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Das Eingedenken in Blochs Geschichtsphilosophie der Kunst und der Musik

In Geist der Utopie8 ist zunächst die Rede von ›Eingedenken‹ im Rahmen eines »Kunstgeschichtliche[n] Exkurs[es]« aus dem Kapitel »Die Erzeugung des Ornaments«. Zwar geht es hier um zwei beiläufige Erwähnungen, dennoch tragen sie dazu bei, diesen Begriff vorläufig zu verorten: »Es gibt ein Eingedenken, das jedem Abschluß hinderlich ist« (GdU 37), heißt es an einer ersten Stelle, und ein paar Seiten später liest man wiederum: »[H]ier wirkt das künstlerische Eingedenken, das jedem Abschluß feindlich ist«

(42). Damit bezieht sich Bloch auf den von ihm nachdrücklich behaupteten Vorrang der schaffenden Innerlichkeit vor der künstlerisch vollendeten Form. Seine eklektische, stark expressionistisch gefärbte Ästhetik kreist um eine Auffassung des Kunstwerkes als eines »nach außen gebrachte[n]

Innere[n]« (41).9 Demzufolge wird von ihm die »nordisch-gotische Linie«

als der ägyptischen und der griechischen überlegen gepriesen: »Nur die nordisch-gotische Linie trägt so das Zentralfeuer in sich, auf dem sich das tiefste organische und das tiefste geistliche Wesen zugleich zur Reife bringen.« (32 f.) In der gotischen Baukunst sah Bloch das Sinnbild der lebendigen menschlichen Seele,10 deren Hauptzug in einer unaufhaltsamen Unruhe, in einem nie zu sättigenden Wollen und in einem ständigen

8 Über die Entstehungsgeschichte von Geist der Utopie vgl. Münster 2001, 69 ff. und Bloch 1977, 37 ff. Eine Schilderung des zeitgeschichtlichen Kontextes, in dem Geist der Utopie entstanden ist, bietet Rabinbach 1997, 27−65.

9 Rückblickend wird Bloch seine Auffassung des Ornaments so erläutern: »Was bedeutet das Ornament philosophisch überhaupt? Gewiß nicht Zierat, nicht Schmuck in dem einfachen, banalen, vielleicht säkularisierten Sinn, sondern ein Sich‑Entgegensehen, Sich‑

Entgegenschreiten. Also unsere eigene Gestalt, unser eigenes Wesen, unser menschliches Wesen treten hier in diesem Akanthus oder in dem ornamental durchbrochenen Stein der Gotik uns entgegen, kulminierend schließlich im Barock, dann aber völlig verschwindend, mit Ausnahme des Schwindels, der dann in der Gründerzeit mit dem Ornament getrieben wurde. […] Das Ornament ist immerhin eine erste vermummte Auskunft darüber, daß man etwas erfahren kann aus der bildenden Kunst, unter der zusammenfassenden Kategorie

›Versuch einer Selbstbegegnung‹.« (Bloch 1977, 163)

10 »Hier wird endlich der Mensch […] als Pointe des Alles gepriesen. Hier herrscht jene schöne Wärme, in der die lebendige Seele nicht erstickt. […] Denn es jagt und wuchert in diesen Steinen, nirgends werden wir verleugnet, nirgends wird der einschließenden Kraft des Materials ein mehr als reflexiver Tribut gegeben, die Mauer ist geschlagen, die bunten Fenster führen in endlose Landschaften hinein, wir stehen mitten in der Liebe […], über all dieser unendlichen Verwirrung der Linie lächelt Maria so süß und weise, daß sich die Gräber erhellen, daß sich die fernen mystischen Kammern bereiten und auch dem niedrigsten der Brüder die restitutio in integrum erleuchtet steht. Gewiß ist vieles unförmlich an diesen Domen, an diesen Dombildungen aus menschlicher Gestalt, aber es ist die Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserer Welt.« (41 f.)

Transzendieren bestehe.11 Diese dynamische innere Kraft äußere sich vornehmlich als ein »Eingedenken«, das hier als wesentlicher Teil der künstlerischen Tätigkeit evoziert wird. Was diese Tätigkeit herstellt, mag zwar als abgeschlossen erscheinen, dieser täuschende Schein löst sich aber auf, sobald man sich in das fertige Werk hinein fühlt und denkt. Gerade auf diese Bewegung, die »jedem Abschluß feindlich ist« (42), deutet das Wort »Eingedenken« stimmig an: Das Präfix ein- bezeichnet die Richtung nach innen, während das Verb »Gedenken« auf ein »verstärktes Denken«12 hinweist. Auf Sinn und Tragweite dieser eigentümlichen Erfahrung wird Bloch im weiteren Verlauf seines Werks näher eingehen.

