mich Paris ge‑

lehrt; es hat den Traum erfüllt, dessen früheste Spuren die Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Schulhefte waren. (GS VI 469)78

75 Bereits in seiner Dissertation (GS I, 112) weist Benjamin auf Goethes Begriff des Urphä‑

nomens hin, indem er sich auf Elisabeth Rottens (1913) platonisierende Deutung stützt.

Im Wahlverwandtschaften‑Essay setzt er sich weiter mit Goethes Auffassung kritisch auseinander (GS I, 147 f.), und zwar aufgrund folgender These: »Die Urphänomene liegen der Kunst nicht vor, sie stehen in ihr« (148). Zu einer umfassenden erkenntnistheoreti‑

schen Verwertung des ›Urphänomens‹ durch die fruchtbare Vermittlung Simmels kommt es schließlich in der Passagenarbeit (vgl. z. B. N 2 a, 4; GS V, 577).

76 Der Begriff der ›Subjektivierung‹ (subjectivation) steht bekanntlich im Mittelpunkt von Michel Foucaults späten Untersuchungen.

77 Im Römerbrief 5,14 redet Paulus wörtlich von Adam als »typos tou mellontos« (τύπος τοῦ μέλλοντος). Der Passus lautet in der Luther‑Übersetzung folgendermaßen: »Dennoch herrschte der Tod von Adam an bis Mose auch über die, die nicht gesündigt hatten durch die gleiche Übertretung wie Adam, welcher ist ein Bild dessen, der kommen sollte.«

(Hervorheb. S. M.)

78 Vgl. das Stück »Tiergarten« in der Berliner Chronik (GS IV, 237; VII, 393).

Analog zu Paulus’ Deutung der Adamsgestalt wird hier die Gegenwart als Erfüllung einer vergangenen, unbewussten, traumhaften Prophetie aufgefasst. Nach Benjamin bildet die »Gegenwart des Schreibenden«

(471) – die offensichtlich mit dem »Augenblick des Eingedenkens« (488) zusammenfällt – das Medium, »in dem diese Bilder allein sich darstellen und eine Transparenz annehmen, in welcher, wenn auch noch so schleier-haft die Linien des Kommenden wie Gipfelzüge sich abzeichnen« (471). Die konsequente geschichtsphilosophische Durchführung dieser typologischen Einsicht bildet den messianischen Kern der Thesen Über den Begriff der Geschichte. So heißt es in der zweiten These:

Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlö‑

sung verwiesen wird. (GS I, 693)79

Dabei handelt es sich um ein besonders auffälliges Beispiel jener Strategie der Profanierung – nicht Rettung – theologischer, besonders messianisch gefärbter Denkmuster, die als ein Charakteristikum des Benjaminschen Denkens gelten kann. Wie Erich Auerbach überzeugend nachgewiesen hat, geht die figurale Auslegung des Alten Testaments durch die Kirchen-väter auf Paulus’ Briefe zurück.80 Entscheidend ist hier die Fähigkeit des Interpreten, eine Beziehung zwischen zwei verschiedenen, zeitlich und räumlich weit voneinander entfernten Sachverhalten herzustellen. Erst in der »Gegenwart des Schreibenden« erschließt sich der Zugang zu einer unsinnlichen Ähnlichkeit zwischen dem jetzt Festzustellenden und einem vergangenen Moment:

Die Gegenwart des Schreibenden ist dieses Medium. Und aus ihr heraus legt er nun einen anderen Schnitt durch die Folge seiner Erfahrung. Er erkennt eine neue und befremdliche Gliederung in ihnen. (GS VI, 471)

79 Auch unter den Notizen zum Kunstwerk‑Aufsatz liest man folgende typologische Bemer‑

kung: »Die Geschichte der Kunst ist eine Geschichte von Prophetien. Sie kann nur aus dem Standpunkt der unmittelbaren, aktualen Gegenwart geschrieben werden; denn jede Zeit besitzt die ihr eigene neue aber unvererbbare Möglichkeit, die Prophetien zu deuten, die die Kunst von vergangnen Epochen gerade auf sie enthielt.« (GS I, 1046)

80 Vgl. 1. Kor. 10, 6 (týpoi) und 11 (typikôs), Röm. 5, 14 (týpos toû méllontos). Vgl. auch Hebräer 8, 5 und 1. Petr. 3, 21. Das gr. ›týpos‹ wurde im Lateinischen vorwiegend mit

›figura‹ übersetzt: »Das lateinische ›figura‹ (verwandt mit fingere, bilden, formen, gestal‑

ten, mit fictor und effigies) spielt als Übersetzungsbegriff für das im Neuen Testament auftretende griechische Wort ›typos‹ in der lateinischen Patristik eine wichtige Rolle. […]

Als erster benutzt Tertullian ›Figur‹ im Sinne der Realprophetie, d. h. als Vorausdeutung für ein erst später eintretendes Heilsgeschehen. Meist handelt es sich dabei um Personen oder Ereignisse des Alten Testaments, die als Zeichen für ein Erlösungswerk des Neuen Testaments gedeutet werden. Die Vorverkündigung des Alten Testaments wird dadurch eingelöst und erfüllt.« (Ulrich Dierse, Schlagwort ›Figur‹ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt, 1972, S. 947).

