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Das Eingedenken als ethisch‑ontologischer Begriff

In Geist der Utopie begegnet der Terminus ›Eingedenken‹ am häufigsten im fünften Kapitel, das den Titel »Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit« trägt und aus der zweiten, stark überarbeiteten Fassung des Werkes (1923) vollständig gestrichen wurde.25 Hier versucht Bloch den eigenen philosophischen Standpunkt durch eine Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Denken bis hin zu Henri Bergson, Eduard von Hartmann und Edmund Husserl abzugrenzen.26 Zunächst aber bezieht er sich auf die »Geheimlehrer« der Theosophie, besonders auf Rudolf Steiner, bei denen, wie er schreibt, im Grunde genommen sehr wenig gewusst, »aber trotzdem maßlos viel »gesehen«, »gehört«, »gegeben« ist« (241). Des-halb plädiert Bloch für eine kritische Rehabilitierung und eine nüchterne Aneignung der von den akademischen Philosophen verachteten

Theoso-24 Der apokalyptisch‑messianische Charakter von Blochs Musikphilosophie findet seinen klarsten, etwas überschwänglichen Ausdruck besonders im letzten Absatz dieses Kapitels aus Geist der Utopie, wo er prophetisch folgendes verkündet: »[E]s wird eine Zeit kom‑

men, wo der Ton spricht, ausspricht, wo Klang und Licht in das obere Ich hineingestellt werden, […] wo die neuen Musiker den neuen Propheten vorhergehen werden: und so wollen wir den Primat eines sonst Unsagbaren der Musik anweisen, diesem Kern und Samen, diesem Wiederschein der bunten Sterbenacht und des ewigen Lebens, diesem Saat‑

korn zum inneren mystischen Meer des Ingesindes, diesem Jericho und ersten Wohnort des heiligen Landes. Wenn wir uns nennen könnten, käme unser Haupt, und die Musik ist eine einzige subjektive Theurgie. Sie bringt uns in die warme, tiefe, gotische Stube des Innern, die allein noch mitten in dem unklaren Dunkel leuchtet, ja aus der allein noch der Schein kommen kann, der das Wirrsal, die unfruchtbare Macht des bloßen Seienden, das rohe, verfolgungssüchtige Tappen der demiurgischen Blindheit, wenn nicht gar den Sarg des gottverlassenen Seins selber zuschanden zu machen und auseinander zu sprengen hat, da nicht den Toten, sondern den Lebendigen das Reich gepredigt wurde, und so eben diese unsere kaum gekannte, warme, tiefe, gotische Stube am jüngsten Morgen dasselbe wie das offenbare Himmelreich sein wird.« (234)

25 Auszüge aus dem gestrichenen Kapitel, u. a. der Abschnitt »Symbol: Die Juden«, wurden von Bloch 1923 in der Aufsatzsammlung Durch die Wüste veröffentlicht (1923b, 122 ff.).

26 Blochs Standpunkt wird von Michael Löwy in seiner Schilderung des jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert als eindeutiges Beispiel einer Wiederaufnahme der revolutionären Romantik dargelegt: »L’Esprit de l’Utopie peut être considéré, surtout dans sa première version (1918), – avec les écrits de Landauer, que Bloch connaissait bien – comme l’un des ouvrages les plus caractéristiques du romantisme révolutionnaire moderne« (Löwy 2009, 175). Diese Ansicht findet in Blochs retrospektiver Selbstinterpretation Bestätigung: In seiner 1963 verfaßten »Nachbemerkung« zur Neuveröffentlichung des Buches als dritter Band der Werkausgabe redet er von einem »Sturm‑ und Drang‑Buch, contra Krieg in Nächten hineingewühlt und durchgesetzt«, dessen »revolutionäre Romantik […] Maß und Bestimmung in Das Prinzip Hoffnung und den ihm folgenden Büchern« findet (Bloch 1964, 347).

phie.27 Mit einem Gestus, der stark an Benjamins Über das Programm der kommenden Philosophie (1917) erinnert, vertritt Bloch die These, man solle die Grenzen unseres Newtonschen Weltbildes sprengen, um die okkultistischen Phänomene (Fernwirkung, Spiritismus, Telepathie, Wahrträume usw.) einer ernsthaften Betrachtung zu unterziehen. Bloch entwirft hier ein denkwürdiges Bild: Wir würden »ohne weiteres alle unteren, verstimmenden und phantasielos phantastischen Partien des

