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Eingedenkende ›motorisch‑phantastische Erkenntnistheorie‹

Die messianische Sehnsucht steht im Mittelpunkt des letzten Abschnittes des Kapitels über die »Gedankenatmosphäre dieser Zeit«, in dem Bloch seine auf dem Eingedenken beruhende »motorisch-phantastische« Erkennt-nistheorie darlegt.46 Die Ausgangsfrage zwingt den Leser, sich auf die Ge-genwart zu besinnen: »Wie wirkt das ein, das jetzt ist?« (332). Derjenige, der tätig werden will, der »schöpferische Kopf«, müsse »zum kanonischen Träumer werden, dem das, was den anderen bestenfalls sehnsüchtig und

45 Was die Verwendung des eher ungebräuchlichen Adjektivs ›motorisch‹ angeht, handelt es sich wohl um einen Einfluß Bubers, wie Gianfranco Bonola nachgewiesen hat (2006, 279). Der Ausdruck begegnet an folgender Stelle von Bubers Reden über das Judentum (1911): »[D]er Jude [ist] mehr motorisch als sensorisch veranlagt […]: sein Bewegungs‑

system arbeitet intensiver als sein Sinnensystem, er hat im Handeln mehr Substanz und mehr Persönlichkeit als im Wahrnehmen.« (Buber 1911, 79)

46 Der hier in Frage stehende Abschnitt trägt den Titel »Zur motorisch‑phantastischen Erkenntnistheorie dieser Proklamation«. Bloch erläutert darin den Sinn der großartigen, weltgeschichtlichen, von einer »äonenhaften Optik« ermöglichten Proklamation, mit der der vorige Abschnitt abgeschlossen wurde. Nach Bloch ist eine Synthese zwischen Juden‑

tum, Deutschtum und Rußland fällig, die die entscheidende Aufgabe hätte, »die absolute Zeit zu bereiten« (332). Vgl. auch den 1922 in Die Argonauten veröffentlichten Aufsatz Über motorisch-mystische Intention in der Erkenntnis (Bloch 1978, 108−121), der die messianische Theorie des Eingedenkens bündig zusammenfasst.

noch nicht bewußt anklingt, zum Eingedenken wird; zuerst nur mitwissend oder »weltlich«, enzyklopädisch, dann, mit wiederkehrender, völlig reif gewordener Ahnung, zum Eingedenken der eigenen Tiefe« (333).

Mit dem Eingedenken geht man über die bloße Sehnsucht hinaus, um eine reife Ahnung des Noch-nicht-Bewussten zu gewinnen. Hier spricht Bloch auch den eigentümlichen Zusammenhang von Eingedenken und Traum an. Offensichtlich ist er auf der Suche nach Wahrnehmungsformen, die sich nicht darauf beschränken, das Gegebene oder das Vorhandene in seiner bloßen Gegebenheit festzustellen. Das Träumen, besonders die Tagträume, und die Phantasie können durchaus mit wahrgenommenen Gegenständen arbeiten bzw. spielen, allerdings um in ihnen ein Potenzial an nicht auf der Hand liegenden Be- und Andeutungen zu befreien, die zunächst eben »nicht bewußt« anklingen, obwohl sie irgendwie schon immer da waren. So bleibt der »kanonische[] Träumer« seiner Träume stets eingedenk, weil er in ihrer Tiefe keine mit Sehnsucht zu betrachtende Täuschung, keinen tröstenden Ersatz erlebt, sondern einen weiter zu ver-folgenden Riss im Gegebenen ahnt, der sich als tätig zu verwirklichender Weg erweisen kann.

So schlägt das im Eingedenken festgehaltene Phantastische ins die Wirklichkeit verändernde Motorische um. Anders gesagt, der kanonische Träumer begnügt sich gar nicht mit seinen Träumen, denn sie sind für ihn nur die Vorbereitung eines handelnden Eingriffs in die bestehenden Verhältnisse.47 Das kann allerdings nur allmählich geschehen: Die Kraft des Eingedenkens erfordert eine gewisse Übung, um fruchtbar zu werden.

