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Proust als Phänomenologe

3.4. Das anonyme Weben des Vergessens

In Zum Bilde Prousts mutet zunächst der Ausdruck »Penelopearbeit des Eingedenkens« rätselhaft an. Benjamin präzisiert seine Wortwahl wie folgt:

Ist dies Werk spontanen Eingedenkens, in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen das Zettel ist, nicht vielmehr ein Gegenstück zum Werk der Pene‑

lope als sein Ebenbild? Denn hier löst der Tag auf, was die Nacht wirkte. An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen. Aber jeder Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. (GS II, 311; Hervorhebungen S. M.)

In diesem prägnanten Denkbild kommt dem Vergessen eine zentrale Rolle zu:35 In welchem Sinne steht das ungewollte Eingedenken »dem Vergessen viel näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird« (ebd.)? Dafür kann man mindestens zwei Gründe angeben. Erstens setzt jeder Akt des Sich-Erinnerns eine gewisse Latenzzeit voraus, d. h. eine Phase, in der das Erlebte dem Bewusstsein nicht mehr gegenwärtig ist,36 und dieser Umstand betrifft sowohl die willkürliche als auch die unwillkürliche Erinnerung.

Andererseits aber zeichnet sich das Eingedenken dadurch aus, dass es eben unwillkürlich, geradezu passiv erlebt wird, ähnlich wie es beim Vergessen der Fall ist: Ich kann nicht etwas vergessen wollen, höchstens kann ich versuchen, etwas wegzudenken, indem ich mich auf die Suche nach Ablenkungen begebe.

Das Eingedenken erscheint also als ein paradoxes Phänomen: Man erinnert sich unwillkürlich an ein längst Vergangenes nur insofern, als man es vergessen hat und gleichzeitig dabei sich selbst vergisst. Es ist das unerwartet eintretende Sich-Erinnern eines sich dabei vergessenden Subjekts. Daraus entsteht jenes eigentümliche Gefühl der Entrückung, das jede mémoire involontaire begleitet und sie als Unterbrechung und Sprengung der fortgehenden Zeit, als plötzliche, befremdende, manchmal sogar schockartige Ekstase heraushebt, der man sich nicht entziehen kann. In dieser unsere subtilste Aufmerksamkeit in Anspruch nehmenden Passivität fühlt man sich gewissermaßen dazu forciert,37 eines Bildes zu

35 Auf den Stellenwert des Vergessens bei Proust weist auch Jeanne Marie Gagnebin (1994, 106) nachdrücklich hin: »Ce n’est donc pas parce que Proust se souvient qu’il raconte, mais parce qu’il ne se souvient qu’au plus profond de l’oubli.«

36 Ich verwende hier den Begriff ›Latenz‹ in Anlehnung an Freuds Ausführungen in Der Mann Moses und die monotheistische Religion (Freud 1938, 515 ff.).

37 In seiner Proust‑Deutung betont Deleuze den Stellenwert des Verbs ›forcer‹ in der Recherche:

»Le leitmotiv du Temps retrouvé, c’est le mot forcer: des impressions qui nous forcent à

gedenken, dessen Anschaulichkeit häufig an Intensität die Wahrnehmung der gegenwärtigen Umstände übertrifft.

Zudem weist Benjamin im angegebenen Passus auf die Wahlverwandt-schaft zwischen Eingedenken und Nacht hin. Während wir tagsüber unter der Herrschaft eines »zweckgebundenen Handeln[s]« und eines

»zweckverhaftete[n] Erinnern[s]«, d. h. der instrumentellen Rationalität stehen, befreit uns die Nacht, besonders der Schlaf von den vielen, mit unseren sozialen Verpflichtungen zusammenhängenden Zwängen:

Darum hat Proust am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im verdunkelten Zimmer bei künstlichem Lichte all seine Stunden ungestört dem Werk zu wid‑

men, von den verschlungenen Arabesken sich keine entgehen zu lassen. (311)38 Und programmatisch verkündet der Erzähler am Ende von Le Temps retrouvé:

Si je travaillais, ce ne serait que la nuit. Mais il me faudrait beaucoup de nuits, peut‑être cent, peut‑être mille.39

Nachts arbeitet das Vergessen unaufhaltsam am Erlebten: Es webt in uns

»den Teppich des gelebten Daseins« (GS II, 311), den der nächste Tag dann wieder gnadenlos auflösen wird. Anders ausgedrückt, diesmal die Proust-Papiere heranziehend: »[A]llnächtlich macht die Erinnerung sich von neuem ans Weben.« (1061) Was in der Nacht vor sich geht, ist ein unscheinbares und unbewusstes Weben, das mehr als einen Zug mit der von Freud analysierten Traumarbeit aufweist.40 Bemerkenswert ist auch die enge Verwandtschaft dieser Gedanken mit einer höchst relevanten Einsicht, die Benjamins Passagenarbeit leitet. So liest man unter den wohl 1927−28, d. h. kurz vor dem Proust-Aufsatz niedergeschriebenen »Ersten Notizen«:

Vergangen, nicht mehr zu sein arbeitet leidenschaftlich in den Dingen. Dem vertraut der Historiker seine Sache. Er hält sich an diese Kraft und erkennt die Dinge wie sie einem Augenblick des Nicht‑mehr‑Seins sind [sic!]. (D°, 4;

GS V, 1001)

regarder, des rencontres qui nous forcent à interpréter, des expressions qui nous forcent à penser.« (1964, 117)

38 Als eifriger Kraus‑Leser kannte Benjamin wohl das »Lob der verkehrten Lebensweise«, das im Heft 257−258 der Fackel vom 19. Juni 1908 (S. 10−14) erschienen war, um 1910 in die Aufsatzsammlung Die chinesische Mauer aufgenommen zu werden (Benjamin bezieht sich darauf in seinem Kraus‑Essay, GS II, 352). Offensichtlich waren sich Kraus und Proust in dieser kompromisslosen Bevorzugung der Nacht vor dem Tag einig. Zudem muß man nach Benjamin bei Kraus »die Nacht als das Medium begreifen, in dem die dämonischen Kräfte seines Tagerlebens sich zersetzen, abmontiert und zerstreut werden, um sich in der Produktion nach deren eignen Gesetzen ganz neu zu gruppieren.« (GS II, 1091)

39 Proust 1927, 348.

40 S. unten Kapitel 3.5.

Wie das Vergangen-Sein in diesem Passus, so kann auch das Vergessen als eine »Kraft« beschrieben werden, deren Tragweite von dem abend-ländischen Denken, angefangen mit Platon, vernachlässigt wurde. Durch seine Proust-Lektüre hat sich Benjamin eine Perspektive eröffnet, die als Gegenentwurf zur metaphysischen Aufhebung des Vergessens gewürdigt zu werden verlangt.41 Ist nämlich die Metaphysik von dem Willen geleitet, die Präsenz des Seienden sowie die Identität der Vernunft mit sich selbst zu versichern,42 so bevorzugt Benjamin gerade jene Momente der Erfahrung, in denen die anonyme Macht der Abwesenheit zum prinzipiell indirekten Ausdruck kommt. Hauptbeispiele dieser das gesamte Benjamin’sche Œuvre prägenden Semantik der Abwesenheit, als deren Variationen das Sich-Verweigern und der Entzug erscheinen, sind neben dem Vergessen auch das Schweigen, das Verstummen, das Ausdruckslose, die göttliche Gewalt, der Abfall, das Versäumen (aber auch die reine Sprache, »die nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt«, GS IV, 18).43

Es sei schließlich darauf hingewiesen, dass das Bild des Webens in Benjamins Theorie der Erzählung eine wichtige Rolle einnimmt, wie schon einige wohl 1928 im Vorfeld des Erzähler-Essays niedergeschriebenen Aufzeichnungen belegen:

Wie zart ist nicht das Netz gewoben, in welchem diese wunderbare Gabe, das Erzählen, ruht und wie löst es nicht unauffällig aber unwiderruflich sich aller Ecken und Enden. (GS II, 1285)

Gerade weil es »nicht mehr gewoben« wird, während man Erzählungen lauscht, sei es »mit der Gabe, Geschichten zu behalten, zu Ende.« (1287)44

41 Neulich hat Agnes Pfrang die entscheidende Rolle des Vergessens im Lernprozess mit einer ausführlichen Studie gewürdigt, wo sie u. a. bemerkt: »Seit Platon wird Vergessen als

›Ausgehen einer Erkenntnis‹ und folglich als Negation einer noetischen Leistung begriffen.

Dies dient jedoch weder in begrifflich‑systematischer noch in gegenwartsdiagnostischer Hinsicht als befriedigende Erklärung. Vergessen darf nicht als Absenz des Bewusstseins verstanden werden, es handelt sich nicht um das andere, sondern um ein konstitutives Moment seiner Erfahrung. Deshalb gehören Vergessen und die Fähigkeit des Erinnerns zusammen. Es ist nicht das Ob entscheidend, das das Vergessen in Gegenposition zum Erinnern stellt, sondern die Art und Weise des Vergessens als integrales Moment indivi‑

dueller, intersubjektiver und allgemein kultureller Erfahrung.« (Pfrang 2010, 150)

42 Vgl. dazu Heidegger 1927, 25.

43 Über das Schweigen als »die innere Grenze des Gespräches« (GS II, 92) vgl. Die Metaphysik der Jugend (ebd., 91−104) und den Kraus‑Essay (ebd., 338 f.); über »das stumme Wort im Dasein der Dinge« (ebd., 152) und den Zusammenhang von Stummheit und Trauer in der Natur vgl. den frühen Sprach‑Aufsatz (ebd., 140−157); über das Sich‑Verweigern vgl. den Brief an Buber vom Juli 1916 (GB I, 326 f.); über das Ausdruckslose vgl. den Wahlverwandtschaften‑Essay (GS I, 181).

44 Vgl. unten Kapitel 7.