›Okkultismus‹ verschwinden sehen, wenn wir die Wagen des Begriffs bis zu der Stelle wieder zurückfahren ließen, wo die Pakete der ›jenseitigen‹

Tatbestände herausgefallen und liegen geblieben sind, um sie derart in die Erwartungszusammenhänge des ganzen Zuges aufzunehmen und ein gegen die fremden Elemente bereitwilliges Begriffsgebilde zu gestalten«

(240). Es sollte also eine Erkenntnistheorie ausgearbeitet werden, die der Esoterik »würdig« (242) wäre. Darin würde gerade das Eingedenken eine zentrale Rolle spielen, wie aus folgendem Passus hervorgeht:

Darum scheint es immerhin von Nutzen sein, die besseren Bestandteile der neu erwachten Geheimlehre, unter Absehung ihrer zufälligen minderwertigen Aktualisierung, vor allem aber unter Berücksichtigung der gänzlich veränderten Organe des nicht mehr empfangend gebliebenen, sondern schöpferisch selbst offenbarend gewordenen Eingedenkens und des vollkommen veränderten Status der Götterwelt ernsthaft zu rezipieren. (242)

Es geht also darum, eine ernsthafte und sorgfältig geläuterte Rezeption der theosophischen Geheimlehre zu ermöglichen. Zu diesem Zweck solle man sich zunächst darüber klar werden, wie unsere Gegenwart gestaltet ist. Zwei Aspekte werden hier von Bloch hervorgehoben: einerseits der

»vollkommen veränderte[] Status der Götterwelt«, andererseits aber eine wichtige Umwandlung, die die »Organe« des Eingedenkens betrifft. Wäh-rend der erste Punkt auf Nietzsches Verkündung vom Tod Gottes und

27 Ein ausgesprochen positives Urteil fällt Bloch über jene religiösen Geister, die ihm einen Sinn fürs Echte noch zu besitzen scheinen, vor allem Stefan George (»ein gewaltiger Ly‑

riker und dem, der an ihn glaubt, auch Priester«, 238). Diese Geister weisen allerdings auf ein »Saatkorn« hin, »aus dem ein anders großer Baum zu wachsen hätte, geschweige denn, daß sie dieses mystische Saatkorn zu ihrer Erzeugung notwendig hätten« (239):

Dieses Saatkorn, diese Quelle »heißt Steiner […], der Einzige in diesen Tagen, der das alte theosophische Erbgut wieder lebendig zu machen weiß« (ebd.). Laut Bloch gebe es »bei diesem sonst kaum erträglichen Mann einen Punkt, von dem aus gesehen alte, seit langem gebrochen und tot daliegende Verbindungen wieder aufzuleben und sich zusammenzufügen scheinen« (ebd.). Man müsse also erkennen, »daß hier zunächst und mindestens historisch außerordentlich wertvolle Aufschlüsse vorliegen« (240). »Fragestellungen und Lösungs‑

fragmente der wahrhaft metaphysisch gegenständlichen Theosophie [sollten] endlich eingeholt und überholt werden« (243). Dass Bloch über Steiner »nicht ohne ironischen Respekt« rede, wie Adorno (1965, 564) nahelegt, hält m. E. einer aufmerksamen Lektüre des Textes nicht stand: Respekt ist wohl da, jedoch keine Ironie. Über den bislang m. W.

kaum erforschten Einfluss Steiners auf Bloch vgl. Hansen 1998, 18 ff.

auf Max Webers Diagnose der Entzauberung der Welt in der Moderne zurückgeführt werden kann, bleibt der zweite eher dunkel und muss ent-ziffert werden. Fest steht, dass das Eingedenken nach Bloch keineswegs mit einem transzendental-statischen Vermögen bzw. einem überzeitlichen Akt verwechselt werden darf, sondern seinerseits eine Geschichte hat, geschichtlich bedingt ist. Es hat eine Zeit gegeben, in der das Eingedenken rein empfangend war. Heute aber ist es »schöpferisch selbst offenbarend«

geworden. Dieser Übergang des Eingedenkens von bloßer Empfänglichkeit zur schöpferischen Offenbarung wird von Bloch nicht näher erläutert, sondern dogmatisch behauptet  – mit jenem expressionistischen Duktus, der seinen Geist der Utopie kennzeichnet.

