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Das Eingedenken als Erwachen in den »Ersten Notizen« zur Passagenarbeit

auf dem Weg zu einer Epoché des Willens

2.5. Das Eingedenken als Erwachen in den »Ersten Notizen« zur Passagenarbeit

Nun verfügen wir über einige Argumente, die das Verständnis von Ben-jamins Aussage erleichtern, der Surrealismus-Essay stelle eine Art »Pa-ravent« (GB III, 438) vor der Passagenarbeit dar. Bevor ich weitergehe, lohnt es sich, diese insgesamt vier Argumente schematisch zusammen-zufassen. Erstens wird Benjamin von den Surrealisten und von Proust dazu angeregt, eine radikale ›Epoché‹ des Willens durchzuführen, die den metaphysischen Vorrang des Subjekts einklammert, um mit unwillkür-lichen Einfällen und freien Assoziationen zu experimentieren. Dadurch wird zweitens ein anders gearteter Umgang mit den Dingen, besonders den veralteten, möglich, in dem sie, einmal befreit sowohl von ihrem Gebrauchs- als auch von ihrem Tauschwert, ihr unerhörtes Potenzial entfalten können. Dabei handelt es sich drittens hauptsächlich um die Entfaltung von Bildern, deren ausufernder Überschuss und rauschhafte Anhäufung das unverkennbare Kennzeichen surrealistischer Texte ausma-chen. Allerdings geht es hier um eine besondere Auffassung von ›Bild‹, das keineswegs ontologisch als bloße Kopie, sondern ethisch als Medium der geschichtlichen Erfahrung verstanden wird. Der kollektive und politisch engagierte Charakter der surrealistischen Erfahrung führt Benjamin dann viertens dazu, auf einen originellen Zusammenhang zwischen Bild und Handlung (in Sorelscher Terminologie: Mythos und revolutionärer Klasse) einzugehen und eine neue, kühne Begrifflichkeit (Bild- und Leibraum) zu artikulieren, die die Weichen für seinen anthropologischen Materialismus stellt. Aus diesem Themenkomplex ergeben sich zahlreiche Fragen, in denen man den entscheidenden Impuls zum Projekt einer »Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts« (GS V, 1034) erblicken darf. Es bleibt zu zeigen, wie sich diese Motive auf das Eingedenken beziehen und welcher Stellenwert ihm dabei zukommt.

Denn zum ersten Mal hat Benjamin gerade mit dem Beginn seiner Arbeit am Passagen-Projekt den Ausdruck ›Eingedenken‹ als terminus technicus verwendet.80 Es handelt sich um jene Materialien, die von Rolf Tiedemann unter dem Titel »Erste Notizen« (GS V, 991−1038) 1982 veröffentlicht wurden und im Manuskript 673 enthalten sind, das vom Herausgeber auf die Zeit von Mitte 1927 bis Ende 1929 datiert wird

80 In den »Ersten Notizen« zu den Pariser Passagen begegnet das Wort ›Eingedenken‹ an drei Stellen: zweimal in den »Pariser Passagen I« (F°, 6; GS V 1006 und O°, 50; 1031), einmal in den »Pariser Passagen II« (h°, 4; 1058).

(39).81 Trotz ihres fragmentarischen Charakters – und dem bedauerlichen Ausbleiben einer angemessenen kritischen Edition, die vielleicht eine genauere chronologische Einordnung ermöglichen würde82  – kann man diesen Notizen tatsächlich »erstaunlich viel«83 entnehmen: Sie vermitteln vor allem wesentliche Einsichten in die erkenntnistheoretischen und me-thodologischen »Umwälzungen«,84 deren Durchführung für Benjamin die notwendige Voraussetzung dieses Projektes darstellte.85 So lesen wir an den zwei in methodologischer Hinsicht wichtigsten Stellen, an denen das Wort ›Eingedenken‹ begegnet:

Was hier im folgenden gegeben wird, ist ein Versuch zur Technik des Erwachens.

