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Das Eingedenken als Medium der Begegnung von Sprache und Erosder Begegnung von Sprache und Eros

Kraus als monumentale Gestalt

4.5. Das Eingedenken als Medium der Begegnung von Sprache und Erosder Begegnung von Sprache und Eros

Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen Urbild nach. Man macht nicht, man ahnt ein Gedicht.

(Karl Kraus) Das Zitat ruft das Wort »zurück an seinen Ursprung«: d. h. aber weder an seine Entstehung88 noch an ein naturhaftes »Ursein« (GS II, 1101), das mit  der Schöpfung zusammenfiele. Vielmehr erinnert das Zitat das Wort an die »Unmittelbarkeit« des medialen Verhältnisses, die nach dem

86 Bezeichnenderweise stößt man auf die tiefe Verwandtschaft von Zitat und Eingedenken auch im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, Stichwort ›Zitat‹, wo Sibylle Benninghoff‑Lühl u. a. bemerkt: »Dem Zitat wird die Kraft zugesprochen, Dinge, Gefühle, Töne, Personen, Gottheiten und Geister zum Erscheinen zu bringen. Im Sinne dieses direkten Anrufens (invo‑

care) meint ›zitieren‹ auch heißen, nennen, aufrufen oder erwecken.« (S. 1539) Und weiter:

»Das zitierende Erscheinen verlebendigt im Akt der Erinnerung die Toten. Diese erscheinen jedoch nicht so, wie sie einmal waren, vielmehr versetzt, verdeckt und entstellt.« (1541)

87 Damit wird übrigens auch die von Benjamin am Anfang des Essays dargelegte These verständlich, nach der »die Befreiung der Sprache identisch mit der der Phrase« (GS II, 337) wäre. Indem das Zitat das in der Phrase verleugnete Mediale wieder zum Vorschein bringt, rettet es die Sprache von ihrer Instrumentalisierung.

88 »Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein.« (GS I, 226)

Sündenfall des Sprachgeistes vergessen, wenn nicht verdrängt wurde. Da-durch wird dem Dämon als »Zwitter aus Geist und Sexus« (360) seine Macht entzogen und die Herrschaft der subjektiven Selbstbespiegelung überwunden:

Die Macht des Dämons endet an diesem Reiche. Sein Zwischen‑ oder Unter‑

menschliches wird von einem wahrhaft Unmenschlichen überwunden. (358) Zudem bereichert sich die im Essay erkundete »geschichtsphilosophische[]

Topographie«89 um eine weitere Schicht: den Reim, dessen Funktion im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht. Als »Unmensch« operiert Kraus nicht nur zerstörerisch im Zitieren, sondern auch medial bindend im Reim, dem eine wesentliche erkenntnistheoretische Rolle in Benjamins Deutung zukommt.90 Die Lyrik erweist sich nämlich als Schauplatz jener

»philosophischen Erkennungsszene« (360), in der der Ursprung durch eine eigentümliche Wiedererinnerung entdeckt wird. Im Reim findet das Ein-gedenken des Ursprungs seinen sprachlichen Ausdruck. Dass sich Entde-ckung und Wiederholung im Reim verschränken, liegt auf der Hand: Zwei Verse reimen sich, indem die Endung des Letzteren diejenige des Ersteren wiederholt. Mit dem reimenden Vers lässt sich ein Einklang vernehmen, dessen Widerhall das ganze sprachliche Gefüge als »klingend, stimmig«

(363) verklärt. Im Reim besitzen wir folglich eine perfekte Miniatur von dem, was Benjamin ›Ursprung‹ nennt: Ein sprachlicher Strudel, in dem der Fluss des Gedichtes zu einer mikrologischen Vollendung kommt, zu einem stimmigen Stillstand. Bezeichnenderweise stellt dann Benjamin einen engen Zusammenhang zwischen dem Reim und dem Kind her:

Am Reime erkennt das Kind, daß es auf den Kamm der Sprache gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung vernimmt. (361)

Die Tatsache der unwiderstehlichen Faszination der Kinder durch den Reim zeugt von dessen besonderem Stellenwert. Das Kind erfährt in ihm die erotische Macht der Sprache als Medium, zumal es darin die Sprache gleichsam als selbstgenügsame Musik vernimmt, die keinem außersprach-lichen Zweck unterworfen ist, keiner Mitteilung dient. Im Reim offenbart sich dem Kind die Sprache in ihrer eigenen Wirklichkeit. »Auf den Kamm der Sprache gelangt«, lässt sich das Kind spielerisch von ihren Wellen tragen. Denn »Kinder, wenn sie Geschichten sich ausdenken, sind Regis-seure, die sich vom ›Sinn‹ nicht zensieren lassen.« (GS IV, 609)91 Darin