Mag Bloch mit dem empfangenden Eingedenken einen mit der pla-tonischen Anamnesis eng verwandten Akt meinen, so versteht man nur aufgrund der folgenden Ausführungen über »die modernen Philosophen«

(243), was das »schöpferisch selbst offenbarend« gewordene Eingedenken voraussetzt. Man kann annehmen, Bloch denke hier vor allem an Kants kopernikanische Wendung, wie folgende Stellen nahelegen:

[V]or allem [muß] das Kantisch Konstruktive, das heißt rufende, erzeugende, unpassive, produktive Denken seinen sicheren Platz vor aller schließlichen Adäquation des »Intellekts« mit der »Sache« als dem erneuten scholastischen Wahrheitskriterium gewinnen. (260)

Wir sind nicht mehr so glücklich, daß sich irgend etwas sinnlich oder eingebo‑

ren einfach empfangen ließe. Und so zeigt sich in dem Kantschen Begriff der Erzeugung auch die platonische Lehre von der Wiedererinnerung, von der bloß versteckten Existenz der transzendenten Verknüpfungsformen, innerhalb des neuen, nordischen Mühe‑ und Arbeitsbewußtseins endgültig aufgehoben. (273)28 Im Vordergrund von Blochs Diagnose des Zeitgeistes stehen zunächst zwei Denker: Henri Bergson und Edmund Husserl.29 Liegt beim ersten der Akzent auf dem Schöpferischen,30 so beim zweiten eher auf dem Of-fenbarenden. In seiner Kritik berührt Bloch übrigens ein Thema, das auch Benjamin, allerdings von einer ganz anderen Perspektive, beleuchten wird.

Gegen Bergsons Verabsolutierung des Flusses plädiert Bloch nämlich für den Stillstand, der von ihm teleologisch als Am-Ziel-Sein oder Erfüllung

28 Schließlich sei durch Kant »das Denken frei und versuchend geworden […], ein neues, nicht mehr empfangendes Medium der Selbsttätigkeit.« (288 f.)

29 Neben Husserl und Bergson befasst sich Bloch auch mit Eduard von Hartmann. Darauf werde ich aber nicht eingehen, da seine diesbezüglichen Ausführungen für unser Thema nicht von Belang sind.

30 Ich denke z. B. an folgende Stelle: »[B]ei Bergson [herrscht] schließlich allein die schlechte Freude an dem leeren, in sich weglosen Akt des Schaffens, des göttlichen unter sich Schaf‑

fens, wie es […] in den niedrig sprunghaften Gebilden der gärenden Natur erkennbar ist.

Das ist der merkwürdige Fall eines genau wiederholten Schopenhauerianismus« (255).

gedacht wird, nach dem bündigen Motto: »Man kann einen Fluß nicht einmal denken, ohne die Mündung mit zu meinen.« (254)31

Im Abschnitt über Husserl begegnet der Ausdruck ›Eingedenken‹ häufig, denn in Blochs Deutung kommt ihm innerhalb der phänomenologischen Methode eine wichtige Rolle zu. Zunächst einmal versucht Bloch, diese Methode in ihren verschiedenen Momenten zu zergliedern, da er der Meinung ist, am phänomenologischen Ansatz sei »ein vielfaches und unter sich nicht ganz vereinbares Tun am Werk« (255). Danach zählt er folgende vier Tätigkeiten auf:

Das Beschreiben, das Verdeutlichen, das wesensmäßige Aufzeigen des Gegebenen und zuletzt das anamnetische Eingedenken werden durchaus nicht deutlich als die verschiedenen Unterströmungen und Methoden der Phänomenologie auseinandergehalten. (255)

Stellen uns die ersten drei »Unterströmungen« vor keine Schwierigkeit, da es sich um wohl bekannte Modi des phänomenologischen Verfahrens handelt, so wirkt die vierte eher irritierend. Wenn man aber bedenkt, dass das Adjektiv ›anamnetisch‹ offenbar auf die platonische Anamnesis verweist, dann kann man den rätselvollen Ausdruck ›anamnetisches Ein-gedenken‹ mit voller Berechtigung in den phänomenologischen terminus technicus ›Wesensschau‹ übersetzen.

