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Zur Aufdeckung der revolutionären Energien der Dingwelt

auf dem Weg zu einer Epoché des Willens

2.3. Zur Aufdeckung der revolutionären Energien der Dingwelt

Der Enteignung des Subjekts durch die Ausschaltung bzw. »Entsetzung«

(GS II, 202) des Willens entspricht im Surrealismus ein weiterer, einschnei-dender Schritt: die Entdeckung des dichterischen und politischen Potenzials der veralteten Dinge. Diese geradezu »erstaunliche[]« (299) Entdeckung wird folgendermaßen beschrieben:

Er zuerst [der Surrealismus; S. M.] stieß auf die revolutionären Energien, die im

»Veralteten« erscheinen, in den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrik‑

gebäuden, den frühesten Photos, den Gegenständen, die anfangen auszusterben, den Salonflügeln, den Kleidern von vor fünf Jahren, den mondänen Versamm‑

lungslokalen, wenn die vogue beginnt sich von ihnen zurückzuziehen. (Ebd.)

29 »La Reine des facultés« lautet der Titel des dritten Abschnittes von Baudelaires Salon de 1859 (Baudelaire 1976, 619 ff.), in dem man auf Sätze stößt, deren Bedeutung für die Surrealisten auf der Hand liegt: »C’est l’imagination qui a enseigné à l’homme le sens moral de la couleur, du contour, du son et du parfum. Elle a crée, au commencement du monde, l’analogie et la métaphore. Elle décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant des règles dont on ne peut trouver l’origine que dans le plus profond de l’âme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf. Comme elle a crée le monde (on peut bien dire cela, je crois, même dans un sens religieux), il est juste qu’elle le gouverne. […] L’imagination est la reine du vrai, et le possible est une des provinces du vrai. Elle est positivement apparentée avec l’infini.« (Ebd., 621) Zum ersten Mal hatte Baudelaire 1855 in seinem Artikel über die Exposition universelle und Ingres die Imagination als »Königin der Vermögen« bezeichnet (ebd., 585).

Darauf hatte Benjamin bereits in seiner Ende 1925 entstandenen Glosse zum Sürrealismus angespielt: »Ins Herz der abgeschafften Dinge vor-zustoßen« (621) sei das prinzipielle Anliegen von Breton und seinen Mitstreitern.30 Es handelt sich hier um einen wesentlichen Impuls für die Konzeption des Passagenprojektes,31 wie das von Benjamin zusammen mit Franz Hessel 1927  – d. h. vor der Niederschrift der Essays über Proust bzw. den Surrealismus – verfasste, unveröffentlicht gebliebene Prosastück Pariser Passagen deutlich zeigt.32 Programmatisch wird dieser Text von der Aufstellung des Gegensatzes zwischen dem Neuesten und dem Alten eingeleitet:

Die neueste Pariser Passage tat sich auf. […] Während hier dem modischsten Paris ein neuer Durchgang bereitet wurde, ist eine der ältesten Passagen der Stadt verschwunden, die Passage de l’Opéra, die der Durchbruch des Boulevard Haussmann verschlungen hat. (GS V, 1041)

Was dann folgt, ist nichts anderes als eine genaue Beschreibung von ver-alteten bzw. veraltenden Dingen, die einmal, zu einer noch nicht lange vergangenen Zeit, als neue, verlockende, begehrenswerte Waren erscheinen sollten: Eine Beschreibung, die sich nicht als »der selbstgenügsame Leer-lauf ihrer prästabilierten Apparatur«33 abwickelt, sondern ein feinfühliges Sich-Versenken in die Dinge inszeniert.34

Warum interessieren sich aber die Surrealisten und Benjamin so lei-denschaftlich für »die Kraft der ausgestorbenen Dingwelt« (GS II, 622)?

Und zunächst einmal: Was heißt ›Veralten‹ für ein Ding? Veralten oder aussterben kann nur etwas, dem man ein Leben zuspricht. Im Unterschied zu organischen Lebewesen führen anorganische Dinge ein Leben, das als

30 Die von Benjamin ursprünglich Traumkitsch betitelte Glosse (GS II, 620−622) erschien erst Januar 1927 in der Neuen Rundschau.

31 »That the Passagen-Werk has an affinity to surrealism is clear, for Benjamin asserted in no uncertain terms the centrality of high surrealism to the arcades project from its inception.« (Margaret Cohen 1993, 7)

32 Auf den engen Zusammenhang vom Surrealismus‑Aufsatz mit der Passagenarbeit verweist Benjamin in seinem Brief an Scholem vom 14. Februar 1929: »Was mich sonst in letzter Zeit anging ersiehst Du einigermaßen deutlich aus dem ›Sürrealismus‹, einem lichtundurch‑

lässigen Paravent vor der Passagenarbeit« (GB III, 438). Einer ähnlichen Formulierung bedient er sich im Brief an Scholem vom 15. März 1929 (ebd., 453 f.)