89 Weigel 2008, 34.

90 Vgl. GS II, 362.

91 Dieses Zitat stammt aus Benjamins Artikel Aussicht ins Kinderbuch (am 3. Dezember 1926 in Die literarische Welt erschienen), in dem der kindliche, nicht instrumentelle Umgang mit der Sprache feinfühlig geschildert wird.

besteht jenes »hedonische Moment« (GS II, 360) bei Kraus, in dem man die Sprache geradezu sinnlich genießen kann.

Das Kindliche, das Hedonische, das Sinnliche: lauter Anspielungen auf jene »Unmittelbarkeit«, die Benjamin nicht müde wird, immer wieder in seinen Schriften vielfältig heraufzubeschwören. Das geht nicht zuletzt aus jener »wichtigsten Stelle« (360) deutlich hervor, an der Berthold Viertel Kraus’ Unternehmen folgendermaßen beschreibt: »Intellektualität als Ab-weg, der zur Unmittelbarkeit … zurückführt. Publizität – ein Irrweg zur Sprache zurück.« (Ebd.)92 Hier kommt Benjamins mimetische Angleichung an Kraus zu ihrem Höhepunkt. Allerdings mit einer kleinen Abweichung, die ihren symptomatischen Ausdruck in einem entstellenden Zitat findet.

Der von Benjamin zitierte Vers aus Der sterbende Mensch lautet im Ori-ginal nicht: »Du kamst vom Ursprung  – Ursprung ist das Ziel« (ebd.), sondern: »Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel«. Intellektualität als Umweg zur Unmittelbarkeit, die Welt als »Irrweg, Abweg, Umweg zum Paradiese zurück« (ebd.) – anders gesagt: Der Ursprung erscheint als Ziel. Während aber das »Kriegerdenkmal« Kraus am Ursprung geblieben ist, demzufolge die Geschichte hartnäckig verleugnet, verabschiedet sich Benjamin, auch dank seiner Auseinandersetzung mit Kraus, von dieser starren »Naturverhaftung«: Ursprung gilt ihm nicht als die verlorene, nostalgisch zu evozierende, unmöglich wiederherzustellende »Reinheit«

eines mythischen Urseins, sondern als die hier und jetzt zu aktualisieren-de, destruktive und ephemere »Reinigung«.93 Erst durch diese Reinigung kann man den Dämon vertreiben, um sich einen erotischen Zugang zur Sprache zu erschließen.

Der Reim ist ein Wort, das »›nie am Ursprung lügt‹ und diesen seinen Ursprung wie die Seligkeit am Ende der Tage, so am Ende der Zeile hat.«

(360; Binnenzitat aus Kraus’ Gedicht Der Reim) Nach diesem paradoxen Bild liegt der Ursprung »am Ende«  – eine Vorstellung, die uns aus un-serer Darlegung des Eingedenkens als mémoire involontaire vertraut ist, bedenkt man, dass man erst am Ende der Proustschen Recherche der Ich-Erzähler den Entschluss fasst, sein Werk endlich zu schreiben –, das man dann in der Recherche selbst wiederfinden darf; auch hier fallen (Werk-)Ende und Ursprung zusammen. Einerseits scheidet Kraus im Reim

»die Sprache vom Geist« (362), andererseits bindet er sie innig »an den

92 Der Passus stammt aus: Berthold Viertel, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, Dresden, 1921, S. 64.

93 »[D]aß es keine idealistische, sondern nur eine materialistische Befreiung vom Mythos gibt und nicht Reinheit im Ursprung der Kreatur steht, sondern die Reinigung, das hat in dem realen Humanismus von Kraus seine Spuren am spätesten hinterlassen. Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu reinigen.« (GS II, 365)

Eros« (ebd.). Insbesondere im Gedicht Die Verlassenen erzielt Kraus »die innigste Durchdringung von Sprache und von Eros« (ebd.). Zunächst einmal wird der Geist vom Reim zur Abdankung aufgefordert: Seinem sündhaften Willen zur Instrumentalisierung, zur »Mittelbarmachung«

(154) entzieht sich listig die Sprache mit kindlichem, heiterem Leichtsinn.