Die dialektische, die kopernikanische Wendung des Eingedenkens (Bloch). (Fº, 7; GS V, 1006)86

81 Was die genaue Datierung der Aufzeichnungen angeht, bemerkt der Herausgeber lediglich:

»Aus sachlichen Gründen wurde eine Reihenfolge des Abdrucks gewählt, die der Entste‑

hungschronologie der Texte nicht entspricht.« (GS V, 1074) Und ferner: »Die Siglierung der Aufzeichnungen und Materialien stammt von Benjamin, diejenige der Ersten Notizen und der Frühen Entwürfe ist vom Herausgeber hinzugefügt worden.« (1078)

82 In der 1982 als fünfter Band der Gesammelten Schriften veröffentlichten Ausgabe hat sich die philologisch unmotivierte Entscheidung als besonders fragwürdig erwiesen, »un‑

kommentierte Zitate und Aufzeichnungen, die lediglich Notate von Materialien darstellen, Faktisches ohne jede Stellungnahme Benjamins festhalten« (so Tiedemann in GS V, 41), in kleinerem Schriftgrad zu drucken, ganz zu schweigen davon, dass diese Unterscheidung

»beim Abdruck der ›Ersten Notizen‹ eine abweichende Bedeutung hat« (ebd.). Im Rah‑

men der neuen, 2008 begonnenen, auf 21 Bände angelegten kritischen Ausgabe (Walter Benjamin, Werke und Nachlaß, Kritische Gesamtausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008 ff., seit 2010 Berlin) werden Christoph Gödde und Henri Lonitz die Passagenar‑

beit demnächst neu herausgeben (Band 17: Pariser Passagen / Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts).

83 Angesichts der Fülle an wertvollen Einsichten in den frühen Notizen zum Passagen‑Projekt wurde zutreffend bemerkt: »Erstaunlich viel – darunter die ›kopernikanische Wendung‹

samt der Abwendung vom ›eigentlich‹ Gewesenen – wird hier in ›blitzhaft[en]‹ (GS V, 570) Eingebungen vorweggenommen, auf die der ›langnachrollende Donner‹ der endgültigen Redaktion folgen soll.« (Irving Wohlfarth in: Lindner 2006, 255)

84 Von »dem Prozeß einer vollkommenen Umwälzung« seines eigenen Denkens redet Ben‑

jamin eigentlich erst später, und zwar im Brief an Werner Kraft vom 25. Mai 1935 (GB IV, 88). Allerdings sollten die ersten Phasen dieser Umwälzung auf 1927 zurückdatiert werden, folgt man Scholems Erinnerungen an sein Pariser Zusammentreffen mit Benja‑

min im August 1927: »Als wir uns wiedersahen, traf ich einen Menschen, der in einem intensiven Prozeß der Gärung begriffen, dessen geschlossene Weltansicht gesprengt und verfallen war, und der sich in einem Aufbruch befand – zu neuen Ufern, die ihm selbst zu bestimmen noch nicht möglich war.« (Scholem 1975, 168)

85 Hinsichtlich dieser Materialien meint Benjamin in seinem Schreiben an Scholem aus Ibiza vom ca. 10. Mai 1932, dass sie »immerhin eine drei‑ bis vierjährige Studien‑ und Gedankenarbeit darstellen« und »die wichtigsten Direktiven« enthalten (GB IV, 90).

86 Die Notiz, aus der diese Zeilen zitiert werden, wird später von Benjamin ins Konvolut K (1, 1; GS V, 490) als Auftakt aufgenommen. Bemerkenswert ist ihre Ergänzung durch einen Bezug auf Proust, auf den ich später eingehen werde.

Dialektische Struktur des Erwachens: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens. (hº 4; 1058)87

Besonders wichtig ist für unseren Zusammenhang der explizite Hinweis auf Ernst Bloch im ersten Passus: Ein schlagender Beleg dafür, dass Benjamins Lektüre von Geist der Utopie den ursprünglichen Anlass zur Aneignung des Ausdrucks ›Eingedenken‹ gab. Denn in jenem Buch redet Bloch zwar weder von einer kopernikanischen noch von einer dialektischen Wendung, dennoch umreißt er, wie wir wissen, eine um das Eingedenken zentrierte erkenntnistheoretische Perspektive, die das Vergangene nicht als endgültig abgeschlossenes Faktum, sondern als eine auf zukünftige Erlösung war-tende, demnach konstitutiv unabgeschlossene Potenz begreift, die erst in der Gegenwart eingelöst werden kann.88

Was Benjamin mit der dialektischen bzw. kopernikanischen Wendung meint, wird in einer weiteren Notiz erläutert, die Satz für Satz kommen-tiert zu werden verdient:

Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist dies: man hielt für den fixen Punkt das ›Gewesene‹ und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. (h°, 2; 1057)89