Deshalb unterscheidet Bloch verschiedene Momente: zuerst erscheint das Eingedenken »nur mitwissend oder ›weltlich‹, enzyklopädisch«, d. h. einer noch kontemplativen Haltung verhaftet, die der Welt unterworfen bleibt.48 Wenn es aber weiter eingeübt wird, eröffnet sich eine Perspektive, die in die »eigene[] Tiefe« führen kann. Erst dann wird die reife Ahnung des Möglichen durch eine Einkehr in sich selbst zur Veränderung des

Be-47 Dass es beim Träumen nicht bleiben darf, beteuern schon die allerersten Zeilen dieses Abschnittes: »Denn wir wollen handelnd und selbsttätig vorgehen. Nicht etwa um zu träumen oder einfach nur beliebig umzudenken. Denn im schöpferischen Kopf löschen alle bloßen Traumlaternen aus« (332). Tagträume sind ein Lieblingsthema von Bloch: »Der Tagtraum ist keine Vorstufe des Nachttraums, wie Freud sagt, sondern bezieht sich auf ein ganz eigenes Gebiet, nicht auf das Nichtmehr, wie das Unbewußte bei Freud, sondern auf das Noch‑nicht, das doch auch ein Sein hat; ich kann von einem Noch‑nicht‑Sein sprechen« (1977, 167). Vgl. Freuds Auffassung in der Traumdeutung (»Die sekundäre Bearbeitung«, Freud 1900, 482−500).

48 So heißt es einige Zeilen nach dem zitierten Passus: »Man hat sich dem Lauf der in den Dingen, Subjekten und Werken bis zu dem Forscher hin vorgearbeiteten Welt zu unter‑

werfen« (333).

stehenden beitragen. Später kommt Bloch im selben Abschnitt auf diese Differenzierung zurück:

Dieses Eingedenken hat sein doppeltes Gebiet: einmal die Besorgung der intensiv gegebenen Dinge, also die Mitwissenheit der bis zum Ästhetischen einschließlich zurückzulegenden Enzyklopädie; und dann die letzte Drehung, das sich selbst vor Augen Stehen, die Besorgung der eigenen Intensität und ihrer Ziele, die gänzlich die Unruhe und Frage des Ichs nach Gott mit sich selbst und seiner eigenen mythischen Gegenständlichkeit beantwortet, eine Füllesteigerung der Welt, bis sich auch Gott die Krone der Gottesglorie endlich aufs Haupt gesetzt hat. (339 f.) Daraus geht hervor, dass Bloch dem Eingedenken eine strategische Rolle innerhalb seiner Erkenntnistheorie zuschreibt: Eine Rolle, die kaum über-schätzt werden kann, wenn man bedenkt, dass das Eingedenken eine qua-litative Umwandlung, geradezu eine Intensivierung ohnegleichen mit sich bringt, und zwar sowohl in objektiver (mit der »Besorgung der intensiv gegebenen Dinge«) als auch in subjektiver Hinsicht (mit der »Besorgung der eigenen Intensität«), um sogar das Göttliche einzubeziehen. Das Ein-gedenken wird zur Bedingung der Möglichkeit einer »Füllesteigerung der Welt« aufgewertet.

Steht die Vergegenwärtigung des Gewesenen mit ihren destruktiven und utopisch-verwandelnden Folgen im Zentrum von Blochs Erkenntnistheo-rie, so lautet ihre Grundfrage: Was passiert, »wenn sich das Geschehene unmerklich mit dem Geschehenden mischt« (333), wenn man »dem wieder gegenwärtig Werden« (ebd.) des Geschehenen ausgeliefert ist? Bloch fasst seine Antwort auf einer einzigen Seite zusammen, die in ihrer Dichte mög-licherweise den erkenntnistheoretischen Kern des ganzen Buches enthält und dementsprechend in aller Ausführlichkeit, Satz für Satz, gelesen und kommentiert zu werden verdient:

Wir werden doch nicht nur geboren, um hinzunehmen oder aufzuschreiben, was war und wie es war, als wir noch nicht waren, sondern alles wartet auf uns, die Dinge suchen ihren Dichter und wollen auf uns bezogen sein. (334 f.)49 Mit jeder neuen Geburt erweitert sich nicht nur die Quantität der ge-genwärtig lebenden Menschen, sondern  – in einer eigentümlichen dia-lektischen Umkehrung der dem gesunden Menschenverstand geläufigen Vorstellung – wird auch die Vergangenheit in gewisser Weise neu geboren.