Für unsere Arbeit bedeutsamer sind allerdings andere Stellen im selben Abschnitt, in denen es um das Eingedenken geht, besonders wo Bloch folgende originelle These aufstellt:

[E]s [gibt], wobei allerdings eine ganz andere als die übliche, leidenschaftslos betrachterische Haltung einzunehmen wäre, irgendwie eine Beziehung der Phä‑

nomenologie zu dem Eingedenken, dem Gesolltsein, den ethisch‑ontologischen Begriffen. (259)32

Hier wird das Eingedenken mit einem ethisch-ontologischen Begriff gleich-gesetzt, in dem eine Beziehung auf die eigentümliche Sphäre des Gesollt-seins hergestellt wird.33 Bloch verwendet den ungewöhnlichen Ausdruck

›Gesolltsein‹ statt ›Sollen‹. Warum? Statt einer bloß passivischen bzw.

31 Vgl. besonders folgende Stelle: »Nichts liegt gerade dem feurigen, affektvollen, zielhaften Menschen näher, als den zunächst grundlosen Elan endlich zum Stillstand, zur Farbe und zur Konfession zu zwingen. Man soll nicht jenem horazischen Bauer gleichen, der vergebens darauf wartet, daß der Fluß endlich einmal abfließt, und man soll nicht vor den Türen der mehr oder minder großen Augenblicke wie vor einer Theaterkasse antechambrieren, statt die Zeit in jeder Sphäre zu überholen und den Mangel an Entelechie zu füllen.« (254)

32 Über Blochs Begegnung mit der Phänomenologie vgl. Pelletier 2009 (besonders 273 f.).

33 Im weiteren Verlauf desselben Kapitels verteidigt Bloch mit Vehemenz den Kantischen Vorrang des Sollens gegen Hegels Kritik, besonders die These, nach der »das theoretische Sein abhängig sei von dem ethischen« (288).

partizipialen Form von ›sollen‹ bei Bloch anzunehmen, denke ich, dass er auf ein vergangenes Sollen anspielen wollte, auf ein Gesolltes, das darauf wartet, in der Gegenwart eingelöst zu werden. Das Vergangene begnügt sich nicht damit, ontologisch als Gegenstand, z. B. der Archäologie, der Philologie oder der Geschichtswissenschaft, betrachtet zu werden. Als noch nicht eingelöstes Gesolltes verlangt es danach, ethisch aufgewertet zu werden: Eine gewisse Affinität zu Nietzsches Auffassung der monu-mentalen Geschichte ist hier nicht zu verkennen.34 Ein paar Seiten später kommt Bloch auf denselben Punkt zurück und wiederholt seine These folgendermaßen:

Das wäre dann, wobei also die übliche, leidenschaftslos betrachterische Haltung einer Liebeskraft sondergleichen gewichen wäre, die vollendete Beziehung der Phänomenologie zu dem Eingedenken, dem Gesolltsein, den ethisch‑ontolo‑

gischen Begriffen als der eigentümlichen Schicht keineswegs nur privat reflexiver Akte, obwohl ihnen die objektiv reale Erfüllung, zutiefst auch Erfüllbarkeit überhaupt noch fehlt. […] Auch das Eingedenken ist ohne vorheriges Denken und ohne die leidenschaftliche, Kierkegaardsche Lebenssorge des Subjekts nicht zu erreichen. (261)

Bloch, der den fruchtbaren Ertrag der phänomenologischen Analysen vor allem für eine gründliche Bedeutungsanalyse und angemessene Begriffsklä-rung zu schätzen weiß,35 steht allerdings der einseitigen Verabsolutierung der reinen, voraussetzungslosen Kontemplation bei Husserl sehr kritisch gegenüber. Er hält eine Überwindung dieser Einseitigkeit für notwendig, und zwar durch die Einbeziehung des ethischen Strebens in seinen para-digmatischen Gestalten: als »Liebeskraft« und als leidenschaftliche »Le-benssorge«. Anders gesagt, Husserl muss um Kierkegaard ergänzt werden.