Hinter dem anonymen Indefinitpronomen ›man‹ versteckt sich wohl eine Anspielung auf den Historismus90 bzw. auf die historistische »Forderung,

87 Eigentlich handelt es sich hier um ein Zitat aus dem Ms 1160, das in den sogenannten Pariser Passagen II vorkommt, somit auf eine erste, schon 1928 angefangene Überarbeitung der ersten Notizen zurückgeht: »Auf der Grundlage der Ersten Notizen entstanden die vom Herausgeber als Pariser Passagen II betitelten frühen Entwürfe: noch unzusammenhängende Ansätze zu einer Niederschrift jenes Essays Pariser Passagen. Eine dialektische Feerie, der Benjamin während des ersten Stadiums seiner Arbeit vor Augen stand.« (Tiedemann in:

GS V, 1074) Wichtig ist auch folgende Bemerkung Tiedemanns: »Die vom Herausgeber Pariser Passagen II betitelten Texte gehören zu jenen, die Benjamin 1929 Adorno und Horkheimer in Königstein und Frankfurt vorlas.« (1349)

88 Vgl. oben Kapitel 1.4.

89 Vgl. auch K 1, 2 (GS V, 490 f.).

90 In der sechsten These Über den Begriff der Geschichte (GS I, 697) wird Benjamin den historistischen Ansatz mit einer berühmten Formulierung Leopold von Rankes aus der Vorrede zu den Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 (1824) zusammenfassen, die in ihrer Vollständigkeit folgendermaßen lautet: »Alle diese und die übrigen hiemit zusammenhängenden Geschichten der romanischen und germanischen Nationen sucht dies Buch in ihrer Einheit zu ergreifen. Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht:

er will blos [sic!] zeigen, wie es eigentlich gewesen.« (Ranke, Sämtliche Werke, Band 33/34, Duncker & Humblot, Leipzig, 1874, S. VII) Die abwertende Auffassung des Historismus war in den 1920er Jahren auf Grund der Diskussionen um das sogenannte

›Historismus‑Problem‹ weit verbreitet. Selbst ein berühmter Historiker wie Ernst Troeltsch beklagte den Verfall der Historie zum »reinen Historismus«, d. h. die Tatsache, dass die Historie »zur völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen

dass die Historie Wissenschaft sein soll«, wie Nietzsche in seiner von Benjamin hoch geschätzten Streitschrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben schreibt.91 Tatsächlich bildet die in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung dargelegte zeitgeschichtliche Diagnose eine der stillschweigenden Voraussetzungen von Benjamins Unternehmen im Allgemeinen.92 Mögen auch Nietzsches krasser Gegensatz von Leben und Historie sowie sein pathetischer Appell an die Jugend in der Passa-genarbeit keinen Widerhall finden, Benjamin nimmt doch die Idee auf,

»nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart [dürfe man] das Vergangne deuten.«93 Damit hängt eine weitere Einsicht Nietzsches zusammen, die sich Benjamin produktiv aneignen wird, und zwar der Hinweis auf die Spannung zwischen der Historie und einem mit dem Leben verbundenen Element, das Nietzsche »das Unhistorische« nennt:

Mit dem Worte ›das Unhistorische‹ bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschließen.94

Das heißt aber, wie in den folgenden Ausführungen argumentiert wird: Nur vom Unhistorischen aus lässt sich ein fruchtbarer Zugang zum Gewesenen

mit dem belastenden und ermüdenden Eindruck historischer Aller‑Welts‑Kenntnis und skeptischer Unproduktivität für die Gegenwart« geworden sei (zit. in Heussi 1932, 5).

In der damaligen Diskussion bezeichnete der Ausdruck ›Historismus‹ den historischen Positivismus »als zur Stoffhuberei ausgewucherte Tatsachenforschung und ‑aufreihung, die alles und jedes Vergangene thematisieren kann, ohne nach Sinn und Beziehung zur Gegenwart zu fragen, die alles und jedes genetisch herleitet und so auch den Standpunkt des erkennenden Subjektes historisch relativiert« (Gunter Scholtz, Stichwort ›Historismus‹, in Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt, 1974, S. 1142). Inwieweit es problematisch bleibt, den Historismus zu definieren, belegt im übrigen auch Karl Heussi in seiner aufschlussreichen, 1932 veröffentlichten Studie Die Krisis des Historismus, in der der Begriff auf folgende Weise vorgestellt wird: »ein vieldeutiges, schillerndes Schlagwort, wie es scheint in sehr verworrener Weise in den denkbar verschiedensten Bedeutungen verwendet, ja gelegentlich in Bedeutungen, die sich direkt widersprechen, so daß man, wenn das irgend Aussicht auf Erfolg hätte, den Begriff wieder auszurotten suchen möchte.« (Heussi 1932, 1 f.)