Anders gesagt, es ist nicht so, dass das Gegenwärtige dem Vergangenen folgt. Die sogenannte Folge der Generationen zwingt uns dazu, die Chro-nologie sozusagen auszuschalten, um ein vollkommen anderes Kriterium

49 Auch an dieser Stelle fällt eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Benjaminschen Text auf. Ich denke an die II. These Über den Begriff der Geschichte, wo man liest: »Dann sind wir auf der Erde erwartet worden« (GS I, 694). Darauf werde ich unten zurückkommen.

anzuwenden. Da jeder neue Mensch die Vergangenheit neu interpretieren kann, erweist sich eine Auffassung als viel angemessener, die in einem klaren Gegensatz zur chronologischen Zeitfolge steht: Die Vergangenheit, die vor dieser Gegenwart irgendwie schon da war (obwohl sie eigentlich nicht mehr ist), erhält von dieser Gegenwart ihre Bedeutung, d. h. aber: Sie wird durch Gegenwart hervorgebracht. Gleichzeitig geht die Vergangenheit über die Gegenwart hinaus, denn erst in ihr erschließt sich eine mögliche Zukunft. Zusammenfassend, jetzt kommt das Gewesene zu sich selbst, da es auf uns wartete, es auf uns wollte bezogen werden.50 Bloch interpretiert die Welt als unübersichtliches, unerschöpfliches Netz von Beziehungen, von Korrespondenzen, die stark an Baudelaires correspondances erinnern:

»[D]ie Dinge suchen ihren Dichter«. In diesem Kosmos von sich vielfältig überschneidenden, aufeinander wirkenden Beziehungen transzendiert jedes Ereignis sich selbst. Sinn entsteht durch Aktualisierung von potentiellen Beziehungen, die letzten Endes auf der absoluten Kontingenz einer neuen Geburt beruhen.

Es ist immer nur halb geschehen, was geschehen ist, und die Kraft, die es geschehen ließ, die sich in ihm ungenügend genug heraussetzte, treibt in uns fort und wirft auch noch weiter ihren Schein auf all das Halbe und Weghafte, immer noch Zukünftige hinter uns. (335)

Das Geschehene hört nicht auf zu geschehen: Von einem messianischen Standpunkt aus kommt Bloch zu einer These, der im 20.  Jahrhundert besonders die Psychoanalyse zur allgemeinen Anerkennung verholfen hat.51 Gerade deswegen wird man mit der Vergangenheit nie fertig, weil sie sich durch ihr gespenstisches Sein jedem festen Griff entzieht. Es stellt sich dann aber eine weitere Frage: Was ist diese »Kraft«, von der Bloch redet? Naheliegend wäre eine theologisch-transzendente Deutung, d. h.

die Gleichstellung dieser Kraft mit einem göttlichen Wesen, die allerdings irreführend scheint. Die Kraft, die das Geschehene geschehen ließ, ist ihm immanent. Aus Herkunftswörterbuchern lernt man, dass das Verb ›gesche-hen‹ auf die indoeuropäische Wurzel *(s)kek- zurückgeht, die ›springen, lebhafte Bewegung‹ bedeutet, »so daß sich als Ausgangsbedeutung des prä-figierten [sic!] germ. Verbs ›schnell vor sich gehen, eine schnelle Wendung

50 Demzufolge verfehlt Anson Rabinbach m. E. den Kern von Blochs Messianismus, indem er ihn ausschließlich auf die Zukunft bezieht: »History for Bloch is predicated on a future‑oriented knowledge that transcends the empirical order of things, that does not take flight in false images or fall prey to naturalism, but is directed beyond the existing world toward a yet unrealized ›messianic goal‹« (1997, 44).

51 Über das Verhältnis von Psychoanalyse und Historiographie vgl. u. a. Horkheimer 1932;

Certeau 1987 (bes. Kap. 2); Rüsen / Straub 1998; Agamben 2008 (bes. Kap. 3).

machen‹ ergibt«.52 Die Kraft, die das Geschehene geschehen ließ, fällt mit seinem Ursprung zusammen, und dieser Ursprung muss als ein Springen, als eine schnelle Wendung gedacht werden. In jedem Geschehenen bleibt ein Rest an Ursprung, der unterschwellig in uns fort- oder vorwärtstreibt.

Das zwingt zur Einsicht, im Vergangenen steckt Zukünftiges, dessen Verwirklichung allerdings weder notwendig noch automatisch vor sich geht, weil es auf die Kontingenz des gegenwärtigen Handelns eines neuen Menschen angewiesen ist. Darum geht es also, das halb Geschehene zu vollenden, indem wir in ihm ein Weghaftes erschauen, d. h. einen weiter in die Zukunft zu verfolgenden Weg.

