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Das Eingedenken als revolutionäre Forderung im Münzer‑Buch

Blochs Idee des Eingedenkens bezieht sich nicht nur auf die messianisch gefärbte Erfahrung des sich Vernehmens des Utopischen, wie wir in unserer Lektüre von Geist der Utopie gesehen haben, sondern auch auf die Ausarbeitung einer ganz besonderen Art der Geschichtsschreibung.

Das zeigt sich in seiner 1921 veröffentlichten Studie Thomas Münzer als Theologe der Revolution, die Benjamin gelesen hat, wie sein Verzeichnis der gelesenen Schriften belegt (GS VII, 450).74 Auf den ersten Seiten dieser Monographie erläutert Bloch seine im Eingedenken wurzelnde Methode wie folgt:

73 Man vergleiche folgende Passagen. Bloch: »[D]aß das seelische Leben auch über die Ver‑

nichtung der Welt hinausschwinge, dazu muß es im tiefsten Sinne »fertig« geworden sein und seine Taue mit Glück um die Pfosten der jenseitigen Landungsstelle geworfen haben, soll nicht auch das seelische Keimplasma in den Abgrund des ewigen Todes gerissen, und das Ziel, auf das es bei der Organisierung des Erdenlebens vor allem ankommt, das ewige Leben, die auch transkosmologische Unsterblichkeit, die alleinige Realität des Seelenreichs, die Restitutio in integrum aus dem Labyrinth der Welt — durch Satans Erbarmen verfehlt werden« (442). Benjamin: »Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden« (GS II, 203). Über den Hintergrund des Theologisch-politischen Fragments vgl. Elke Dubbels’ Aufsatz Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter Benjamins ›Theologisch-politischem Fragment‹ (2010, 57 ff.), in dem allerdings Blochs Verwendung des lateinischen Ausdrucks ›restitutio in integrum‹

nicht erwähnt wird.

74 Mit der Verfassung seiner Monographie über Münzer folgte Bloch einer ursprünglichen Anregung Hugo Balls, wie man dem »Nachwort« von Hans Dieter Zimmermann zu Balls Kritik der deutschen Intelligenz entnehmen kann: »Der erste Beitrag, den Hugo Ball für

›Die Freie Zeitung‹ in Bern schreibt, gilt […] Thomas Münzer: ›Aufgabe für einen deutschen Philologen (Zur Reformationszeit)‹, erschienen am 26. September 1917, also ausgerechnet in der Zeit, als alle Welt des Reformators Martin Luther gedachte – 400 Jahre nach dem Anschlag seiner Thesen in Wittenberg. Dieser Aufgabe, eine Biographie des zu Unrecht vergessenen Anführers der hungernden Bauern zu schreiben, hat sich später Ernst Bloch gestellt, von Ball angeregt« (Ball 1919, 475). Kambas (1996, 73) bestätigt diese Auskunft.

In Zur Kritik der deutschen Intelligenz (am 15. Januar 1919 erschienen, demselben Tag, an dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden) ist nicht von ungefähr ein ganzes Kapitel Thomas Münzer gewidmet.

Gewiß ist die vorliegende Arbeit, unerachtet ihres empirischen Unterbaus, we‑

sentlich geschichts‑ und religionsphilosophisch gehalten. Diesem entsprechend, daß nicht nur unser Leben, sondern alles von ihm Ergriffene fortarbeitet und derart nicht in seiner Zeit oder überhaupt innergeschichtlich beschlossen bleibt, sondern als Figur des Zeugnisses weiterwirkt, in ein übergeschichtliches Feld.

