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Grundzüge einer Poetik des Eingedenkens in der Berliner Chronik und in der Berliner KindheitBerliner Chronik und in der Berliner Kindheit

»im Augenblick des Eingedenkens«

5.1. Grundzüge einer Poetik des Eingedenkens in der Berliner Chronik und in der Berliner KindheitBerliner Chronik und in der Berliner Kindheit

Denn nur in Bildern des Gewesenen verwirklicht sich und erscheint die Zeit.

(Ludwig Klages) Das Wort ›Eingedenken‹ begegnet im ganzen Komplex von Benjamins Kindheitserinnerungen  – d. h. in der Berliner Chronik sowie in den ver-schiedenen Überarbeitungen der Berliner Kindheit1 – lediglich ein einziges Mal, doch handelt es sich um einen Passus, dessen Relevanz kaum über-schätzt werden kann, und zwar sowohl in methodologischer als auch in sachlicher Hinsicht:

Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer eine Auto‑

biographie dar. Und dieses hier ist ganz gewiß keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen hier ja einzig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede. Denn wenn auch Monate und Jahre hier auftauchen, so ist es in der Gestalt, die sie im Augenblick des Eingedenkens haben. (GS VI, 488)

Der Raum tritt an die Stelle der Zeit, der Augenblick an die Stelle des Ablaufs und das Unstetige an die Stelle eines stetigen Flusses: Benjamins Kindheitserinnerungen stellen dementsprechend keine den kontinuierlichen Ablauf der Zeit abbildende Autobiographie dar, sondern eine diskonti-nuierliche Reihe von Bildern, die im Eingedenken mittels eines schnellen Schreibprozesses festgehalten wurden. So bezeugt Scholem im Nachwort zur ersten Ausgabe der Berliner Chronik (1970): »Benjamin schrieb die Aufzeichnungen stückweise und zum Teil in außerordentlich schneller und sehr schwer lesbarer Schrift.« (GS VI, 797)

Von daher stellt sich die Frage, warum Benjamin seine Aufzeichnungen in einem anfänglichen Stadium ausgerechnet als Beiträge zu einer ›Chronik‹

1 Die erste Ausgabe der 1932 in Ibiza niedergeschriebenen Berliner Chronik (jetzt in GS VI, 465−519) wurde 1970 von Gershom Scholem und Kitty Steinschneider ediert, wäh‑

rend die Berliner Kindheit um neunzehnhundert schon 1950 von Adorno herausgegeben wurde und jetzt in den Gesammelten Schriften in zwei verschiedenen Fassungen vorliegt:

Nachdem 1972 in Band IV (235−304) die von Adorno veröffentlichte Fassung wieder abgedruckt wurde, erschien 1989 in Band VII (385−433) die sogenannte »Fassung letzter Hand«, an der Benjamin noch 1938 unter dem Titel »Handexemplar komplett« gearbeitet hatte. Im Jahr 2000 wurde schließlich ein früheres Typoskript – die sogenannte »Gießener Fassung«, wohl »zwischen dem 10. Dezember 1932 und Mitte Januar 1933 entstanden«

(GS VII, 721) – separat herausgegeben. Die Berliner Chronik »bildet die Keimzelle der Berliner Kindheit, in die jedoch nur etwa zwei Fünftel des älteren Textes und zudem in grundlegend veränderter Textgestalt Eingang fanden« (Uwe Steiner 2004, 147).

betrachtete.2 Per definitionem stellt ja die Chronik als literarische Form die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge dar. Viel angemessener wäre deshalb ein anderer Titel gewesen, z. B. der im Text in Anlehnung an Léon Daudets Paris vécu (1930) erwähnte: »Gelebtes Berlin« (467).3 Keineswegs um eine ›Chronik‹ handelt es sich im Fall der Berliner Chronik, sondern eher um eine die Chronologie ausschaltende, »materialisierte Gedächtnis-Topographie«4 der von Benjamin bewohnten Stadt.5 Symptomatisch ist in diesem Sinne folgender Einfall Benjamins:

Lange, jahrelang eigentlich, spiele ich schon mit der Vorstellung, den Raum des Lebens – Bios – graphisch in einer Karte zu gliedern. (466)