33 Adorno 1965, 558.

34 Max Pensky beschreibt Pariser Passagen als »an exercise in the tactics of remembrance«

und bemerkt zutreffend: »For such an exercise, Proust emerges as a model for the tactics of an awakening, insightful remembrance of the truth of a life – or a historical epoch – through the collection and manipulation of concrete remembered objects and impressions.

The last phrases of ›Passagen‹, in which the narrator leaves the dark arcade and reenters the ›normal‹ world of the street level, hints that the ridding experience of the arcade was also an experience of critical illumination – of awekening – which is carried over into the experience of the everyday.« (Pensky 1996, 168)

technisch bezeichnet werden kann. Wie soll man sich aber ein technisches Leben vorstellen? Ist das nicht ein bloßes Oxymoron? Aufgrund dessen, was Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers ausführt, wird es möglich, diesen Schwierigkeiten gerecht zu werden. Denn Benjamins eigenartige Thesen über das Leben der Kunstwerke können auf die Produkte der Technik überhaupt übertragen werden. Die uns interessierende Einsicht wird folgendermaßen dargelegt:

In völlig unmetaphorischer Sachlichkeit ist der Gedanke vom Leben und Fort‑

leben der Kunstwerke zu erfassen. Daß man nicht der organischen Leiblichkeit allein Leben zusprechen dürfe, ist selbst in Zeiten des befangensten Denkens vermutet worden. […] [N]ur wenn allem demjenigen, wovon es Geschichte gibt und was nicht allein ihr Schauplatz ist, Leben zuerkannt wird, kommt dessen Begriff zu seinem Recht. Denn von der Geschichte, nicht von der Natur aus, geschweige von so schwankender wie Empfindung und Seele, ist zuletzt der Um-kreis des Lebens zu bestimmen. Daher entsteht dem Philosophen die Aufgabe, alles natürliche Leben aus dem umfassenderen der Geschichte zu verstehen. (GS IV, 11; Hervorhebungen S. M.)

Das geschichtliche Leben, das (Fort-)Leben als Geschichte stellt also nach Benjamin einen umfassenderen Bereich als denjenigen des natürlichen Lebens dar.35 Darauf aufbauend könnte man im weiten Umkreis des geschichtlichen Lebens seine verschiedenen Modi aufspüren: Wie es ein natürliches Leben gibt, so auch ein technisches. Das technische Leben der von der menschlichen Arbeit hergestellten Dinge entfaltet sich im Verkehr mit ihnen: Seine Modi lassen sich nur durch eine Analyse des menschlichen Umgangs mit ihnen eruieren. In der kapitalistischen Gesellschaft erschei-nen Dinge hauptsächlich entweder als Instrumente (Mittel zu bestimmten Zwecken bzw. im Heideggerschen Jargon als zuhandenes Zeug36) – d. h.

als Träger eines gewissen Gebrauchswertes  –, oder aber als Waren, d. h.

als Träger eines quantifizierbaren Tauschwertes. Ein veraltetes Ding ist demnach ein Ding, dem sowohl sein Gebrauchs- als auch sein Tauschwert abhandengekommen sind; ein Ding, dem keine Funktion mehr zugespro-chen werden kann: etwas nutzloses und nicht verkäufliches, dessen Leben

35 Über die Denkfigur des Nachlebens, die »heute zu den zentralen Begriffen einer Kultur‑

wissenschaft gehört, die sich am Paradigma des kulturellen Gedächtnisses orientiert«, vgl.

Weidner 2011 (hier S. 161).

36 Der berühmten Phänomenologie des besorgenden Umganges mit Dingen qua Zeugen ist

§ 15 von Sein und Zeit gewidmet, wo es u. a. heißt: »Das Eigentümliche des zunächst Zuhandenen ist es, in seiner Zuhandenheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein.« (Heidegger 1927, 69) Das impliziert aber, weder als Zeug noch als Ware ist das Ding in seinem konkreten Dasein wahrgenommen. Nun besteht der revolutionäre Gestus der Surrealisten in dem Versuch, die Dinge von ihrer permanenten Entfremdung zu retten, sie wieder wahrnehmbar zu machen. Das setzt aber die gewaltige Unterbrechung sowohl der von Heidegger aufgedeckten Verweisungsstruktur der Zuhan‑

denheit als auch der von Marx analysierten Warenzirkulation voraus.