Von ihrer Verknechtung im Geschwätz befreit, kann die Sprache ihr eige-nes Potenzial entfalten: ›Eros‹ bezeichnet in diesem Kontext keine fremde Macht, sondern einen der Sprache, genauer dem Namen innewohnenden Vektorpfeil.94 Der höchste Ausdruck des medialen Verhältnisses heißt nicht von ungefähr »platonische Sprachliebe« (362). Damit meint Benjamin

»die Liebe, die nicht am Namen ihre Lust büßt, sondern die Geliebte im Namen liebt, im Namen besitzt und im Namen auf Händen trägt« (GS IV, 368). Diese irritierende These Benjamins setzt seine von Klages stark beeinflusste anthropologische Analyse der Liebe als »Urverhältnis von Nähe und Ferne« (GS II, 362) voraus. Läuft der dämonische Sexus auf eine fatale Aufhebung der Distanz hinaus, so ließe sich die Liebe dagegen als Ursprung der Distanz beschreiben: Erst in der Liebe werden Nähe und Ferne aufs intensivste erfahren. Nur in der Distanz verfügt das Verhältnis um einen Spielraum, in dem es sich entfalten kann: »Das Leben des Eros entzündet sich an der Ferne« (GS VI, 83).

Auf dieses Thema war Benjamin bereits in seinen Schemata zum psychophysischen Problem (1922/23) eingegangen, als er einen Vergleich zwischen Goethes Selige Sehnsucht und Kraus’ Die Verlassenen anstellte –

»als zwei verschiedene und doch einander entsprechende Versuche, das Problem des Eros poetisch zu verarbeiten«.95 Benjamins anthropologischer Ausgangspunkt lautet: Nähe und Ferne sind »die Pole im Leben des Eros«

(GS VI, 86).96 Stellt Eros gemäß Platons Symposion97 »das Bindende in der Natur« (ebd.) dar, so hält Benjamin die Bindung von Nähe und Ferne für

94 Auf die messianische Bedeutung des Reims weist Giorgio Agamben nachdrücklich hin, indem er den Reim als »Miniaturmodell der messianischen Zeit« (»una specie di modello in miniatura della struttura del tempo messianico«) hinstellt (2000, 77; dt. 96).

95 Schulte 2003, 51. In einer Notiz aus Konvolut J (»Baudelaire«) der Passagenarbeit etabliert Benjamin zudem einen Zusammenhang zwischen Goethes Gedicht und der Erfahrung der Aura. Dabei spielt die Verschränkung von Eros und Sexus nicht zufällig eine wichtige Rolle:

»Die Verse der Seligen Sehnsucht ›keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt‹ – beschreiben die Erfahrung der Aura. Die Ferne, die, im Auge der Geliebten, den Liebenden nach sich zieht, ist der Traum von der besseren Natur. Der Verfall der Aura und die – durch die defensive Position im Klassenkampf bedingte – Verkümmerung der Phantasievorstellung von einer bessern Natur sind eines. Damit sind der Verfall der Aura und der Verfall der Potenz am Ende eines.« (J 76, 1; GS V, 457)

96 Vgl. eine ähnliche Wendung in Klages’ Vom kosmogonischen Eros (1922, 136): »Nähe und Ferne sind die einander ergänzenden Pole nicht nur des Raumes, sondern ebenso auch der Zeit.«

97 Neben Plato vgl. auch Klages 1922, 60 ff.

den »Typus und das Urphänomen der Bindung« (ebd.). Wo kommt aber diese Polarität am anschaulichsten und schärfsten zum Ausdruck, wenn nicht im Namen? Denn im Namen ist zwar nicht der Besitz der Geliebten beschlossen, dennoch wird in ihm das Verhältnis zu ihr erfahren. Indem in der Lyrik der Reim zum Namen hinzukommt, intensiviert er aufs äußer-ste diese Erfahrung: »Die Nähe […], der das Wort nicht entfliehen kann, ist einzig der Reim.« (GS II, 362) Damit überträgt Benjamin mit einer überraschenden Wendung seine anthropologischen Einsichten hinsichtlich des Wesens des Eros auf die Sprache. Um diesen entscheidenden Gestus in seiner vollen Tragweite zu würdigen, ist es lohnend, eine Art theoretische Diplopie bzw. eine »Doppeleinsicht« (GS I, 226) zu betätigen: Wird näm-lich die Sprache vom Standpunkt des Eros aus betrachtet, so fasst man den Eros als ein hauptsächlich sprachliches Phänomen auf. So liest man in den »Paralipomena«: »Dialektik ist das Verhältnis der Sprache zum Eros, zweideutig das des Geistes zur Sexualität.« (GS II, 1096)

Benjamins Bewunderung für Kraus’ Gedicht Die Verlassenen (1920)98 erhellt nicht zuletzt daraus, dass dieses Gedicht das eigentümliche Verhältnis zwischen Sprache und Eros als ein paradoxes ›Miteinander-Verlassensein‹ von Lust und Seele beschwört.