[…] Folglich ist die Geschichte mit Erinnerung allein nicht heraufzubringen, gesellt sich den Kategorien der Wirksamkeits‑ oder noch innerhistorischen Wertbeziehung nicht auch noch das Weiterleben, das schließliche Selbst‑ und Allbetroffensein, der eigentlichste »Neudruck«, das produktive Schema des Eingedenkens hinzu: als unbetrügliches, essentielles Gewissen für all das Un‑

geschehene, uns ewig Gemeinte, Unbetretene, geschichtsphilosophisch wohl zu Betretende im bereits Geschehenen, im sinnlos‑sinnvollen Gemenge, in der wirren Durchkreuzungs‑ und paradoxen Führungssumme unseres Schicksals. Die Toten kehren, wie im neuen Tun, so im neuanzeigenden Sinnzusammenhang wieder, und begriffene Geschichte, gestellt unter die fortwirkenden revolutionären Be‑

griffe, zur Legende getrieben und durcherleuchtet, wird unverlorene Funktion in ihrer auf Revolution und Apokalypse bezogenen Zeugenfülle. Sie ist keineswegs, wie bei Spengler, zerfallene Bilderfolge, keineswegs auch, wie im säkularisierten Augustinismus, ein festes Epos des Fortschritts und der heilsökonomischen Vorsehung, sondern harte, gefährdete Fahrt, ein Leiden, Wandern, Irren, Suchen nach der verborgenen Heimat; voll tragischer Durchstörung, kochend, geborsten von Sprüngen, Ausbrüchen, einsamen Versprechungen, diskontinuierlich geladen mit dem Gewissen des Lichts. (Bloch 1921, 14 f.)

Blochs Studie liegt »das produktive Schema des Eingedenkens« zugrunde, dessen Hauptzüge diesem dichten Passus entnommen werden können.

Um Geschichte »im fruchtbaren Sinn« (9) zu betreiben, um aus ihr den größten Nutzen fürs Leben zu ziehen, erweist sich der Rekurs auf die Erinnerung aus Blochs messianischem Standpunkt als unzulänglich. Erin-nerung ist nämlich Vergegenwärtigung dessen, was sich ereignet hat, d. h.

des Gewesenen, während es ihm darauf ankommt, »das Ungeschehene […] im bereits Geschehenen« heraufzubeschwören. Mit dieser höchst dialektischen Formulierung knüpft Bloch an seine in Geist der Utopie dargelegte motorisch-phantastische Erkenntnistheorie wieder an. Wenn es dort hauptsächlich darum ging, sich einen Zugang zur Gegenwart durch den Bezug auf die Vergangenheit zu verschaffen, so steht hier der Versuch an der Tagesordnung, einen konkreten Zugang zur Vergangenheit durch den Bezug auf die Gegenwart freizulegen.

Eingedenken lautet der Name jenes sich der Psychologie entziehenden Vermögens, welches das im Geschehenen Ungeschehene spüren und zum Ausdruck bringen kann. Ja, »die Toten kehren […] wieder«,75 jedoch nicht

75 Hugo Ball hatte sich am Ende des ersten Kapitels (»Thomas Münzer gegen Martin Lu‑

ther«) seiner Kritik der deutschen Intelligenz mit ähnlichen Worten geäußert, indem er den Schauer Luthers und Melanchtons bei der Erwähnung vom Namen Münzers beschwor:

»Etwas von diesem Schauer, von diesem Alp, scheint sich heute in Deutschland wieder zu regen. Die Geister erscheinen, die Toten erwachen. Die Idee meldet sich an wie Bancos

so, wie sie waren, also nicht, um feierlich in ein Museum der Geschlagenen aufgenommen oder als Gegenstand andenkender Veranstaltungen rehabili-tiert zu werden.76 Denn das würde letzthin – und trotz aller gutgemeinten Absichten der sich dafür Engagierenden – auf eine verharmlosende Ver-söhnung mit vergangenem Unrecht hinauslaufen. Nein, die Toten kehren lediglich in den aktuellen Kämpfen wieder, zu Blochs Zeiten zuerst in der russischen, dann in der deutschen Revolution.77 Dementsprechend erweist sich die Erinnerung als unzureichend.