An dieser Stelle macht Benjamin klar, worin der Einsatz seiner im Modus einer rückgekehrten Prophetie verfassten Erinnerungen besteht. Ihm geht es nicht darum, die Gegenwart als die notwendige Folge vorausgegangener Ereignissen bzw. als die unentrinnbare Erfüllung gewisser Verheißungen auszulegen. Ganz im Gegenteil setzt Benjamin einen deutlichen Akzent auf die »Gegenwart des Schreibenden« als kontingenten Spielraum für die Herausarbeitung »neue[r] und befremdliche[r] Gliederung[en]« in der eigenen – gleichzeitig individuellen und kollektiven – geschichtlichen Erfahrung.

Demnach sollte man mindestens zwei Phasen in Benjamins Umgang mit dem Eingedenken unterscheiden: Zunächst einmal taucht ein Erinne-rungsbild auf, das eine Art Anspruch auf Entfaltung mit sich bringt. Dieses erste Moment ist das eigentlich Rezeptive, das an die Empfänglichkeit des Subjekts appelliert. Ist Letzteres bereit und aufmerksam genug, sich des aufgetauchten, vorbeihuschenden Bildes zu bemächtigen, dann kann es zu einer zweiten Phase kommen, in deren Verlauf die Verwandlung des Sich-Erinnernden zum Schreibenden stattfindet. Dabei schlägt die ursprüngliche Empfänglichkeit in aktive, sprachlich vermittelte Deutung um. Der aktive Schreibprozess steht zunächst jeder Option offen: Er kann dazu beitragen, das aktuelle Selbstverständnis des Schreibenden durch eine streng teleolo-gische Auslegung des Gewesenen zu bestätigen, oder aber ihn aus seinem Schlaf zu wecken und dazu aufzufordern, »eine neue und befremdliche Gliederung« in seiner Lebensgeschichte aufzuwerfen. Anders gesagt: Bei der Aufwertung einer Erinnerung kommt es hauptsächlich auf die kon-tingenten Affekte an, welche die gegenwärtige Lage charakterisieren. So muss Benjamin in einer am 4. Mai 1931 niedergeschriebenen Tagebuch-aufzeichnung anerkennen, dass die Zuwendung zu seiner Vergangenheit von seiner gegenwärtigen »Müdigkeit« abhängt:

Sie [die Müdigkeit, S. M.] läßt nicht nur manches Vergangene auftauchen; es ist vor allem, daß in solchen Dingen meiner Vergangenheit, die mir jetzt hin und wieder vor Augen stehen, das, was sie zu Momenten gerade meines Lebens machte, sie mir zueignete, deutlich wird, während gerade darauf früher mein Blick nie fiel. Endlich verbindet sich diese Müdigkeit auf seltsame Weise mit dem, was mir die Unzufriedenheit mit meinem Dasein hervorruft. (GS VI, 422) Das ist eine der Fragen, die den Übergang von der passiven zur aktiven Phase des  – sowohl individuellen als auch kollektiven  – Eingedenkens kennzeichnen: Was macht die eben erinnerten Momente »zu Momenten gerade meines Lebens«? Um darauf zu antworten, muss man sich da-rum bemühen, neue Zusammenhänge herzustellen bzw. sich von alten Überzeugungen zu verabschieden. Das eigene Selbstverständnis gerät ins

Schwanken: Das unwillkürliche Eingedenken eröffnet Risse, die eine Art Selbstüberwindung in Gang setzen.81

In Benjamins Kindheitserinnerungen treffen verschiedene Ansätze zusammen: Genealogische Ontogenese des mimetischen Verhaltens, typologisch-figurale Hermeneutik, psychoanalytische Erkundung des Unbewussten und morphologische Signaturenlehre ergänzen einander, um die im Gewesenen schlummernden Kräfte zu Tage zu fördern. Dem-entsprechend erscheint die Gegenwart als Kontraktion-in-Disjunktion von Vergangenheit und Zukunft: In jedem Augenblick ereignet sich die Erfüllung einer vergangenen Figur sowie gleichzeitig eine unscheinbare Prophetie, die auf zukünftige Erfüllung wartet. Im Herzen der Gegenwart wirkt eine dynamische Verschränkung von Antizipation und Wiederho-lung. Die Gegenwart fällt nie mit sich selbst zusammen, ist nie mit sich selbst identisch. Sie ist un-identisch, weil sie die Struktur des typos bzw.

der Spur hat: Repetition als Alteration.82

81 So fasst Roland Kany in seiner Studie Mnemosyne als Programm dieses Verfahren zusam‑

men: »Der Erwachsene begreift erst in der Erinnerung, daß er als Kind ›Wirklichkeit‹ in noch nicht abgestumpfter Weise erfahren hat. Er gewinnt damit eine Erfahrung, die dem Kind verwehrt war, da es um seine Erfahrungsfähigkeit nicht wußte. Die vergangene Ver‑

heißung erweist sich als das Unabgegoltene der vergangenen Zeit, das erst der Erinnernde einzulösen vermag. Wer eine solche Erfahrung macht, wird zugleich ein anderer, als er vorher war: Er erfährt, welche Fähigkeiten in seiner Subjektivität angelegt und einst zum Zuge gekommen sind.« (1987, 216 f.)

82 Auf den engen Zusammenhang von Repetition und Alteration hat Jacques Derrida in seinen Schriften häufig hingewiesen. Er geht von der Annahme aus, das lateinische Wort

›iter‹ stamme aus ›itara‹, d. h. ›anderes‹ auf Sanskrit (vgl. Derrida 1972, 375).