91 Nietzsche 1874, 267. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben galt Benjamin zur Zeit seines Engagements für die Jugendbewegung als Vorbild für eine Reform der Schule, wie aus seinem Aufsatz Unterricht und Wertung (1913 unter dem Pseudonym Ardor in der Zeitschrift Der Anfang veröffentlicht) hervorgeht: »Unser Gymnasium sollte sich berufen auf Nietzsche und seinen Traktat ›Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹.« (GS II, 40) Auch in seinen späten Schriften kommt Benjamin auf Nietzsches Schrift zurück, z. B. in den Thesen Über den Begriff der Geschichte (vgl. das Motto zur zwölften These, GS I, 700).

92 Es sei allerdings mit Karl Heussi (1932, 2) bemerkt: »Hier [in Nietzsches Betrachtung]

wird zwar das, was Spätere gern als ›Historismus‹ bezeichnen, nämlich die einseitige und übertriebene Historie, deutlich erkannt und scharf gegeißelt, aber der Ausdruck ›Histo‑

rismus‹ fällt nirgends.«

93 Nietzsche 1874, 289 f.

94 Ebd., 326.

bzw. zur Geschichte erschließen. Strukturell erinnert dieser Gedankengang an Benjamins im Wahlverwandtschaften-Essay geschilderten Ansatz, der im »Ausdruckslose[n]« jene »kritische Gewalt« (GS I, 181) aufweist, die eine angemessene Deutung des Kunstwerkes ermögliche.95 Analog zum Ausdruckslosen zerschlägt nämlich das Unhistorische, das bei Benjamin die Züge des »Jetzt der Erkennbarkeit« annehmen wird, »die falsche, ir-rende Totalität« (ebd.) der Geschichte. Denkfiguren, mit denen Benjamin in seinen ästhetischen Schriften experimentiert hat, kehren also, allerdings nicht ohne bedeutsame Verschiebungen, in der Passagenarbeit wieder und fordern den Interpreten dazu auf, sie wechselseitig zu erhellen.

In der Aufzeichnung ›h°, 2‹ heißt es weiter:

Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene seine dialektische Fixierung von der Synthesis erhalten, die das Erwachen mit den gegensätzlichen Traumbildern vollzieht. (GS V, 1057)96

Hier haben wir es mit einer komplexen Formulierung zu tun, deren Fragwürdigkeit nur durch eine weitere, von Benjamin nicht explizit ge-machte Argumentation beseitigt werden kann. Wenn es sich nämlich um eine einfache ›Umkehrung‹ handelte, müsste man daraus folgen, nicht die Gegenwart solle sich der Vergangenheit als festem Faktum, sondern die Vergangenheit der Gegenwart zuwenden. Dann würde man sich allerdings die Gegenwart als ein festes Faktum vorstellen, was mit dem Akt des Er-wachens – als den Benjamin die Gegenwart auffasst – schwer in Einklang zu bringen wäre. Es kann sich also nicht um eine einfache Umkehrung der historistischen Auffassung handeln, sondern um ihre Ausschaltung durch einen vollkommen andersartigen Ansatz, der mit dem historistischen nicht mehr zu vereinbaren ist. Wird die Idee einer festen, rein wissenschaftlich zu untersuchenden Vergangenheit ohne weiteres verabschiedet, so stellt sich die Frage nach der Gegenwart, in der man sich gerade befindet. Mit dem eigentümlichen Konzept des Erwachens wird die Gegenwart kei-neswegs mit dem traditionellen ›Cogito‹ eines transzendentalen, mit sich selbst übereinstimmenden Selbstbewusstseins gleichgesetzt. Im Erwachen erscheint die Gegenwart vielmehr als eine Schwelle, die den Schlaf bzw.

95 Über den Stellenwert dieses Motivs bei Benjamin vgl. Menninghaus 1992. In seiner Studie zur Benjamins Auffassung der Kritik bemerkt Uwe Steiner (1989, 296 f.), nachdem er auf die Verwandtschaft des Ausdruckslosen mit Kants Bestimmung des Erhabenen hingewiesen hat: »Als kritische Potenz im Kunstwerk ist die Wirkung des Ausdruckslosen destruktiv gegen dessen mythische Totalität gerichtet.«

96 Die überarbeitete Fassung, die man in Konvolut K findet, lautet: »Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewußtseins werden.« (491)

das Träumen vom Wachsein trennt, indem sie sie gleichzeitig verbindet.