Wie Bloch im ersten, extrem gedrängten Kapitel schreibt: Wir »blicken […] hier keineswegs zurück« (9). Keine Erinnerung als Aufbewahrung des Vergangenen ist hier im Spiel, als ob das Gedächtnis an sich zum Rang eines unantastbaren Wertes emporgehoben würde,78 sondern die Freilegung eines im Geschehenen auf Erlösung wartenden Potenzials, denn, wie es schon in Geist der Utopie hieß, »alles wartet auf uns« (334), und »wir werden erwartet« (345). Im Eingedenken offenbart sich also das Unein-gelöste im Geschehenen.79

Darüber hinaus kann man die zitierte Passage dahingehend deuten, dass das, was wir ›Schicksal‹ nennen, sich aus dem noch nicht bewusst gewor-denen Ungeschehenen nährt. Das ist eine der Freudschen Auffassung der seelischen Vorgänge eng verwandte Einsicht: Nicht nur auf individueller, vielmehr auch und besonders auf kollektiver Ebene werden wir unbewusst von Trieben bzw. – wie Bloch zu sagen pflegt – Tendenzen motiviert und gelenkt, die im nicht verarbeiteten Vergangenen stecken. Wie können diese noch nicht bewussten Tendenzen zu Tage befördert werden? Die

Geist: Civitas pauperrimi et sanctissimi hominis. Werden die Bancos oder die Macbeths siegen?« (1919, 182).

76 Vgl. Bodei 1979, 27.

77 Man denke zum Beispiel an folgende Stellen: »[S]o kehrt gerade auch im bolschewistischen Vollzug des Marxismus der alte gotteskämpferische, der taboritisch‑kommunistisch‑joachi‑

tische [sic!] Typus des radikalen Täufertums erkennbar wieder« (94). Und weiter: »Nun stehen, großgewachsen, die Erben der Münzerschen Webergesellen und Tuchknappen auf dem revolutionären Plan, nicht mehr zu vertreiben. […] die Sprengung des Klassen‑ und Machtprinzips, die letzte irdische Revolution steht in Geburt. […] Aber strahlend erscheint uns daran Thomas Münzer in Bild und Absicht wieder, Liebknecht mannigfach verwandt, als unerbittlicher Organisator deutlich genug, um selbst Lenin und seinem Geschlecht nicht fernzustehen« (110). In einem 1974 gegebenen Interview hat Bloch überdies behauptet:

»Nahezu alle Bücher über Thomas Münzer sind in Perioden großer politischer Ereignisse erschienen. Das erste Buch erschien Ende des 18. Jahrhunderts zur Zeit der Französischen Revolution, das zweite zur Zeit der Juli‑ bzw. der 1848er Revolution und das dritte – das meine – Anfang des 20. Jahrhunderts« (Bloch 1977, 45).

78 Über die Kritik Blochs gegen die Vergangenheitsidolatrie vgl. Ueding 2009, 79 ff.

79 »Neigungen, Träume, ernste reine Regungen, zielhafte Begeisterungen […] gehen nicht unter, färben real eine lange Strecke mit, entspringen einem originalen, werterzeugenden, wertbestimmenden Punkt in der Seele, brennen auch nach aller empirischen Katastrophe uneingelöst weiter« (Bloch 1921, 56).

Blochsche Antwort lautet: durch einen geschichtsphilosophischen, nicht bloß psychologischen Akt, in dem sich ein Spielraum für »das Weiterleben, das schließliche Selbst- und Allbetroffensein, der eigentlichste ›Neudruck‹«

erschließt. Denn es gibt Zukunft in der Vergangenheit, wie Bloch in einem 1966 gehaltenen Vortrag behauptet hat.80 Man könnte schließlich auch bei Bloch Ansätze zu einer »gegenstrebigen Fügung« von Messianismus und Psychoanalyse aufspüren.81