In der Ethik erweisen sich der metaphysische Anspruch auf Vorausset-zungslosigkeit sowie das Ideal einer »leidenschaftslos betrachterische[n]

Haltung« als verhängnisvolle Hemmungen, die radikal in Frage gestellt werden müssen. Erst in dieser anstrengenden Selbstüberwindung, die Bloch auch als »Revolution aller Erkenntnistheorie« (260) bezeichnet, wird der Phänomenologe imstande sein, einen Zugang zur ethisch-ontologischen Sphäre sicherzustellen. Bedeutsam im letzten Passus ist auch der Bezug auf

34 So Nietzsche in § 2 der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen: »Wodurch also nützt dem Gegenwärtigen die monumentalische Betrachtung der Vergangenheit, die Be‑

schäftigung mit dem Classischen und Seltenen früherer Zeiten? Er entnimmt daraus, dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird.« (1874, 256)

35 So redet Bloch zum Beispiel von »dem außerordentlich fruchtbaren Brentano‑Husserlschen Gegensatz zwischen Aktverdeutlichung und Gegenstandsverdeutlichung« (256) und meint, unter gewissen Bedingungen könne sich die Bedeutungsanalyse »zu außerordentlichen Nutzen« (257) erheben.

den Begriff der Erfüllung bzw. Erfüllbarkeit: Gerade weil das Eingedenken als ein Sich-Besinnen auf das Gesolltsein oder auch als das »sich Vernehmen des Utopischen« (260) bestimmt wird, stellt sich die phänomenologische Frage nach dem in jedem Erlebnis waltenden Verhältnis von Intention und Erfüllung.36 Diese Dialektik erweist sich angesichts des Eingedenkens als besonders kompliziert, da sie sich nicht einfach auf die ontologische Polarität ›Abwesenheit-Präsenz‹ zurückführen lässt. Im Eingedenken erlebt man nämlich so etwas wie eine Erfüllung in absentia. Wie ich im weite-ren Verlauf meiner Lektüre zeigen werde, löst sich das Gesollte nicht in der Aufweisung eines Gegenwärtigen ein (sei es eines Gegenstandes oder einer Handlung), sondern eher in der Erschließung einer Perspektive auf die Zukunft, die in Blochs Frühwerk apokalyptischen Charakter hat.37 Man denke zum Beispiel an die oben zitierte »Liebeskraft«: Die einge-denkende Intention der Liebe findet ihre Erfüllung nicht in diesem oder jenem gegenwärtigen Akt (will heißen: ›Diese meine Tat beweist, dass ich dich liebe‹), sondern in einer »Lebenssorge«, die als offene Bereitschaft, als ständiges Zuvorkommen, als unbedingte Verpflichtung die Züge eines permanenten Antizipierens trägt. Nicht von ungefähr sah Platon in der Liebe das Vorbild einer unaufhaltsamen Selbstüberwindung. Das zwingt uns aber dazu, in der Erfüllung des Eingedenkens auch den Gegensatz

›statisch-dynamisch‹ zu suspendieren. Wenn nämlich mit dem Eingedenken ein Sich-Erschließen der Zukunft einhergeht, das sich auf ein der Erlösung harrendes Unabgegoltenes bezieht, hat man es hier weder mit dem Fließen der Zeit noch mit ihrem Erstarren zu tun, sondern mit einer ursprünglichen Ekstase, die dem Sich-Orientieren in der Zeit zugrunde liegt.

Um den die Phänomenologie ergänzenden Akt des Eingedenkens besser zu verdeutlichen, beruft sich Bloch auf Malebranche:

Daraus erst könnte das Fünfte, der fünfte Sinn der Phänomenologie entstehen, nämlich total gesprochen: das sich entgegen Sehen, bis das Ding sich darin entgegen sieht, oder wie Malebranche es ausdrückt, die Aufmerksamkeit als das natürliche Gebet der Seele, das Eingedenken, die Entdeckung einer ontischen Phänomenologie, wie sie lediglich auf das keimende Innere der Dinge, auf eine

36 Vgl. dazu Husserls Logische Untersuchungen, besonders die sechste: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis (Husserl 1901).

37 Mit Geist der Utopie wollte Bloch »die Seele als echten Kosmos, die Selbstbegegnung als den Inhalt aller Kulturwerte, die Feinde und Genien der universalen, absoluten Selbstbe‑

gegnung in der Apokalypse […] systematisieren, als welche allein den völligen Mecha‑

nismus des Erwachens und der mystischen Selbsterfüllung in Totalität vorstellt« (291).