Ist die Gattung der Autobiographie gewöhnlich subjekt-zentriert, so er-schließt sich im Eingedenken eine stark dezentrierte Perspektive auf das eigene Leben: eine deutliche Verschiebung von der erzählenden, als ›Télos‹

der geschilderten Wechselfälle hingestellten Person hin zu den ›Tópoi‹, zu den verschiedenen, verstreuten und heterogenen Räumlichkeiten. Damit verabschiedet sich Benjamin vom Primat der Innerlichkeit, das die »ganze[]

ehrwürdige[] Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena«6  – und noch weiter bis Husserl und Ernst Bloch7 – begleitet und seine bündigste Formel schon bei Augustinus gefunden hat: »In interiore homine habitat veritas.«8 Mit dem Eingedenken bricht demnach der mit der Erinnerung einhergehende Vorrang der Innerlichkeit zusammen. »Im Augenblick des Eingedenkens« (488) ist das Subjekt nicht der eigenen Innerlichkeit, son-dern der Vergegenwärtigung äußerlicher Umstände, d. h. seiner Lebenswelt ausgesetzt, in der es sich leiblich bewegt. Denn der »Raum des Lebens«

2 Ursprünglich (Oktober 1931) hatte Benjamin den Auftrag erhalten, »für eine Zeitschrift eine Folge von Glossen über alles was mir an Berlin von Tag zu Tag bemerkenswert er‑

scheine in loser, subjektiver Form zu geben« (GS VI, 476). »Der Vorschlag kam von der

›Literarischen Welt‹, mit der Benjamin am 1. Oktober 1931 einen Vertrag geschlossen hatte, der ihn verpflichtete, bis März 1932 im Zeitraum je eines Vierteljahres viermal eine Berliner Chronik von je 200 bis 300 Zeilen zu liefern« (aus den Anmerkungen der Herausgeber, GS VI, 799). Für eine übersichtliche Einführung in den mit diesen Texten zusammenhängenden Themenkomplex vgl. Anja Lemkes Artikel in Benjamin-Handbuch (Lindner 2006, 653−663).

3 Benjamin zählt Daudet zu seinen Vorgängern, »beispielgebend mindestens in dem Titel seines Werkes, der genau umfaßt, was ich bestenfalls hier geben könnte: Paris vécu. Ge‑

lebtes Berlin klingt weniger gut, ist aber gleich wirklich.« (GS VI, 467)

4 Weigel 1997, 31.

5 Auf die bahnbrechende Rolle von Benjamin als »Denker der räumlichen Imagination«

weist auch Karl Schlögel (2003, 128) in seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit hin, das sich als Manifest für eine »Erneuerung der geschichtlichen Erzählung« (ebd., 12) lesen lässt.

6 Rosenzweig 1921, 13.

7 Über Blochs »Metaphysik der Innerlichkeit« vgl. oben Kapitel 1.5.

8 De vera religione 39, 72.

weist eine polare Struktur auf, innerhalb deren Leib und Dinge die viel-fältigsten Beziehungen miteinander eingehen. In diesem Zusammenhang steht die Materialität der Erfahrung im Vordergrund.

So eröffnet Benjamin seine Berliner Chronik nicht zufällig mit der Frage nach der Kunst des Sich-Orientierens durch Straßen, Wege, Brücke, Gärten und Parks, durch »Schilder und Straßennamen, Passanten, Dächer, Kioske oder Schenken« (469), die sich dem Kind wie ein »Labyrinth« (465) auftun.

Diesem nicht selbstverständlichen, manchmal verwirrenden Umgang mit dem urbanen Raum entspricht Benjamins Erkundung des eigenen inneren Raums bzw. seine éducation sentimentale: Auf dieser Entsprechung beruht jener »Raum des Lebens«, den er einmal »in einer Karte zu gliedern« (466) versuchte. So wichtig sind räumliche Umstände und Orte in Benjamins Erinnerungen, dass er nicht umhin kann zu bemerken, »eine wie geringe Rolle in ihnen die Menschen spielen« (490). Das Gedächtnis zeige uns nämlich »weniger die Bilder der Menschen als die der Schauplätze […], an denen wir andern oder uns selber begegneten« (490 f.):

Ich sage mir: es mußte in Paris sein, wo die Mauern und Quais, der Asphalt, die Sammlungen und der Schutt, die Gatter und Squares, die Passagen und die Kioske uns eine so einzigartige Sprache lehren, daß unsere Beziehungen zu den Menschen in der uns umfangenden Einsamkeit, unserm Versunkensein in jene Dingwelt, die Tiefe eines Schlafs erreichen, in welcher das Traumbild sie erwartet, das ihnen ihr wahres Gesicht offenbart. (ebd.)