Damit hängt eine weitere Eigentümlichkeit der im angegebenen Passus geschilderten geschichtsphilosophischen Auffassung zusammen, die darin besteht, zwei auf den ersten Blick widerstreitende Momente miteinander in Einklang zu bringen, und zwar einerseits das Fortarbeiten, Weiterwirken und Weiterleben des Gewesenen, andererseits aber die Diskontinuität von

»Sprüngen, Ausbrüchen und einsamen Versprechungen«. Während die willkürliche Erinnerung normalerweise auf die nachträgliche Herstellung eines kontinuierlichen Zusammenhangs zwischen dem gegenwärtigen und einem vergangenen Zeitpunkt hinausläuft, erscheint das Eingedenken als jäher Sprung ins Geschehene qua uneingelöstes Versprechen. Demnach wird das Ungeschehene aus seinem Zusammenhang herausgerissen, um in die gegenwärtigen Verhältnisse einzubrechen und damit die gegebene Situation zu verändern.82 In diesem unberechenbaren Springen kommt ein eigenartiges Fortleben zum Vorschein, das sich über kausale Zusam-menhänge eindeutig hinwegsetzt. Wenn Geschichte zeitliche Kontinuität voraussetzt, dann geht Blochs eingedenkende Geschichtsschreibung über die »Kategorien der Wirksamkeits- oder noch innerhistorischen Wertbe-ziehung« hinaus, indem sie explizit auf ein »übergeschichtliches Feld«

hinweist.

Diese Spannung von Inner- und Übergeschichtlichem, die im Mittel-punkt der christlichen heilsgeschichtlichen Vorstellungen stand, wird von Bloch einer stark profan-politischen Entstellung unterzogen. Das Überge-schichtliche fällt nicht mit der Transzendenz Gottes zusammen, sondern äußert sich im menschlichen Vermögen des Eingedenkens als utopischer Überschuss, der sich im Geschehenen verbirgt. Bezeichnenderweise redet Bloch von dem nicht innergeschichtlich Beschlossen-Sein des Gewesenen.

80 Vgl. Gibt es Zukunft in der Vergangenheit? (Bloch 1978, 286 ff.): »Die echte Tradition […]

hat eine besondere Verwandtschaft und Affinität zu dem Werdenden, dem Heraufkom‑

menden, dem Nichtvollendeten, dem Gestörten, dem durch äußere Umstände vor allem Mißratenen, dem Unabgegoltenen; in der Vergangenheit hat sie eine besondere Beziehung zu dem, was ich mögliche Zukunft in der Vergangenheit genannt habe« (294).

81 Vgl. dazu Sigrid Weigels These einer psychoanalytischen Reformulierung des Messianischen bei Benjamin (1997, 75 ff.).

82 Insofern könnte man die These von einer strukturellen Verwandtschaft zwischen Blochs Eingedenken und Badious Begriff des Ereignisses aufstellen. Vgl. Badiou 1988, 191 ff.

Daraus lässt sich wohl der Schluss ziehen, jedes Ereignis müsse als unab-geschlossen betrachtet werden, weil es in sich ein Potenzial bewahrt, das auf zukünftige Aktualisierungen verweist.

Aufgrund dieser Auffassung hat Bloch seine Studie so aufgebaut, dass er nur die erste Hälfte des Buches der Darstellung des »Leben[s] Thomas Münzers« (so der Titel des dritten, ca. 90 Seiten umfassenden Kapitel) widmet, um sich dann ausführlich auf die »Richtung der Münzerschen Predigt und Theologie« (so der Titel des vierten, längeren Kapitels) zu konzentrieren, d. h. auf eine eingehende Deutung seiner Schriften und Taten, die von langen Exkursen über Calvin, Luther und die katholische Kirche durchsetzt ist. Der größte Teil des Buchs lässt sich also einerseits wie eine äußerst kritische Genealogie der damals (zu Blochs Zeiten) herrschenden deutschen Geisteshaltung  – zwischen calvinistischer pro-fitsüchtiger Arbeitsmoral, lutheranischer »Staatsvergötzung« (123) und katholischer Unterwürfigkeit  – lesen, andererseits als der Versuch, die Erbschaft Münzers anzutreten, indem man das in seinem Schaffen »uns ewig Gemeinte« freilegt, bzw. die in seinem Nachlaß liegenden Keime reifen lässt. Nach Bloch gehört Münzer nämlich »auch in die Geschichte der Philosophie […], aber als Lehrer dessen, ›daß es ein Enden haben muß‹«