Im vierten Kapitel, gleichsam einem Buch im Buch mit dem Titel

»Philosophie der Musik«,13 begegnet das Wort ›Eingedenken‹ zweimal.14 Bloch befasst sich darin u. a. mit dem »Problem einer Geschichtsphiloso-phie der Musik« (95). Er ist auf der Suche nach Bögen, die ihm erlauben sollen, die Geschichte der Musik auf übersichtliche Weise darzustellen, ohne aber einen einfachen, »dem totschlägerischen Nacheinander« (96) der Chronologie verpflichteten linearen Fortschritt vorauszusetzen.15 Der gesuchte Bogen sollte demgemäß »wohl ziehend, zielend, fortschrittlich gearbeitet, aber nicht nur zeitlich, sondern mehr noch räumlich gefaßt«

(95) werden. Als »einmalige Erfassungen des Absoluten und Rezeptiven«

(96) ermöglichen diese Bögen ein »neue[s] Ganze[s] des Überblicks« (ebd.), das die geschichtliche Entwicklung der Musik darstellbar und lesbar macht.

Aufgrund der ordnenden Funktion der Bögen ergibt sich ein Überblick, der von Bloch so beschrieben wird:

11 Die dialektische Spannung von Leben und Form genoss Anfang des 20. Jahrhunderts hohen Kurs, wenn man nur an Bergson und Simmel denkt. Von Simmel (bei dem Bloch in Berlin studiert hatte) vgl. den berühmten, im Januar 1918 in Berlin gehaltenen Vortrag Der Konflikt der modernen Kultur (Simmel 1918). Über Blochs Begegnung und Kontroverse mit Simmel vgl. Münster 1982, 53 ff.

12 S. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Stichwort ›Gedenken‹.

13 Dass Bloch diesen Teil von Geist der Utopie tatsächlich als Buch im Buch verstand, wird vor allem durch das eröffnende Inhaltsverzeichnis auf Seite 80 deutlich belegt. Dieser musikphilosophische Traktat gliedert sich in vier Abschnitte mit den Titeln »Traum«,

»Zur Geschichte der Musik«, »Zur Theorie der Musik«, »Das Geheimnis«. Die Passagen, mit denen wir uns auseinandersetzen, stammen sämtlich aus dem zweiten Abschnitt.

14 GdU 97 u. 149.

15 Seiner kritischen Haltung der fortschrittlichen Geschichtsphilosophie gegenüber gibt Bloch immer wieder Ausdruck, beispielsweise an folgender Stelle: »Das Frühere wird gerade in der geschichtlichen Betrachtung mit Notwendigkeit zu einer gleichgültigen Vorstufe mediatisiert, die am wenigsten durch das Bestätigtwerden in der weiteren Entwicklung an Würde und eigener Bedeutung gewinnen kann.« (87) Verworfen wird außerdem jene vulgär‑materialistische Geschichtsschreibung, »die in ihren Zusammenfassungen von wirtschaftlichen oder staatlichen Komplexen her diktiert worden ist, um dann mühsam und nachträglich genug das ewig Außerstaatliche der Werke trotzdem als Variable in diese subalternen Kollektiva einzufügen.« (92)

Der Meister kann sich nach wie vor als das aus sich rollende Rad fühlen, aber die sinnlose Turbulenz des Fortschrittsmäßigen ist verschwunden, aus der Eitel‑

keit und der möglichst anarchischen Konkurrenz mit dem Vorhergehenden hebt sich ein Bau und eine Stelle aus dem Bau heraus, so daß jeder Gedanke im ge‑

schichtlich gegebenen Formkomplex seinen bestimmten Ort erlangen kann. (96) Geschichtsphilosophie wird hier als »Bau« verstanden, d. h. als architek-tonische Konstruktion von zeitlich-räumlichen Bögen, die einen Überblick auf das Ganze ermöglichen. Scheinbar ein traditioneller, auf Ganzheit angelegter Ansatz, dem aber Bloch originelle Elemente beimischt, die über die Grenzen des modernen geschichtsphilosophischen Denkens hinausge-hen und einen neuen Horizont eröffnen, der vom Eingedenken erkundet werden kann.