Diese Gedächtnis-Topographie setzt eine radikale phänomenologische Re-duktion des Zeitablaufs als unendlich fortlaufender Reihe von homogenen Punkten voraus.9 Mit einem theoretischen Gestus, dessen Verwandtschaft mit Bergsons Ausführungen in Matière et mémoire auf der Hand liegt, suspendiert Benjamin den naiven Glauben an die verräumlichte Zeit, indem er den entgegengesetzten Weg einer Verzeitlichung des Raumes einschlägt.

»Im Augenblick des Eingedenkens« erscheint der Raum nicht nur als Ge-genwart dessen, was empirisch da ist, sondern auch als Palimpsest, d. h.

als zu entziffernde Präsenz dessen, was da war  – der Vergangenheit  –, sowie dessen, was möglich ist  – der von jener Vergangenheit heimlich versprochenen Zukunft.

Den erkenntnistheoretischen Hintergrund eines solchen Ansatzes hatte Bergson 1896 in Matière et mémoire – einem Benjamin bekannten

9 Benjamins Relativierung der Chronologie findet ihren paradigmatischen Ausdruck im Stück »Loggien« aus der Berliner Kindheit. Auf den Loggien gewinnt nämlich der Zeit‑

verlauf selbst »etwas Altertümliches«, wie Benjamin feststellt: »Die Zeit veraltete in diesen schattenreichen Gelassen, die sich auf die Höfe öffneten.« (GS IV, 295)

Werk10  – mit der These bereitgestellt, Wahrnehmung und Erinnerung seien unzertrennlich miteinander verbunden:

Nos perceptions sont sans doute imprégnées de souvenirs, et inversement un souvenir […] ne redevient présent qu’en empruntant le corps de quelque perception où il s’insère. Ces deux actes, perception et souvenir, se pénètrent donc toujours, échangent toujours quelque chose de leurs substances par un phénomène d’endosmose.11

Toute perception est déjà mémoire. Nous ne percevons, pratiquement, que le passé, le présent pur étant l’insaisissable progrès du passé rongeant l’avenir.12 Daraus folgt, dass es keine Wahrnehmung des Raumes geben kann, die nicht von vergangenen Wahrnehmungen durchdrungen ist. Oder: keine Gegenwart ohne die Vergegenwärtigung von Spuren, die im Raum, im Leib, in der Sprache und in den Dingen liegen. Davon kann man fast auf jeder Seite der Berliner Chronik einschlägige Beispiele finden.

Bevor wir auf die Analyse einiger Stellen aus Benjamins Kindheits-erinnerungen eingehen,13 lohnt es sich, schematisch die Analogien und Differenzen zu Proust zu erörtern, auf dessen wegweisende Rolle für Benjamins gedächtnistheoretischen Ansatz schon hingewiesen wurde.14 Programmatisch verkündet Benjamin am Anfang der Berliner Chronik seinen »Verzicht auf jedes Spielen mit [Proust] verwandten Möglichkeiten«

(GS VI, 467). Dafür gibt es verschiedene Gründe, unter denen der unbe-streitbaren Feststellung, dass Proust »Nachfolger schwerlich mehr finden wird als er Kameraden braucht« (468), keineswegs die maßgebliche Rolle zukommt. Denn Benjamins Unternehmen zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass es auf einem absichtlichen Eingedenken beruht, das ihm dazu verhelfen sollte, im Exil die Sehnsucht zu besänftigen:

Ich hatte das Verfahren der Impfung mehrmals in meinem inneren Leben als heilsam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebensowenig Herr werden wie der Impfstoff über einen gesunden Körper.

(GS VII, 385; Hervorhebungen S. M.)

10 S. Nr. 503 in Benjamins »Verzeichnis der gelesenen Schriften« (GS VII, 438).

11 Bergson 1959, 214.

12 Ebd., 291.

13 Da es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine thematische Untersuchung über das Ein‑

gedenken handelt, werde ich mich im Folgenden zwischen der Berliner Chronik und der Berliner Kindheit um neunzehnhundert frei bewegen.