(182). Um sich in diese radikal chiliastische Lehre zu versenken, brauche man ein Eingedenken, das hier als ein »bitteres« bezeichnet wird (ebd.).

So wirft Bloch »Münzers Phänomenologie der Gottbereitung« (189) auf, die sich ausgehend von der »Angst« durch »Entgröbung«, »lange Weile«

und »Unglauben« bis hin zur »Gelassenheit zum inneren Wort« (198) als ein stufenweiser Reinigungsweg entwickelt.

Innerhalb dieses anstrengenden existenziellen Ganges trifft man zwei-mal auf das Eingedenken: das erste Mal als Gelassenheit, das zweite Mal als apokalyptische Erwartung. So macht Bloch zunächst auf jene »For-derung ruhendster Gelassenheit« aufmerksam, die eine unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit der Begegnung mit Gott darstellt bzw. »die Bindung Gottes in seinen Namen, die Gott zwingt, sich zu den Menschen zu neigen, wie sich die Menschen zu den Geringsten neigen und gerade darin sich zu Gott erheben« (201). Diese einzunehmende Haltung wird dann des näheren so beschrieben: »die Gelassenheit als Eingedenken, als seltsam stillste, bereits der Einmündung nahe Konzentration« (ebd.).

Dementsprechend liegt die Vermutung nahe, das Eingedenken hänge nicht vom Willen des Subjektes ab, es müsse statt dessen als ein ekstatischer Akt gedacht werden, in dem sich das Subjekt dem ganz Anderen aussetzt.

In dieser radikalen Gelassenheit verabschiedet es sich von dem eigenen Selbstdünkel. Denn Münzer »entzieht dem Subjektivismus alles Beliebige, irritierend Subjektive« (204), »dazu treibt sich sein Gott vollends aus

dem Zustand des bloßen religiösen Bewußtseins, des bloßen in sich selber weilenden Subjektivismus hervor« (209).

Der von Münzer anvisierte »Reinigungsweg« bleibt also nicht auf die individuelle Innerlichkeit beschränkt, sondern drängt weiter zum revolu-tionären Handeln vor, wie man dem folgenden Passus entnehmen kann:

Münzer also hat nicht nur den alten ketzerischen Subjektivismus vor den Toren einer neuen Zeit neu entfesselt – und von hier schlug die Erregung weiter, brach vor in der spanischen Mystik, im Espressivo des Barock, schien nochmals ermatteter durch in der Empfindsamkeit und zuletzt in den seltsamen seelisch‑

religiösen Aufwühlungen der Romantik –; sondern Münzer mit dem Spiritua‑

lismus setzte auch den Halt gegen all dies grenzenlos Expressive in dessen Kern selber, in gelebte, begriffene praxis Christianismi und in ein apokalyptisches Eingedenken. (207 f.)