Vorausgesetzt, dass »das geschichtlich handwerkliche Einreihen vor allem Wesentlichen der Musikgeschichte versagt, ja sogar das Unvergleich-liche der sich vermittelnden individuellen Lebendigkeit noch eindringUnvergleich-licher sichtbar macht, als dies ohne den Versuch dieser niedrigen Art historischer Kontinuität möglich gewesen wäre« (88), arbeitet Bloch an einem anders gearteten Schema, das gleichzeitig ordnend und rettend verfährt. Dieses aus Bögen bestehende Schema soll der »universalhistorische[n] Anoma-lie« gerecht werden, nach der die Musik »ganz sichtbar einem andern Rhythmus als dem des Gesamtgeschehens des menschlichen Geistes zu gehorchen scheint« (89). Was diesen Rhythmus kennzeichnet, ist seine strukturelle Heterogenität zum »leeren, formalen Marsch der Zeit« (95), da er sich aus einer eigentümlichen Verschränkung von Neuestem und Ältestem speist. Dieses verwickelte Phänomen wird so beschrieben:

[D]as Neue rundet sich, […] und am Ende ist es gerade das Waghalsigste, Schmerzlichste, sich am meisten Loslösende und Paradoxe, das dem Alten, ur‑

ältest zugrunde Liegenden, Einfachsten, Gegebenen, vorweltlich Ersehnten und in der erwachsenden Welt Verlorenen am nächsten steht. (95)

Um diesen äußerst paradoxen Rhythmus sprachlich und begrifflich wie-derzugeben, verfährt Bloch »halb verdeutlichend, halb eingedenkend«

(97).16 Was hier »eingedenkend« heißt, kann man dem Kontext dieser Überlegungen entnehmen, die als Prolegomena zu einer Geschichtsphilo-sophie der Musik gelesen werden können. Nach Bloch kann jeder große musikalische Gedanke »seinen bestimmten Ort erlangen […], der ja an der Stelle seines historischen Vorkommens selbst durchaus noch nicht erledigt zu sein braucht und sehr wohl das noch Bessermachen, die glühendere Phantastik und das utopische Weiterdenken seines Gehalts verträgt.« (97)

16 Der vollständige Satz lautet: »So lassen sich, halb verdeutlichend, halb eingedenkend ergänzt, je nach dem Schwung der angewandten Kraft drei Schemen unterscheiden.« (97)

An dieser Stelle begegnen wir dem entscheidenden Gedanken Blochs: Das eingedenkende Verfahren ist deshalb erforderlich, weil es darum geht, das Gewesene als nicht endgültig abgeschlossen zu interpretieren. Im Herbeirufen, »Bessermachen« und »Weiterdenken«, in denen das chro-nologische Nacheinander gesprengt wird, erhält die konkrete Geschichte der Musik Gestalt. Utopisch ist das Weiterdenken eines vergangenen, in seinem Vergangensein jedoch noch gegenwärtig wirkenden Gehaltes, weil es keinen bestimmbaren Platz, weder in der Zeit noch im Raum, hat. Das Weiterdenken bringt einen Überschuss an Sinn zum Ausdruck, der über das Gegebene hinausgeht.17 In der utopischen Rhythmik des musikalischen Schaffens verschränken sich auf höchst fruchtbare Weise Wiederholung und Differenz. Utopisch ist dieses Weiterdenken der musikalischen Gehalte auch deswegen, weil es mit einer auf die Zukunft gerichteten Intention einhergeht: Die lebendige Gegenwart des Komponierens ist in ihrem In-nern in zwei gegenstrebige Tendenzen gespalten, von denen die eine auf die Vergangenheit, die andere auf die Zukunft bezogen ist.

Die Radikalität dieser Einsicht wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass Bloch letzten Endes ein triadisches Schema vorschlägt,18 das trotz seiner Präzisierungen in der Hegelschen Dialektik verwickelt bleibt. Er schildert tatsächlich einen Rhythmus, der sich, wie er selber zugeben muss, dem »Syllogismus vom behaglich schönen Spiel, als der Stufe des Gemüts, zur vollen, in sich wandelnden Individualität, als der Stufe der Wärme und der Seele, bis zur leuchtenden Härte des Systems als der Stufe der Macht, der Tiefe und des Geistes […] zugeordnet zeigt.« (98)

Die zweite hier in Frage kommende Stelle aus der »Philosophie der Musik« ist Teil einer längeren Ausführung über Wagner, und zwar über den Parsifal als Musterbeispiel der »transzendenten Oper«. Mit Wagner gehe man von der geschlossenen zur unendlichen Melodie über,19 in ihm kämen sowohl Bach als auch Mozart zur Erfüllung.20 In Blochs Konstruk-tion der Musikphilosophie kommt der transzendenten Oper Wagnerscher

17 Dies wird an anderer Stelle modifiziert in der Rede von einem »Weiterbauen der Welt«

und von der »Ausbreitung des noch objektlosen unendlich‑inneren Kompendiums zur Weltarchitektur, zur Breite und Fülle kräftig vollendender Sphärenbildung und Systematik«

(289).