14 S. o. Kapitel 3. Über den Unterschied zwischen Benjamin und Proust vgl. auch Schöttker 1999 (223 ff.) und vor allem Giuriato 2006 (60 ff.).

Dieses als Impfung eingesetzte, absichtliche Hervorrufen von Erinne-rungsbildern markiert einen ersten Unterschied zwischen Benjamin und Proust. Dennoch lässt sich diese Differenz relativieren, bedenkt man, dass es sich bei Benjamin keineswegs darum handelt, dem Willen eine absolute Herrschaft über das Gedächtnis zurückzugeben, sondern darum, sich in die Kunst des unwillkürlichen Eingedenkens einzuüben. In Benjamins Prosastücken wird die Identität des Schreibenden keinesfalls teleologisch bestätigt, sondern in eine anonyme Vielfalt von verfremdenden Eindrücken, Winken und Tendenzen aufgelöst. Die tiefen Wurzeln dieser Ausschaltung des schon konstituierten Selbst liegen bekanntlich in Benjamins frühen Stu-dien über Phantasie und Farbe sowie in seiner bereits 1917 klar gestellten Forderung nach der Überwindung der »Subjekt-Natur des erkennenden Bewußtseins« (GS II, 161).

Ein zweiter Unterschied zu Proust betrifft die Darstellungsform:

Benjamin hat keinen Roman geschrieben, sondern überwiegend mit der Darstellungsform der Kurzprosa bzw. des Denkbildes experimentiert. Auch im Falle der Berliner Chronik handelt es sich um keine kontinuierliche Erzählung, sondern um vierzig Texte unterschiedlicher Länge, die sich auch unabhängig voneinander lesen lassen. Nach Benjamin muss nämlich

»die Erinnerung nicht erzählend, noch viel weniger berichtend vorgehen sondern im strengsten Sinne episch und rhapsodisch« (GS VI, 487), d. h.

bruchstückhaft.

Neben den Differenzen gibt es allerdings nicht wenige Gemeinsam-keiten, aus denen der entscheidende Einfluss Prousts deutlich hervorgeht.

Die Vorstellung des Gedächtnisses als Medium gehört dazu:

[D]ieser Durchblick würde kein Vertrauen verdienen, gäbe er von dem Medium nicht Rechenschaft, in dem diese Bilder allein sich darstellen […]. Die Gegenwart des Schreibenden ist dieses Medium. (470 f.)

Demnach wird der Akt des Sich-Erinnerns nicht zugunsten des Erinnerten vernachlässigt, sondern permanent reflektiert.15 Diese genuin Proustsche Auffassung wird an einer Stelle der Berliner Chronik (486 f.) mit einem archäologischen Bild heraufbeschworen, das später zu dem bekannten Prosastück Ausgraben und Erinnern (GS IV, 400 f.) ausgearbeitet wurde.

Das Gedächtnis erweist sich nicht als »Instrument zur Erkundung des Vergangnen« (ebd.), sondern vielmehr als dessen »Schauplatz«: Es gilt als

»das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen« (ebd.). So steht im Zentrum von Benjamins Erinnerungen nicht so sehr das Erlebte als vielmehr »die Penelopearbeit

15 Über die »Gegenwart des Schreibenden« vgl. Giuriato 2006, 74 ff.

des Eingedenkens« (GS II, 311), d. h. »die Gegenwart des Schreibenden«

(GS VI, 471):

Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. (GS IV, 400)

Damit begegnet man einer grundlegenden These, die in den Konvoluten der Passagenarbeit und in den Thesen Über den Begriff der Geschichte ihre erkenntnistheoretische und geschichtsphilosophische Aufwertung finden wird: Da die Erinnerung ein in der Gegenwart sich ereignender Akt ist, muss auch und vor allem ihr Zusammenhang mit der Gegenwart reflektiert werden, während er häufig zugunsten des Vergegenwärtigten aus den Augen verloren, wenn nicht komplett ausgeblendet wird. Wenn etwas gerade jetzt erinnert wird, heißt das, dass es erinnerbar ist: Jede Erinnerung setzt so etwas wie ein ›Jetzt der Erinnerbarkeit‹ voraus, dessen Themati-sierung zu einer Selbstbesinnung über die jeweils aktuellen Verhältnisse zwingt. Im Falle Benjamins handelte es sich um die Erfahrung des Exils, vom schmerzhaften Bewusstsein begleitet, »vielleicht einen dauernden Abschied« (GS VII, 385) von der Heimatstadt Berlin nehmen zu müssen.