Im chiliastischen Schaffen Münzers begnügt man sich weder mit der eigenen gereinigten Innerlichkeit noch mit einer vom Glauben verklärten Welt, sondern strebt danach, das Reich Gottes auf Erden zu errichten.83 Der letzte Satz lässt sich ohne Umstände auch auf Blochs Geschichtsphi-losophie übertragen, die mit ihrer gnostischen Verherrlichung der Seele in Geist der Utopie ständig der Gefahr ausgesetzt ist, vom Abgrund einer weltlosen Innerlichkeit aufgesogen zu werden. Was sie von diesem Absturz rettet, eben »den Halt gegen all dies grenzenlos Expressive« gebietet, ist die Tatsache, dass Bloch genauso wie Münzer der Apokalypse stets eingedenk bleibt. Apokalyptisch ist das Eingedenken im wörtlichen Sinne, nämlich weil in ihm die Enthüllung des Zukünftigen im Vergangenen stattfindet.

Man kann also das Ergebnis unserer Bloch-Lektüre wie folgt zusam-menfassen: Als Sich-Vernehmen des Utopischen ist das Eingedenken eine ethisch-ontologische Haltung, in dem der die chronologische Zeit spren-gende Bezug auf das Ungeschehene im Geschehenen erschlossen wird.

Inwieweit dieser Grundgedanke einen beträchtlichen Einfluss auf Walter Benjamin ausgeübt hat, werde ich im folgenden Kapitel zeigen.

83 Vgl. darüber auch die klassische Studie über die Abendländische Eschatologie von Jacob Taubes (1947, 3. Buch).

in Benjamins Schriften

»Die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens« in den frühen Entwürfen zur Passagenarbeit

Le passé, tout en gardant le piquant du fantôme, reprendra la lumière et le mouvement de la vie, et se fera présent.

(Charles Baudelaire) Nachdem die Herkunft des vielschichtigen Begriffs ›Eingedenken‹ bei Ernst Bloch beleuchtet worden ist, können wir nun zu Walter Benjamins Schriften übergehen. In diesem Kapitel wird es sich darum handeln, gewis-sermaßen auf der Schwelle zu verweilen, die in die Benjaminsche Werkstatt führt. Von dieser Schwelle aus werde ich versuchen, zwei eng miteinander zusammenhängende Fragen zu beantworten. Die erste lautet: Wie liest Benjamin Blochs Frühschriften? Wann, wie und warum eignet er sich das Konzept des Eingedenkens an? Ohne auf eine vergleichende Lektüre der zwei Autoren einzugehen, werde ich die eigentümliche Rezeption Blochs durch Benjamin kurz skizzieren. Benjamins Aneignung des Eingedenkens wird sich als ein paradigmatischer Fall von mémoire involontaire und gleichzeitig von politischer ›Umfunktionierung‹ beschreiben lassen.

Eine zweite, viel kompliziertere Frage bezieht sich auf das breit gefä-cherte Themenfeld, in dem der Terminus ›Eingedenken‹ zum allerersten Mal von Benjamin verwendet wird. Dieses Themenfeld lässt sich nur schematisch mit dem Schlagwort »Passagenarbeit« zusammenfassen. Denn ab 1927 ist diese inzwischen fast verbrauchte Bezeichnung so gut wie ein Synonym für Benjamins Denken im Allgemeinen. Demzufolge werde ich aus diesem allzu weiten Komplex ausschließlich jene Motive herausgreifen, die nach der hier vorgeschlagenen Lektüre den Rahmen für Benjamins

»Umfunktionierung« des Eingedenkens abstecken. Dieser Rahmen ist ganz eindeutig vom Surrealismus geprägt, und in ihm lassen sich mindestens vier Forderungen ausfindig machen: Die Forderung nach einer Epoché des Willens, die den Versuch mit sich bringt, die ganze moderne Metaphysik des Subjektes zu unterlaufen (Kap.  2.2); die Forderung nach einer

Frei-legung der revolutionären Energien in den veralteten Dingen (2.3); die Forderung nach einer Deutung des Bildes nicht als bloßes Abbild, sondern als ethische und allenfalls auch politische Operation (2.4). Schließlich kulminiert Benjamins Lektüre der Surrealisten in seiner Forderung nach dem ›Erwachen‹, mit der er sich von ihnen kritisch distanziert (2.5).