18 Das Schema besteht aus folgenden Momenten: a) »das endlose vor sich Hinsingen, der Tanz und die Kammermusik« (97); b) das geschlossene Lied; c) das offene Lied.

19 »Wahrlich, wenn je etwas einfach und alt war und das angestammte Erbe bewahrte und mehrte, so ist es dieser Sturz der geschlossenen und die Geburt der unendlichen Melodie gewesen.« (131 f.)

20 Während »der, wohlverstanden: harmonisch‑rhythmisch mit dem Akkordziel gebrauchte Bachsche Kontrapunkt deutlich in der Wagnerschen Polyphonie, in einer Polyphone höherer Ordnung als der nicht mehr architektonischen, sondern dramatischen Kontra‑

punktik fortwirkt« (138), werden Tristan und Parsifal von Bloch als »Erfüllungen der Mozartschen Märchenoper« (141) betrachtet. Tristan und Parsifal geben uns laut Bloch

Prägung besonderer Wert zu, denn ihr Gegenstand ist die Erlösung. Wenn im Tristan die erlösende Befreiung von unserer Welt als Triumph der Nacht  – einer absoluten Nacht  – erscheint,21 gelangt Parsifal zu einer anderen Sonne »hinter der Nacht« (147):

Die gesamte ontologische Musik des Parsifal will nichts als in jenen innersten Tag, in das Wort »Seele« hineinführen, das nicht mehr von dieser und kaum noch von jener Welt ist, kaum noch dem äonenhaften Lichtprunk der alten Throne, Herrschaften und Mächte zugetan. Das ist ein Licht, von neuem über alle verhallenden Worte hinaus oder nur noch jenem einen Wort entgegen, das die Riegel sprengt, dem nichts so nahe kommen kann als das neue sich Vernehmen und Eingedenken der Musik, das Hebbel in den unvergeßlichen Versen ahnte vom Tauben und vom Stummen. (149)

Mit unverkennbar gnostischer Terminologie22 deutet Bloch Wagners Oper als musikalische Heraufbeschwörung einer Überwindung nicht nur der irdischen, sondern auch der überirdischen Welt. Demzufolge symbolisiert Parsifal eine extreme, unaussprechliche, erhabene Erlösung, die über sich selbst hinausgeht. Diese Musik führe uns in eine absolute Seele hinein, die

»nicht mehr von dieser und kaum noch von jener Welt ist«: ›Seele‹ ist für Bloch ein Wort, »das die Riegel sprengt«, da es auf eine höhere, geradezu auf die höchste Wirklichkeit anspielt, die nur noch als reines Licht gedacht werden kann. In dieses Licht hinein vermag ausschließlich »das neue sich Vernehmen und Eingedenken der Musik« einzudringen. Folgt man diesen mystisch anmutenden Ausführungen Blochs, kommt man zu folgender Einsicht: Die Musik kann als ein Modus des Eingedenkens angesehen werden. Im Ausdruck »Eingedenken der Musik« hat man nämlich mit einem genitivus subjectivus zu tun: Mit Wagner erhebt sich die Musik zu einer Stufe, wo sie sich selber vernimmt und ihrer selbst eingedenk wird.

Die Musik als Eingedenken in actu erschließt uns einen Zugang zur konkreten Wirklichkeit, auf die jenes edelste aller Worte – Seele – anspielt.

Wenn der Stumme das erlösende Wort aussprechen und der Taube es vernehmen wird,23 dann »ist alle Welt am Ziel«, wie es in dem von Bloch zitierten Hebbel’schen Gedicht Zwei Wandrer heißt. Wagners Parsifal gilt

»die gegenständliche, ontologische Erfüllung der Mozartschen Märchenoper, ja sogar der Bachschen Passionen.« (146)

21 »Zwei Menschen schreiten hier in die Nacht; sie gehen von einer Welt in die andere über, sonst begibt sich nichts […], und nichts erklingt als die Musik dieses Schreitens und schließlichen Entschwindens.« (142)

22 Über Blochs Gnostizismus vgl. Taubes 1996, 173−181 und 2006, 53−65.

23 Vgl. auch Jesaja 35,5−6: »Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken« (Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1999, S. 697).

Bloch gewissermaßen als musikalische Vorwegnahme dieses Ziels, d. h. als Pfand der Erlösung.24