Ein weiterer Proustscher Zug in Benjamins Prosastücken zur Kindheit lässt sich in der zentralen Rolle der Bilder ausfindig machen. Benjamin hat sich darum bemüht, »der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt« (ebd.).

›Bild‹ heißt hier keineswegs bloßes Abbild des Erlebten, sondern vielmehr Figur, d. h. Ergebnis eines ›fingere‹ bzw. eines Schreibens, in dem Gegen-wart und Vergangenheit, Spur und Wiederholung, Wink und Deutung zusammenschießen.16 Symptomatisch ist in dieser Hinsicht die Tatsache, dass die Berliner Chronik auch Jugend- und Studienerinnerungen enthält, die als erste »behutsame, tastende Spatenstich[e] ins dunkle Erdreich«

(GS VI, 486) die tieferen Grabungen der Berliner Kindheit vorbereitet haben.17 Erst durch die Arbeit eines ausgrabend-eingedenkenden Schrei-bens kommen die ›Bilder‹ zum Vorschein. Dementsprechend erscheint die Chronik als der notwendige Umweg zur Kindheit: Das Verhältnis beider Schriften zueinander belehrt uns über Benjamins Gedächtnis-Praxis in ihrem intermittierenden Gang.

Einsatz dieser existenziellen und literarischen Herausforderung ist eben die Kindheit als »Schwellenfigur zwischen der vorsprachlichen und der

16 In Benjamins Kindheitserinnerungen handelt es sich wie bei Proust »um Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten.« (GS II, 1064)

17 Vgl. dazu Pethes 1999, 268 f.

sprachlichen Welt«.18 Was die Kindheit auszeichnet, ist ihr besonderer Seinsmodus, der als reine Potenzialität bezeichnet werden kann, wobei die Bedeutung des Adjektivs ›rein‹ präzisiert werden muss. In seinem Brief an Ernst Schoen vom 29. Januar 1919 erläutert Benjamin seinen Begriff von Reinheit folgendermaßen:

Die Reinheit eines Wesens ist niemals unbedingt oder absolut, sie ist stets einer Bedingung unterworfen. Diese Bedingung ist verschieden je nach dem Wesen um dessen Reinheit es sich handelt; niemals aber liegt diese Bedingung in dem Wesen selbst. Mit anderen Worten: Die Reinheit jedes (endlichen) Wesens ist nicht von ihm selbst abhängig. Die beiden Wesen, denen wir vor allem Reinheit zusprechen sind die Natur und die Kinder. Für die Natur ist die außerhalb ihrer selbst liegende Bedingung ihrer Reinheit die menschliche Sprache. (GB II, 11 f.) Mit ›Reinheit‹ bezeichnet Benjamin somit keine objektive, ontologisch festzumachende Eigenschaft eines Wesens, sondern eine bestimmte Ge-gebenheitsweise, die einen wesentlich relationalen Charakter aufweist.

Demnach offenbart sich die Reinheit der Natur erst in der menschlichen Sprache. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, wo und wie die Reinheit der Kindheit erscheint. Aufgrund des bisher Dargelegten wäre die Annah-me gerechtfertigt, »die außerhalb ihrer selbst [i. e. der Kindheit, S. M.]

liegende Bedingung« ihrer Reinheit müsse wohl in der Erinnerung, bzw.

im Eingedenken liegen. Im letzteren kann man sich nachträglich verge-genwärtigen, was man nie erlebt hat, nämlich eine reine Potenzialität in ihrem unberechenbaren Werden. Damit beschäftigt, leiblich und praktisch mit ganz neuen, geradezu traumatischen Umständen zurechtzukommen, wird das Kind schwerlich eine Gelegenheit haben, die eigene Potenziali-tät als solche wahrzunehmen: Wer würde was erfahren? Wenn wir von der frühen Kindheit reden, beziehen wir uns auf eine Situation, in der es weder ein selbstbewusstes Subjekt, i. e. ein ›Wer‹, noch ein von ihm klar getrenntes, ihm gegenüber liegendes Objekt, i. e. ein ›Was‹ gibt. Erst dem Eingedenken fällt jene »schwache messianische Kraft« (GS I, 694) zu, welche die Potenzialität als solche von ihrer anonymen Stummheit erlöst.