Anders gewendet, er zielte darauf ab, »die im Tod vorgebildete und in alle Weissagungen eingeschlossene Apokalypse überhaupt noch in die Zeit ein[zu]beziehen« (312), denn »die Apokalypse ist das Apriori aller Politik und Kultur, die sich lohnt so zu heißen« (341).

universale Selbstbegegnung, Christusbegegnung in allen Teilen der Welt, zutiefst auf das moralische Innere, gerichtet wäre. (260)38

Hier erscheint das Eingedenken keineswegs als subjektives Vermögen, sondern als Schauplatz für die Entfaltung des »keimende[n] Innere[n] der Dinge«. Im Eingedenken sieht sich das Ding entgegen. Um eine präzisere Vorstellung von diesem verblüffenden Umstand zu gewinnen, muss man auf die ersten Seiten des Buches zurückgreifen. Dort versucht sich Bloch erfolgreich an dieser eigentümlichen ontischen Phänomenologie, indem er einen alten Krug beschreibt, um allmählich mimetisch in ihm zu versinken:

»[W]er den alten Krug lange genug ansieht, trägt seine Farbe und Form mit sich herum« (14).39 Das Eingedenken erscheint demnach als Steige-rung der Aufmerksamkeit bis zu einer solchen Intensität, wo schauendes Subjekt und Geschautes, indem sie ineinander übergehen, »das keimende Innere der Dinge« aufblühen lassen. Keimend ist das Unabgegoltene, das vergessene Gesollte, das die rein kontemplative Haltung verfehlt.40

In seiner Beschreibung der »Gedankenatmosphäre« seiner Zeit be-schränkt sich Bloch nicht auf die Kritik zeitgenössischer Denker wie Berg-son und Husserl, er greift vielmehr auf Figuren der Vergangenheit zurück, bei denen wesentliche, zum guten Teil noch unerforschte Anregungen bereit liegen. Unter diesen Figuren ragt diejenige Nietzsches heraus. Bei ihm leuchte nämlich »zuerst die Ahnung eines noch nicht bewußten Wissens auf« und ziehe »ein motorisches Denken des Neuen herauf, als die große, bisher noch völlig undurchforschte Bewußtheit oder Bewußtseinsklasse eines Eingedenkens, wie es unter Abzug aller bloßen Wiedererinnerung und alles bloßen erfüllten Alphas des Platonismus oder Hegelianismus der Welt ihr Ziel geben möchte« (269).41 Nietzsches Philosophieren sei »auf

38 Denselben Ausdruck Malebranches zitiert bekanntlich Benjamin in seinem Kafka‑Essay:

»Wenn Kafka nicht gebetet hat – was wir nicht wissen – so war ihm doch aufs höchste eigen, was Malebranche ›das natürliche Gebet der Seele‹ nennt – die Aufmerksamkeit«

(GS II, 432). Es könnte sich um einen interessanten Fall einer unwillkürlichen Erinnerung an seine Lektüre von Geist der Utopie handeln. Dass tatsächlich das Beten für Bloch eine kaum zu überschätzende messianische Rolle spielte, geht eindeutig aus dem vermeintli‑

chen Sohar‑Zitat hervor, mit dem sich das Werk seinem Abschluss neigt (444). Über die wirkliche Quelle dieses Zitates vgl. Bonola 2006, 262 ff.

39 Über dieses Sich‑in‑den‑Krug‑Versenken und dessen philosophischen Rang im Vergleich zu Georg Simmels geistreich ästhetisierende Ausführungen über den Henkel (Simmel 1905) bleibt nach wie vor Adornos Würdigung von Geist der Utopie in seinem 1965 veröffent‑

lichten Aufsatz Henkel, Krug und frühe Erfahrung aufschlußreich (Adorno 1965).

40 Eine ähnliche Wendung kehrt an der folgenden Passage wieder: »Wir suchen weiter nach jenem Korn, das hier nicht wuchs. Es möge nochmals aufblühen; es möge wieder das bunte, phantastische Muster wirken und den Teppich unserer Zukunft bilden« (313).

41 Über das »Noch‑nicht‑Bewußte« vgl. auch den 1919 in den Weissen Blättern veröffentlich‑

41 Über das »Noch‑nicht‑Bewußte« vgl. auch den 1919 in den Weissen Blättern veröffentlich‑