›Die Verlassenen‹ – voneinander sind sie es. Aber – das ist ihr großer Trost – sie sind es auch miteinander. Auf der Schwelle zwischen Stirb und Werde halten sie inne. Rückwärts gewandten Hauptes nimmt die Lust ›nach unerhörter Weise‹

ihren ewigen Abschied; ihr abgewandt betritt ›nach ungewohnter Weise‹ die Seele ihre Fremde lautlos. So miteinander verlassen sind Lust und Seele, aber auch Sprache und Eros, auch Reim und Name. (GS II, 362)

Trotz ihrer gewaltigen, dämonischen Trennung, d. h. trotz des Heraus-tretens aus dem lebendigen medialen Verhältnis, teilen Sprache und Eros denselben Rhythmus miteinander. In ihrer Entfremdung, aus der es kein Zurück, keinen Rückgang zum verlorenen Paradies mehr gibt, können sie intermittierend zueinander treffen: so z. B. in der platonischen Sprachliebe und im Eingedenken. Denn im Letzteren kann man den Eros der Sprache in seinen zwei Bedeutungen erfahren: Einerseits (Genitivus objectivus) als eine Liebe, die sich auf die Sprache bzw. den Namen bezieht, andererseits (Genitivus subjectivus) als Ausdruck der das Subjekt enteignenden Gewalt der Sprache: »So ist die Divina Commedia nichts als die Aura um den Namen Beatrice.« (GS IV, 369)

98 Das kurze Gedicht lautet folgendermaßen: »Berückend gar, aus deinem Zauberkreise / ge‑

zogen sein! / Nun zieht nach unerhörter Weise / die Lust auf ihre letzte Reise / allein. / Und nie ersattend findet sie die Nahrung, / vertraut / dem Urbild einer Menschenpaarung / und einer Flamme Offenbarung, / die sie geschaut. / Wie mag es sein, aus meinem Feuer‑

kreise / geflohen sein! / Nun zieht nach ungewohnter Weise / die Seele auf die lange Reise / allein.« (Die Fackel, Heft 521−530, Februar 1920, S. 92)

Eine besondere Relevanz für unser Thema weist schließlich das apo-kalyptische Bild auf, mit dem Benjamin die großartige Auferstehung der vergessenen Lesebücher aus der Kindheit schildert:

Und wenn am Jüngsten Tage nicht nur die Gräber, sondern auch die Lesebücher sich öffnen, wird nach der Melodie »Was blasen die Trompeten, Husaren heraus«

der wahre Pegasus der Kleinen aus ihnen hervorstürmen und, eine verhutzelte Mumie, eine Puppe aus Stoff oder gelblichem Elfenbein, wird dieser einzige Verseschmied tot, ausgetrocknet über dem Bug seines Rosses hängend, auf ihm daherfahren, der zweischneidige Säbel in seiner Hand aber wird, blank wie seine Reime und schneidend wie am ersten Tag, durch den Blätterwald fahren und Stilblüten werden den Boden decken. (GS II, 361 f.)

In Benjamins Deutung erscheint Kraus nicht als Schöpfer, sondern als ein epigonaler »Verseschmied«, dessen Leistung darin bestand, das Lesebuch seiner Kindheit »umgedichtet« (ebd.) zu haben. In diesen Zeilen schlägt stillschweigend die eingangs behandelte Schöpfung in die Kindheit um.

Daraus ergibt sich, Kraus sei durch seine ganze Produktion hindurch der Kindheit stets eingedenk geblieben. Im zitierten Denkbild verdichten sich die Motive der im Essay ausgeführten Kritik. Der hier evozierte Jüngste Tag kann als Gegenbild zu Kraus’ »Weltgericht« (349) ausgelegt werden:

Die von ihm verleugnete »heilsgeschichtliche Erfüllung« (340) wird sich doch ereignen  – so scheint Benjamin zu behaupten  –, und sie wird von der Melodie eines patriotischen Liedes aus den Befreiungskriegen von Ernst Moritz Arndt begleitet sein, dessen Text die militärischen Erfolge des preußischen Feldmarschalls Blücher gegen die Franzosen mit einfältiger Begeisterung feierte.99 Auffällig ist allerdings die Tatsache, dass Kraus keineswegs als auferstandener Held erscheint, sondern als »tot« und »aus-getrocknet«, als eine »Mumie«, die vom Ross Pegasus – bekanntlich ein mythisches Sinnbild der Poesie – willkürlich herumgetragen wird. Damit weist Benjamin nachdrücklich auf die Überwindung der dämonischen Selbstbespiegelung, d. h. des Primats des Subjekts als schöpferischer Geist hin: Das schöpferische Individuum erweist sich als eine »Puppe«, als