Was vor uns, ohne uns bloß zitterte, ist tönend, wärmend, leuchtend geworden;

und wie sehen jetzt die Kreuzzüge aus? Sie haben sich doch gewandelt, denn auch das, was »damals«, das heißt an seinem vormenschlichen, physischen Ort Luft‑ oder Ätherschwingung war, ist für uns, durch uns Ton, Wärme, Licht ge‑

worden: sollte also der jeweils gegenwärtig gewesene Zustand in der Geschichte von uns unabhängig und unbeweglich weiterbrennen? (335)

Ton, Wärme, Licht: Bloch bevorzugt hier die Sprache der qualitativen, leiblichen Empfindungen, die von der Natur auf die Geschichte übertragen wird. An sich ist kein Ereignis »tönend, wärmend, leuchtend«, das wird es erst für und durch uns. Diese elementare physikalische Einsicht ist nach Bloch noch weit davon entfernt, in unser Geschichtsbild aufgenommen zu werden. Wie ein Sonnenstrahl erst für und durch mich wärmend wird, so erhalten auch die Kreuzzüge ihr ›Aussehen‹ von der Art und Weise, wie man sie studiert, erzählt, darstellt, zitiert usw. Das Bild der Kreuzzüge wandelt sich mit der Gegenwart. Verwerflich ist die Auffassung, nach der gewesene Zustände von uns unabhängig wären.

Was niemals vergehen konnte, muß zerschlagen werden, was niemals ganz zu sich kam, muß gelöst und das nie ganz Geschehene in neuen Atemzügen vollendet werden. (335)

Ein in methodologischer Hinsicht äußerst wertvoller Hinweis: Die Voll-endung des Geschehenen setzt ein destruktives Moment voraus. Zunächst muss nämlich die verkrustete, nicht vergehen wollende Gegenwart ge-sprengt, so wie auch die als starr und unveränderlich erscheinende Ver-gangenheit in eine produktive Unruhe versetzt werden muss. Erst danach wird man sich dem unfertigen Geschehenen zuwenden können.

52 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, hrsg. von Wolfgang Pfeifer, 2. Auflage, Aka‑

demie Verlag, Berlin, 1993, S. 436.

Freilich scheint das Vergangene fest geworden, eingeschlafen zu sein, da es sich, je länger wir daraus herausgetreten sind, mit zunehmendem Dunkel bedeckt.

Aber das alles kann wieder erwachen, es ist fließend und schillernd geblieben und läuft unterirdisch weiter, es hat nichts Unveränderliches an sich wie Grabstätten oder bloße Unwiederbringlichkeiten oder auch wie irgend ein fertig Logisches, nur zu begreifen. Es besitzt als Vergehendes trotz der scheinbaren Fixierung zur Vergangenheit noch ein Heimliches, ein Element des Zukünftigen in sich, genau so wie auch die Fixierungen der Zukunft zur ruhenderen Gegenwart des Überblicks oder Werts noch immer Unentschiedenheiten, Alternativen, auf uns wartende, unbekannte Götter über sich haben. (335)

An dieser Stelle arbeitet Bloch eine Dialektik heraus, die um die polaren Spannungen fest / fließend und eingeschlafen / erwacht kreist. Das Einge-schlafene kann deshalb wieder erwachen, weil es unterirdisch weiterläuft.

Das heißt aber, es gibt keinen unmittelbaren Zugang zu ihm: Sein unterir-disches Weiterlaufen verweist auf einen Seinsmodus, der weder subjektiv noch objektiv, vielmehr dynamisch und latent ist. Bloch ist natürlich be-reit zuzugeben, dass wir uns ständig aufgrund von – häufig von Anderen übernommenen  – Fixierungen in der Zeit orientieren: Sie erweisen sich als notwendig, um einen Überblick zu schaffen bzw. um über den Wert eines bestimmten Sachverhaltes ein Urteil zu treffen. Nichtsdestoweniger lauern hinter oder besser unter jeder Fixierung  – der Gegenwart zur Vergangenheit, aber auch der Zukunft zur Gegenwart – unberechenbare Alternativen. Keine Fixierung kann das Potenzial des Geschehenden voll-ständig erschöpfen. Daraus ergibt sich eine Aufgabe, die Bloch wie folgt bündig formuliert:

Dieses weiter zu treiben, das Pochende, Unterdrückte, Zukünftige, das nicht werden konnte in all dem zähen Teig des Gewordenen, es reumütig zu lockern, in immer noch lebendiger, besserwissender Mitverantwortlichkeit, es vor allem auch wertgemäß zu beziehen, zu erleichtern und einzuschließen, ist die denke‑

rische, geschichtsphilosophische Arbeit. (335)

Wiederum werden hier verblüffende Ähnlichkeiten zur psychoanalytischen Beförderung des Verdrängten deutlich, deren erstes Ziel eben darin besteht, die Widerstände des Patienten zu lockern. Bloch zögert allerdings nicht, diese Arbeit als eine geschichtsphilosophische zu charakterisieren. Das setzt eine beträchtliche hermeneutische Kühnheit voraus, bedenkt man, dass das Hauptgeschäft der modernen Geschichtsphilosophie von Vico und Hegel bis hin zu Kojève und Fukuyama darin besteht, dem Geschehenen einen endgültig normativen Sinn zu verleihen, die (sorgfältig von jeder Spur an Kontingenz gereinigten) vergangenen Ereignisse einem übersicht-lichen begriffübersicht-lichen Raster zu unterziehen, schließlich das geschichtliche Werden teleologisch – ohne Rest! – in eine bestimmte, keine Alternativen

zulassende Richtung fließen zu lassen.53 Gerade diesen drei Operationen wiedersetzt sich Blochs messianische Geschichtsauffassung.

Es sei an dieser Stelle vorläufig bemerkt, dass es neben einer der Recht-fertigung der herrschenden Verhältnisse dienenden Geschichtsphilosophie in der Neuzeit immer wieder Versuche gegeben hat, einen kritischen, das Bestehende radikal in Frage stellenden Umgang mit der Geschichte auf-zuwerfen, wie Michel Foucault genealogisch nachgewiesen hat.54 Nach dieser verborgenen Tradition ist ein gravierender Paradigmenwechsel zu vollziehen, der dem politischen Urteil zu einem klaren Vorrang vor dem historischen verhilft.55

Nicht zuletzt darin besteht Blochs kopernikanische Wendung der Geschichte, die in seiner Monographie über Thomas Münzer seinen exemplarischen Niederschlag gefunden hat. Eine politische Pointe steckt auch im Ausdruck ›Mitverantwortlichkeit‹, die zunächst als fragwürdig erscheint: Wie kann ich für etwas mitverantwortlich sein, das ohne mich, etwa  Jahrhunderte vor meiner Geburt stattgefunden hat? Wie können wir heute lebenden Menschen z. B. für die Kreuzzüge mitverantwortlich sein? Man könnte allerdings gegen solche durchaus legitimen Zweifel einwenden, dass sich das Wort ›Geschichte‹ auf ein leeres, inhaltsloses Zeichen reduzieren würde, wenn es diese Mitverantwortlichkeit nicht

53 Vgl. darüber Adornos und Horkheimers kritische Überlegungen zur Geschichtsphiloso‑

phie in Dialektik der Aufklärung: »In der Geschichtsphilosophie wiederholt sich, was im Christentum geschah: das Gute, das in Wahrheit dem Leiden ausgeliefert bleibt, wird als Kraft verkleidet, die den Gang der Geschichte bestimmt und am Ende triumphiert. Es wird vergöttert, als Weltgeist oder doch als immanentes Gesetz. […] Die als Macht verkannte Ohnmacht wird durch solche Erhöhung noch einmal verleugnet, gleichsam der Erinnerung entzogen« (Horkheimer / Adorno 1947, 236). Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Heinz D.

Kittsteiner, nach dem Geschichtsphilosophie auf »eine moralisch begründete Teleologie«

hinauslaufe, auf deren Grund die Geschichte »anthropomorphisiert« wird: »Das unmit‑

telbar nicht herstellbare humane Ziel wird auf den Prozeß übertragen, und vom Prozeß her wieder auf die Ereignisse zurückprojiziert, in ihnen spekulativ wiedergefunden« (1992, 153).

54 Ich denke hier vor allem an seine 1976 gehaltenen Vorlesungen »Il faut défendre la société«

(Foucault 1997, passim), in denen eine so gut wie unbekannte geschichtsphilosophische Tradition wiederentdeckt und rekonstruiert wird.