In mehreren Anläufen kommt Benjamin immer wieder darauf zurück, die Potenzialität als Medium der Erfahrbarkeit aufzuspüren und anschaulich herbeizurufen. Dabei hütet er sich davor, dieses Medium als einen

›Ge-18 Lemke 2008, 14. In ihrer Studie über die Berliner Kindheit weist Anja Lemke auf Ben‑

jamins subtile Verwendung eines psychoanalytischen Verfahrens in seiner Konstruktion einer »Topographie des Unbewußt‑Bewußten« hin: »Die in der Berliner Kindheit be‑

schriebenen Räume zeichnen sich sämtlich durch eine Topographie von Heimlichkeit und Unheimlichkeit, Ordnung und Chaos, Bewußtsein und Traum aus, wobei zu beachten ist, daß das Kind auf der Schwelle dieser beiden Sphären steht. Es bildet dergestalt selbst die Passage zwischen dem Unbewußten und dem Bewußten und markiert gleichzeitig die Unvereinbarkeit beider Sphären.« (Ebd., 48)

genstand‹ zu betrachten: Denn der traditionell objektivierenden Haltung der Philosophie verschließt sich jeglicher Zugang zu dieser Schicht der Erfahrung. Um sich einen Weg zur Potenzialität zu bahnen, muss man den eigenen Willen ausschalten,19 sich einer ursprünglichen Passivität aussetzen, die Benjamin gleich am Anfang der Chronik als »Ohnmacht« darstellt:

Wahrscheinlich wird darin nie einer Meister, worin er nicht die Ohnmacht ge‑

kannt hat, und wer dem zustimmt, der wird auch wissen, daß diese Ohnmacht nicht am Anfang oder vor aller Bemühung um die Sache liegt, sondern mitten in ihr. (GS VI, 466)

Dieser befremdende Grundsatz vom abgründigen Charakter jeder we-sentlichen Erfahrung gilt nicht nur für die Stadt, in der sich Benjamin zu verirren pflegte,20 sondern auch für die Erinnerung. Um sich einen Zugang zu den verborgenen Schätzen des Gedächtnisses zu erschließen, erweisen sich die Anstrengungen einer willkürlichen Erinnerung als ver-geblich. Das liegt daran, dass Letztere den praktischen Forderungen der Umwelt, den Imperativen des Handelns unterworfen bleibt. Wie Bergson immer wieder betont: »Pour évoquer le passé sous forme d’image, il faut pouvoir s’abstraire de l’action présente.«21 Sind erst einmal der Wille und die Ausrichtung auf das Handeln ausgeschaltet, kann es zu jenen kleinen Epiphanien kommen, die Proust als mémoires involontaires bezeichnete.22 An der zitierten Stelle scheint Benjamin gerade auf Prousts Auffassung anzuspielen, indem er sie radikalisiert: Erst aufgrund eines passiven Erin-nerns kann man zur Vergegenwärtigung der längst vergessenen kindlichen Ohnmacht gelangen. Dieses Sich-Abstrahieren von der gegenwärtigen Handlung bringt allerdings auch jene Plumpheit mit sich, die ihre Allegorie

19 Über diese Epoché des Willens s. o. Kapitel 2.1.

20 Neben GS VI, 466 vgl. auch S. 468: »[M]itten in den asphaltierten Straßen der Stadt fühlte ich mich den Naturgewalten preisgegeben, in einem Urwald wäre ich zwischen den Baumriesen nicht verlaßner gewesen als hier auf der Kurfürstenstraße zwischen den Wassersäulen.«

21 Bergson 1959, 228.

22 Im zweiten Kapitel von Matière et mémoire (1896) geht Bergson auf den grundlegenden Unterschied zwischen zwei verschiedenen ›mémoires‹ ein: der mémoire-habitude einerseits

22 Im zweiten Kapitel von Matière et mémoire (1896) geht Bergson auf den grundlegenden Unterschied zwischen zwei verschiedenen ›mémoires‹ ein: der mémoire-habitude einerseits