Vorbildlich waren für Benjamin in dieser Hinsicht Prousts Beschreibungen des Erwachens in der Recherche. Neben dem berühmten Anfang des Romans bietet auch La Prisonnière dazu ein denkwürdiges Bild. Indem der Erzähler einen ersten Versuch zum Erwachen aus dem tiefsten Schlaf unternimmt, kommt er sich bei dieser ungeheuerlichen Anstrengung wie jemand vor, »qui sautant d’un train en marche et courant un instant le long de la voie, réussit pourtant à ne pas tomber. Il court un instant parce que le milieu qu’il quitte était un milieu animé d’une grande vitesse, et très dissemblable du sol inerte auquel ses pieds ont quelque difficulté à se faire.«97

Wie das Eingedenken, mit dem es eng verknüpft ist, so ist auch das Erwachen ein Verbalnomen, das weder eine Tatsache noch einen Sach-verhalt bezeichnet, sondern ein vielfältige Modifikationen involvierendes, Passivität und Aktivität ineinander verschränkendes Phänomen, das dem Bewusstsein vorangeht und damit der Gegenwart als subjektivem Gewahr-Werden den Weg bahnt. Wird das Erwachen innerhalb der religiösen und philosophischen Semantik teleologisch auf das ihm folgende Sich-Einstellen eines wachen Bewusstseins hin interpretiert, so schlägt hier Benjamin den entgegengesetzten Weg ein, indem er es auf das bezieht, was vor dieser Schwelle liegt. Das Erwachen »[vollzieht] mit den gegensätzlichen Traumbildern« eine Synthesis, die das Gewesene dialektisch fixiert. Das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit wird hier nach dem psy-choanalytischen Muster der Relation von Erwachen und Träumen neu gedacht. Das Paris des 19. Jahrhunderts besteht nicht aus wissenschaftlich zu untersuchenden Fakten, sondern aus zu erinnernden Traumbildern, die im Tageslicht reflektiert werden.

Bekanntlich handelt es sich bei der Erinnerung an einen Traum eher um prekäre Versuche, sich vage, verschwommene, meistens unzusam-menhängende Inhalte zu vergegenwärtigen, die gewöhnlich von länger anhaltenden Stimmungen begleitet werden. Im Erwachen geht es nicht um eine einfache Feststellung vom Geträumten, sondern um dessen diskontinuierliche Rekonstruktion. Dabei kommt es regelrecht auch zu nachträglichen Zurechtstellungen und Interpolationen, die Freud unter dem Titel »sekundäre Bearbeitung« als viertes »der bei der Traumbildung beteiligten Momente« neben Verdichtung, Verschiebung und Rücksicht

97 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. 3, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), Paris, 1988, S. 629.

für Darstellbarkeit analysiert.98 Bezeichnenderweise redet Benjamin an der zitierten Stelle von einer »Synthesis«, womit er auf Hegels Dialektik anspielt, wie aus einer anderen Notiz hervorgeht:

Wäre Erwachen die Synthesis aus der Thesis des Traumbewußtseins und der Antithesis des Wachbewußtseins? (O°, 11; GS V, 1028)99

So versucht man auf der Schwelle des Erwachens der eben verschwundenen Traumbilder sich zu entsinnen, um allmählich aus einigen Relikten und Überbleibseln eine Synthese zu konstruieren. Damit schlägt der Traum in ein sprachlich vermitteltes Bild um, das auf eine Deutung Anspruch hat.