55 Es lohnt sich hier den ganzen Satz Blochs wiederzugeben, da er für Benjamins Aneignung des Eingedenkens eine wichtige Rolle spielen wird: »Man kann schwer den Punkt angeben, wo diese peinliche Erhellung, diese allmähliche Steilheit des Gesichtswinkels und dieses aktuelle sich Wiederaufrollen oder Decrescendo der immanent feststellbaren Zusammen‑

hänge, Wichtigkeiten und Historien beginnt, wo sich mit anderen Worten das politische dem historischen Urteil wieder unterschiebt« (333). Was des Weiteren die Vorstellung einer verborgenen Tradition anbelangt, sei hier auf Blochs Rundschau von Hugo Balls Zur Kritik der deutschen Intelligenz (1919) hingewiesen: »[V]or allem auch tritt eine fast vollkommen vergessene unterirdische Verabredung der edelsten deutschen Menschen an die Öffentlichkeit dieser Zeit. Münzer statt Luther, Baader statt Hegel, Weitling statt Marx stehen auf und bringen Deutschland der Welt zu«. Dieser Artikel erschien am 10.

Juli 1919 in Die Weltbühne (jetzt in: Ball 1919, 463 f.).

gäbe. ›Geschichte‹ ist nicht nur eine Reihe von chronologisch geordneten Ereignissen. Die geschichtliche Zeit fällt nicht mit der physikalischen Zeit zusammen, da sie einen qualitativen, sinngebenden Zusammenhang bezeichnet, in dem die Ereignisse erinnert, sprachlich verarbeitet, erzählt, mythisiert, wissenschaftlich objektiviert, verdrängt, kurzum: in einen Deutungszusammenhang gestellt werden. ›Geschichte‹ besteht wesentlich aus der universal-menschlichen Mitverantwortlichkeit für das Geschehen, und zwar sowohl innerhalb einer lebendigen Überlieferung als auch im Rahmen der neuzeitlichen kritischen Rezeption. Jede Erinnerung verlangt vom sich erinnernden Subjekt eine – sei es implizit-unbewusst oder kritisch-bewusst  – Stellungnahme, die ohne Verantwortung im Leeren hängen würde. Wenn Ernst Bloch 1921 ein Monographie über Thomas Münzer veröffentlicht, ist er für Münzer, für die Vergegenwärtigung seiner Taten in einem bestimmten historischen Augenblick mitverantwortlich: In seinem Buch lebt Münzer fünf Jahrhunderte nach seinem Tod weiter. Geschichte ist Mitverantwortlichkeit für das Fortleben des Geschehenen, und das ist immer eine Frage der Gegenwart.

Nach dieser detaillierten Analyse des Eingedenkens entwirft Bloch sein in verschiedenen Stufen gegliedertes »System des theoretischen Messianismus« (337).56 Dabei will er sich freilich von der Tradition der systematischen Philosophie abgrenzen, da er ein essayistisches Denken anstrebt, dem die Fähigkeit zugeschrieben wird, »zwei überall sonst wi-dersprechende Gesinnungen [miteinander zu verbinden]: das liebevolle Betrachten des Einzelnen, ganz gleichgültig ob es eingeordnet werden oder gar abgeleitet werden kann, und das schlechthin darüber hinweg-stürmende  – gemäß der Gesinnung: was habe ich, wenn ich nicht alles habe? – Tendieren nach dem Zielgemäßen, Sinngemäßen überhaupt« (336).

Oder mit einer denkwürdigen Formel: »bei der Sache […] bleiben, indem man nicht bei ihr bleibt« (338). Zudem wird das Essayistische auch als

»seinem eigentlichsten methodischen Verhalten nach eine Vorstufe des

56 Blochs Messianismus ist eher gnostisch‑christlicher als jüdischer Prägung. In einem 1976 geführten Gespräch mit Jean‑Michel Palmier hat Bloch sein Verhältnis zum Judentum so abgehandelt: »Mein Denken hat tiefe Wurzeln im Christentum […]. Um meine Beziehung zum Judaismus richtig zu verstehen, muß man auch einen Blick auf meine Kindheit und

56 Blochs Messianismus ist eher gnostisch‑christlicher als jüdischer Prägung. In einem 1976 geführten Gespräch mit Jean‑Michel Palmier hat Bloch sein Verhältnis zum Judentum so abgehandelt: »Mein Denken hat tiefe Wurzeln im Christentum […]. Um meine Beziehung zum Judaismus richtig zu verstehen, muß man auch einen Blick auf meine Kindheit und