eher einem gespenstischen Überleben gleichkommt.37 Die Analogie mit dem organischen Leben weiterführend, kommt man zum folgenden Schluss: Das dem Aussterben ausgesetzte, sinnentleerte und mortifizierte Ding kann als Leiche weiter existieren.38 Nicht von ungefähr sah Benjamin in Aragons Le paysan de Paris »den bewegtesten Nachruf, der je von einem Mann der Mutter seines Sohnes ist gehalten worden.« (GS V, 1057)39

Wenn ein Gegenstand auszusterben anfängt, wenn die vogue sich von ihm zurückzieht, dann erschließt sich eine neue Perspektive auf ihn, deren Tragweite erstmals in den surrealistischen Texten zum Vorschein kam.

Ein Ding, das weder als instrumentell auszubeutendes Zeug noch als zu begehrende Ware erscheint, erschließt  – wieder  – seine Potenzialitäten, und zwar in seiner bisher verdeckten Materialität.40 Wie Lukács in seinem von Benjamin hochgeschätzten Buch Geschichte und Klassenbewußtsein (1923)41 gezeigt hat, bringen die kapitalistischen Verhältnisse eine »rati-onelle Objektivierung« mit sich, die »den qualitativen und materiellen – unmittelbaren Dingcharakter aller Dinge« verdeckt:42

Indem die Gebrauchswerte ausnahmslos als Waren erscheinen, erhalten sie eine neue Objektivität, eine neue Dinghaftigkeit, die sie zur Zeit des bloßen gele‑

gentlichen Tausches nicht gehabt haben, in der ihre ursprüngliche, eigentliche Dinghaftigkeit vernichtet wird, verschwindet.43

37 Es sei allerdings nebenbei bemerkt, wie sich seit Benjamins Tod eine blühende Industrie der sogenannten vintage products unaufhaltsam entwickelt hat, die dazu beiträgt, veraltete Dinge in begehrenswerte Waren zurückzuverwandeln. Dieses Phänomen kann allerdings auf das Stichwort ›Mode‹ zurückgeführt werden, während der surrealistische Umgang mit dem Veralteten der ökonomischen Sphäre des Konsums bewusst kritisch gegenübersteht.

38 »It is precisely when they no longer circulate, as well behaved commodities should, that things begin to give signs of a more subversive potential.« (Wohlfarth 1986c, 147) Über das Ding als Leiche vgl. Groys 2010.

39 Darüber vgl. Fürnkäs 1988, 22 f.

40 Dass die Materie hauptsächlich als dynamis gedacht werden muss, ist bekanntlich ein Lehrsatz der Aristotelischen Ontologie, innerhalb deren allerdings der Form bzw. ›energeia‹

eine klare Vorrangstellung zugesprochen wird. Dieses Postulat wurde von vielfältigen materialistischen Ansätzen (z. B. von Giordano Bruno) immer wieder in Frage gestellt.

Für eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit dem hylemorphischen Schema vgl.

Simondons klassische Studie über das Problem der Individuation (2005, 48 ff.).

41 Neben Alois Riegls Spätrömische Kunstindustrie (1901), Alfred Gotthold Meyers Eisen-bauten (1907) und Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) gehört Lukács’ Werk zu den vier von Benjamin auserlesenen »Büchern, die lebendig geblieben sind« (GS III, 169−71), wie der Titel eines am 17. Mai 1929 in Die literarische Welt erschienenen Artikels lautet. Bereits im Brief an Scholem vom 16. September 1924 berichtet Benjamin von seinem großen Interesse für Lukács, der »von politischen Erwägungen aus in der Erkenntnistheorie, mindestens teilweise, und vielleicht nicht ganz so weitgehend, wie ich zuerst annahm, zu Sätzen kommt, die mir sehr vertraut oder bestätigend sind.« (GB II, 483)

42 Lukács 1923, 183.

43 Ebd. Eine wichtige Einsicht, die Benjamin Lukács verdankt, besteht fernerhin in der Auffassung der Technik als ›zweiter Natur‹. Wie Michael Jennings (1987, 75) zu Recht

Anders ausgedrückt, der Gegenstand wird »durch seinen Warencharakter in seiner Gegenständlichkeit entstellt«.44 Wenn die bürgerliche Betrach-tungsweise die Gegenständlichkeit »dadurch entstellt, daß sie ihr ihre Funktion im kapitalistischen Produktionsprozeß als ›ewigen‹ Wesenskern, als unablösbaren Bestand ihrer ›Individualität‹ andichtet«,45 ermöglicht die surrealistische Rettung der aussterbenden Dinge ihre Historisierung, da-durch aber die Aufdeckung ihres dichterischen und politischen Potenzials.

Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass sich im Unterschied zum revolutionären Proletariat die Surrealisten eben nicht zum von Lukács vertretenen Standpunk der Totalität als Gesamtprozess erheben, da sie den einzelnen Dingen in ihrer starren Singularität treu bleiben – ein Gestus, der mehr als eine Ähnlichkeit mit der Haltung des barocken Allegorikers aufweist. Wie dieser praktizieren auch die Surrealisten systematisch eine

»Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge« (GS I, 330). In dieser Versunkenheit nehmen sie weiterhin »die toten Dinge in ihre Kontem-plation auf, um sie zu retten.« (334) Das Ergebnis dieses allegorischen, von den Surrealisten aktualisierten Verfahrens lässt sich mit Benjamins Trauerspielbuch so auf den Punkt bringen: »Der falsche Schein der To-talität geht aus.« (352)

Andererseits fällt eine unverkennbare Wahlverwandtschaft der Surre-alisten mit dem Typ des Sammlers auf, da sie gewissermaßen nicht müde werden, Wahrnehmungen zu sammeln. Im 1931 von Benjamin veröffent-lichten Artikel Ich packe meine Bibliothek aus wird ja dem Sammler die Fähigkeit zugesprochen, ein eigentümliches Verhältnis zu den Dingen zu pflegen, »das in ihnen nicht den Funktionswert, also ihren Nutzen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt.« (GS IV, 389) Nun stößt man schon in den ersten Notizen zur Passagenarbeit (1927−29) auf eine weit tragende Phänomenologie des Sammlers:

Man mag davon ausgehen, daß der wahre Sammler den Gegenstand aus seinen Funktionszusammenhängen heraushebt. […] dergestalt, daß der Sammler zu einem unvergleichlichen Blick auf den Gegenstand gelangt, einem Blick, der mehr und anderes sieht als der des profanen Besitzers und den man am besten mit dem Blick des großen Physiognomikers zu vergleichen hätte. (GS V, 1027)

betont: »Benjamin’s concept of nature after 1924 [d. h. nach seiner Lukács‑Lektüre] comes to include not only the physical and creaturely but the man‑made, cultural, and historical as well.«

44 Lukács 1923, 184.

45 Ebd., 273.

Dementsprechend kann man die Surrealisten in Analogie zu den Sammlern als »Physiognomiker der Dingwelt« (ebd.) bezeichnen. Dabei muss man bedenken, dass Benjamin der Physiognomik als eigentümlicher Vorgehens-weise eine prinzipiell vom mythischen Schuldzusammenhang befreiende Funktion zuschreibt. »Die Physiognomik wie die Komödie sind Erschei-nungen des neuen Weltalters des Genius gewesen.« (GS II, 178 f.) Dass man aber von einer Physiognomik der Dinge reden kann, ist nicht ohne weiteres einleuchtend und bedarf einer Erklärung. Versteht man nämlich unter Physiognomik »die (Kunst-)Lehre, bei Lebewesen – vor allem beim Menschen – von äußeren Zeichen und Merkmalen (Gesichtszüge, Mimik, Kopfform, Körperbau, Haltung, Gebärden usw.) auf seelische Eigenschaf-ten (FähigkeiEigenschaf-ten und Anlagen, Gefühle, Temperament und Charakter sowie Krankheiten und Schicksalsverlauf) zu schließen«,46 dann mag Benjamins seltsame Formulierung zunächst als fragwürdig erscheinen: Kann man auch im Falle eines materiellen, anorganischen Dinges die genaue Beschreibung seiner äußeren Züge als Ausgangspunkt nehmen, um in sein Inneres ein-zudringen? Worin besteht das Innere eines Dinges? Haben auch Dinge eine Seele? Ist es sinnvoll, den metaphysischen Dualismus Körper-Seele auf technische Erzeugnisse zu übertragen?

Die Unzulänglichkeit solcher Fragen wird offensichtlich, sobald man sich die Analyse des Warenfetischismus bei Marx vergegenwärtigt. Durch sein Auftreten auf dem Markt verwandelt sich das Ding in eine Ware, d. h.

in ein sinnlich-übersinnliches Zwitterwesen, das die Hauptrolle in der groß-artigen kapitalistischen Phantasmagorie spielt: »ein sehr vertracktes Ding […] voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mücken«, wie es im Kapital heißt.47 Ohne hier weiter auf das komplexe Phänomen des Warenfetischismus einzugehen,48 wollen wir uns jetzt darauf beschränken, den eigentümlichen Gestus des Physiognomikers der Dinge zu erörtern.