Um aber der Gefahr einer nachträglichen Verfälschung der Traumbilder durch die Herstellung eines bequemen Zusammenhanges vorzubeugen, d. h. um der Versuchung einer totalisierenden sekundären Bearbeitung standzuhalten, hat sich Benjamin für eine Darstellungsweise entschlossen, die der bunten, scheinbar zusammenhangslosen Vielfältigkeit der Traum-gesichter treu bleibt. Man betrachte als Beispiel die ersten sechs Notizen, auf die man in den Pariser Passagen stößt (GS V, 993): Eine Reihe von Bildern zieht am Leser vorbei. Benjamin beschränkt sich darauf, sie rasch zu skizzieren. Keine Erläuterung begleitet sie, kein vermittelnder Über-gang füllt die Lücken, die sie voneinander trennen. Häufig bestehen die Notizen aus der Zusammenstellung von der kurzen Beschreibung eines Phänomens (z. B. einer Straße) mit einer damit frei assoziierten Erinnerung bzw. eines Einfalls. So erinnern ihn die Schilder an den Flurtüren »an die Tafeln, die an den Käfiggittern zoologischer Gärten weniger Wohnort als Namen und Herkunft von gefangenen Tieren enthalten«, oder die Landschaft der Passage an die Lektüren seiner Kindheit.100 Diese dem

98 Freud 1900, 492. »Was dieses Stück der Traumarbeit auszeichnet und verrät, ist seine Tendenz. Diese Funktion verfährt ähnlich, wie es der Dichter boshaft vom Philosophen behauptet: mit ihren Fetzen und Flicken stopft sie die Lücken im Aufbau des Traums. Die Folge ihrer Bemühung ist, daß der Traum den Anschein der Absurdität und Zusammen‑

hangslosigkeit verliert und sich dem Vorbilde eines verständlichen Erlebnisses annähert.«

(Ebd., 494) Auf dasselbe Phänomen macht auch Bergson in seinem Vortrag Le rêve (1901) aufmerksam: »L’imagination du dormeur qui s’éveille ajoute parfois au rêve, le modifie rétroactivement, en bouche les trous, qui peuvent être considérables.« (Bergson 1959, 884)

99 Vgl. auch das Manuskript 1127 (GS V, 1216): Die »Thesis« fällt hier mit der »Blüte der Passagen unter Louis‑Philippe« zusammen, die »Antithesis« mit dem »Untergang der Passagen«, während die »Synthesis« folgendermaßen beschrieben wird: »Entdeckung der Passagen [Absatz] Das unbew. Wissen vom Gewesnen wird bewußt [Absatz] Lehre vom Erwachen«.

100 Gerade im streng »rhapsodischen Charakter der Darstellung« besteht m. E. die großartige Originalität der ersten Pariser Passagen. Im späteren Briefwechsel mit Adorno wird Ben‑

jamin allerdings auf seinen frühen Ansatz einen kritischen Rückblick werfen: »Damals entstand der – heute nicht mehr in Kraft stehende Untertitel ›Eine dialektische Feerie‹.

Dieser Untertitel deutet den rhapsodischen Charakter der Darstellung an, die mir damals

Surrealismus verpflichtete Methode wird von Benjamin bekanntlich als

»literarische Montage« (O°, 36; 1030) bezeichnet. Ihre bündige Formel lautet: »Konstruktion unter vollständiger Eliminierung der Theorie« (O°, 73; ebd., 1033). In dieser Konstruktion wird nicht erläutert, nicht einmal beschrieben, es wird einfach vorgezeigt. Den Sinn eines solchen Unterneh-mens erhellt die Fortsetzung der Aufzeichnung ›h°, 2‹:

Politik erhält das Primat über die Geschichte. Und zwar werden die historischen

›Fakten‹ zu einem uns soeben Zugestoßenen: sie festzustellen ist die Sache der Erinnerung. Und Erwachen ist der exemplarische Fall des Erinnerns. Jener Fall, in dem es uns gelingt, des Nächsten, Naheliegendsten (des Ich) uns zu erinnern. (1057)

Stärker könnte der frontale Angriff gegen den Historismus kaum formu-liert werden: Erstens grenzt Benjamin sein Projekt gegen die vermeintliche Neutralität der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ab, indem er den politischen Charakter der von ihm befürworteten kopernikanischen Wendung betont. Mit einem bewusst unzeitgemäßen Gestus rückt er zweitens die Erinnerung in den Mittelpunkt seines Ansatzes, was für einen Berufshistoriker einer verwerflichen Zumutung gleichkommen

Stärker könnte der frontale Angriff gegen den Historismus kaum formu-liert werden: Erstens grenzt Benjamin sein Projekt gegen die vermeintliche Neutralität der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ab, indem er den politischen Charakter der von ihm befürworteten kopernikanischen Wendung betont. Mit einem bewusst unzeitgemäßen Gestus rückt er zweitens die Erinnerung in den Mittelpunkt seines Ansatzes, was für einen Berufshistoriker einer verwerflichen Zumutung gleichkommen