›persona‹ im ursprünglichen Sinne: »persona: das, wohindurch es hallt«

(347). Der Pegasus der Kleinen, d. h. die auferstandene Dichtung der Le-sebücher, trägt allerdings mit der Mumie des Autors auch seinen Säbel, in dem man die allegorische Verklärung des Füllfederhalters, d. h. des ›stilus‹

leicht erkennen wird. Zweischneidig ist der Säbel, weil sich Kraus auf

99 Die erste Strophe lautet: »Was blasen die Trompeten? Husaren, heraus! / Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus, / er reitet so freudig, sein mutiges Pferd / er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert. / Jucheirassasa, und die Deutschen sind da / die Deutschen sind lustig, sie rufen: Hurra!«. In der vorletzten Strophe wird dann Blücher explizit genannt.

eine dämonische Zweideutigkeit einließ, und »schneidend wie am ersten Tag« – eine klare Anspielung auf Kraus’ Treue der Schöpfung gegenüber.

Mit seinem Säbel wird die Puppe gleichsam unwillkürlich Blätter zerfetzen, was als ein Hinweis auf das Zitieren aus den Zeitungen gedeutet wer-den kann, bewer-denkt man, dass Kraus das tägliche Massaker von Bäumen zur Herstellung von Zeitungspapier mit einem Artikel unter dem Titel

»Das Ende« beklagt hatte.100 Diese herausgerissenen Fetzen verwandelt seine Feder in »Stilblüten[, die] den Boden decken«. Kraus Umdichtung der Lesebücher wird an einer weiteren Stelle im Essay betont: Im Sinne des Kindes als Werdendes habe Kraus »das Lesebuch revidiert« (364).

Dieses Verb lässt sich als Hinweis auf einen ganz besonderen Modus der Vergegenwärtigung des Gewesenen deuten, für den Benjamin in anderen Schriften ab 1927 die Bezeichnung ›Eingedenken‹ verwendet. Bei einer

›Revision‹ hat man nicht mit einer bloßen Erinnerung zu tun, die sich darauf beschränkt, das Vergangene gewissermaßen abzubilden. Revision ist keine Reproduktion, sondern Interpolation: Das liegt am geheimnis-vollen Wesen der Erinnerung, »die eigentlich das Vermögen endloser Interpolationen im Gewesenen ist« (GS VI, 476). In Kraus’ revidierender Umdichtung der Lesebücher aus seinen Kindheitsjahren handelt es sich also um das unwillkürliche Auftauchen von Bildern bzw. von sprachlichen Fetzen – Verse, Worte, Namen –, deren auf Erlösung wartendes Potenzial im gegenwärtigen Eingedenken realisiert wird. Eine dunkel anmutende Notiz aus den »Paralipomena« ließe sich vor diesem Hintergrund enträtseln:

Das Bild hier gewissermaßen als höchster Punkt der Looping the loop = Schleife, die der dialektische Denker befährt. (GS II, 1100)

In Kraus’ sowie auch Benjamins Bildern werden nicht nur Form und In-halt, sondern auch Gegenwart und Vergangenheit ineinander verschränkt, geradezu miteinander verknotet.101 Das Bild erweist sich als Ausdruck eines »Looping the loop«, wobei die Schleife vom dialektischen Denker nicht gelöst, sondern befahren werden muss. Demnach kommt es nicht darauf an, das Bild in seine Bestandteile zu zergliedern, um es begrifflich zu verwerten. Das dialektische Bilddenken ist nicht etwa ein vorläufiges Sta-dium, das auf dem Weg zum absoluten Wissen aufgehoben werden müsste.

Es ist vielmehr ein fruchtbares »Looping the loop«, ein empfängliches

»Schleifen-Befahren«, in dessen Kulminationspunkt das Eingedenken steht.

100 Auf diesen Artikel verweist Benjamin im ersten Teil seines Essays (GS II, 341).

101 Vgl. auch das Denkbild im ersten Abschnitt des Kraus‑Essays, wo es ebenfalls um das Schürzen bzw. Lösen von Knoten geht (GS II, 337).

An der Schnittstelle von Genealogie und