46 Stichwort ›Physiognomik, Physiognomie‹ in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel, 1989, S. 955.

47 Vgl. K. Marx, Das Kapital, I. Abschnitt, I. Kap., § 4: »Der Fetischcharakter der Waare und sein Geheimniß«. In seinem Brief an Scholem vom 20. Mai 1935 schreibt Benjamin:

»Ich will dir soviel andeuten, daß auch hier [in der Passagenarbeit; S. M.] die Entfaltung eines überkommenen Begriffs im Mittelpunkt stehen wird. War es dort [im Trauerspielbuch, S. M.] der Begriff des Trauerspiels so würde es hier der des Fetischcharakters der Ware sein.« (GB V, 83) Dazu bemerken die Herausgeber: »Bekannt war ihm [Benjamin] die Theorie des Warenfetischismus wohl in erster Linie in ihrer Lukács’schen Version; gleich vielen linken Intellektuellen seiner Generation verdankte Benjamin sein marxistisches Rüs‑

tezeug weitgehend dem Verdinglichungskapitel aus Geschichte und Klassenbewußtsein.«

(GS V, 26)

48 Über Warenfetischismus vgl. u. a. Debord 1967, Agamben 1977 (Kapitel 2), Böhme 2006 (307 ff.).

Was dabei zunächst auffällt, ist die Tatsache, dass die Dichotomie Außen-Innen bzw. Körper-Seele ihre Gültigkeit einbüßt: Sie wird von der Polarität Ding-Bild ersetzt, die nach dem Prinzip der Ähnlichkeit ihre imaginative Dynamik entfaltet. In der Physiognomik der Dingwelt handelt es sich nicht darum, vom äußeren Erscheinungsbild des gegebenen Dinges auf seinen vermeintlichen inneren Charakter zu schließen, sondern darum, zunächst einmal die unverwechselbare Einzigartigkeit dieses bestimmten Dinges zu würdigen (das Ding als Exemplar), um dann seinem bildlichen, imaginativen Potenzial freien Lauf zu lassen.49 Kein Schluss vom Phäno-men auf sein unscheinbares Wesen also, sondern die Wiederherstellung der verlorenen Wahrnehmbarkeit der Dinge in ihrer vergänglichen Prä-senz. Die Dinge haben zwar keine Seele, dafür aber eine Geschichte: die Geschichte der meistens vergessenen Erfahrungen, die man an ihnen bzw.

vor ihrem Hintergrund gemacht hat und aus denen sich ihre Aura gebildet hat. So verwandelt sich unter Aragons Augen die ihrem Abriss unfreiwillig entgegeneilende Passage de l’Opéra in den Schauplatz, auf dem sich seine alltäglichen Streifzüge abspielen.

Darin besteht also das revolutionäre Potenzial, das in den aussterbenden Dingen steckt: Indem sie in der zur Routine gewordenen Ordnung der Welt keinen Platz mehr haben und nicht mehr funktionieren, erscheinen sie als Risse im alltäglichen Umgang mit den uns umgebenden Objekten und Räumen, als Risse, die einen Blick auf eine nicht verdinglichte Erfahrung eröffnen. Aus scheinbar gleichgültigen, toten Dingen werden Landschaf-ten, die das Stadtleben ständig begleiLandschaf-ten, färben und auf geheimnisvolle Weise beeinflussen.50 Allerdings bliebe das an den Dingen haftende, in ihnen schlummernde geschichtliche Leben stumm, wenn man es nicht in Bilder übersetzte. Will man also die Idee eines in den Dingen liegenden revolutionären Potenzials angemessen erhellen, erweist sich die Erörterung des Benjaminschen Bildbegriffs als unumgänglich.51

49 Das Wort ›Exemplar‹ geht auf das lat. Verb eximere zurück, das ›beiseite legen‹, ›aufbewah‑

ren‹ bedeutet. Genau das tut der Sammler: Er legt sorgfältig die Stücke seiner Sammlung beiseite, denn jedes von ihnen besitzt für ihn exemplarischen Charakter.

50 Ich meine hier ›Landschaft‹ als Schauplatz, in dem sich das wahrnehmende Subjekt bewegt, nicht als ästhetisch‑kontemplatives Objekt, über das sich Lukács (1923, 280 f.) zu Recht kritisch äußert.

51 Ich setze hier Sigrid Weigels Ausführungen über Benjamins Bildbegriff voraus: vgl. Weigel 1997 (52−62). Über Benjamins Umgang mit Kunstwerken vgl. weiterhin Weigel 2008 (265−96).