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Die dämonischen Folgen des Glaubens an einen mythischen Ursprungan einen mythischen Ursprung

Kraus als monumentale Gestalt

4.3. Die dämonischen Folgen des Glaubens an einen mythischen Ursprungan einen mythischen Ursprung

Vor der Folie des frühen Aufsatzes Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen (1916) – zutreffend als »die Schaltstelle in Benja-mins gesamtem Werk«27 bezeichnet – liest sich der Kraus-Essay wie eine weitere Ausführung, eine Vertiefung und eine kritische Verwendung der dort vorgelegten Thesen. Hatte Benjamin schon 1916 den »Sündenfall des Sprachgeistes« (GS II, 153) als Herabwürdigung der Sprache zum bloßen Mittel diagnostiziert, so verschärft sich diese Ansicht gut 15 Jahre später: Denn mit ihrem unermüdlichen Kampf gegen die Presse macht Die Fackel deutlich, dass die »Phrase« ein weit schlimmeres, geradezu teuflisches Stadium des Verfalles darstellt, das Benjamins frühe Sprach-philosophie ergänzt. In diesem neuen Stadium geht man nämlich über die Herabwürdigung der Sprache auf ein bloßes Mittel hinaus: Die Phrase ist instrumentalisierte Sprache, die eine verheerende Macht ausübt, indem sie Meinungen herstellt und damit »die Öffentlichkeit unfähig zum Richten«

(335) macht.28 Wie Kraus gezeigt hat, ist die Presse kein harmloser Bote mehr: »Sie ist kein Dienstmann […], sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen.« (Ebd.; Zitat aus Kraus’ Schrift In dieser großen Zeit) Noch verhängnisvoller als die »Mittelbarmachung der Sprache« (154) erweist sich also das Umschlagen des Mittels in einen Zweck, wie heutzutage u. a. die vollständige Angewiesenheit der Politik auf die Medien belegt.

Die einzig angemessene Haltung vor dieser alltäglichen, scheinbar un-aufhaltsamen Schändung liegt nicht so sehr im Anklagen dieser Umstände als vielmehr im Schweigen, bzw. im paradoxen Gestus eines öffentlich ausposaunten Schweigens: »In dieser großen Zeit  – schrieb Kraus im Dezember 1914  – […] mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten.

[…] Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!« (338) An diesen Imperativ hat sich auch Benjamin während des Ersten Weltkriegs streng gehalten, wie sein Brief an Martin Buber vom 17. Juli 1916 am prägnan-testen dokumentiert.29 Um Kraus’ Forderung in ihrer geschichtsphiloso-phischen Relevanz zu würdigen, erarbeitet Benjamin folgendes durchweg dialektisches Denkbild:

27 Menninghaus 1980, 49.

28 »Denn Meinung ist die falsche Subjektivität, die sich von der Person abheben, dem Wa‑

renumlauf einverleiben läßt.« (343)

29 GB I, 325−327.

Diese Bewandtnis hat es mit allem, was Kraus schrieb: es ist ein gewendetes Schweigen, ein Schweigen, dem der Sturm der Ereignisse in seinen schwarzen Umhang fährt, ihn aufwirft und das grelle Futter nach außen kehrt. Der Fülle seiner Anlässe ungeachtet, scheint jeder einzelne überraschend mit der Plötz‑

lichkeit eines Windstoßes auf ihn hereingebrochen. (338)

Wie der schwarze Umhang hat auch das Schweigen eine grelle Kehrseite.

Bezeichnenderweise verweist das Adjektiv ›grell‹ ursprünglich auf die aku-stische Sphäre des zornigen Gebrülls, um erst später – vom 18. Jahrhun-dert an – auf Gesichtseindrücke übertragen zu werden: So verschränken sich in ihm das Visuelle und das Akustische mit einem denkwürdigen synästhetischen Effekt. Bei Kraus kann das Schweigen plötzlich in laute Zornausbrüche umschlagen, die dann ihren sprachlichen Niederschlag in der Fackel finden. Wenn aber die von Kraus veröffentlichten Texte nichts als ein »gewendetes Schweigen« darstellen, wie soll man das Letztere verstehen? Worum geht es eigentlich in seinem Schweigen? Unter den im Vorfeld des Essays aufgezeichneten »Paralipomena zum Kraus« stößt man auf einen hilfreichen Hinweis:

Seiner wichtigen Termini sind nicht viele an Zahl und ihre begriffliche Unver‑

wendbarkeit kann aus den dreißig Jahrgängen der Fackel, die kein einziges wissenschaftliches oder philosophisches »Ergebnis« aufzuweisen haben, zur Genüge entnommen werden. (1098)

Demzufolge hätte Kraus, der schreiende Bote, im Grunde genommen gar nichts zu sagen bzw. mitzuteilen. Die Masse der von ihm eigenständig veröffentlichten, gelegentlich auch auf der Bühne vorgelesenen Schriften lässt sich ja nicht »begrifflich[]« verwenden, jedoch wäre es absurd, ihre tiefe ethische Relevanz bestreiten zu wollen. Mag sein »gewendetes Schweigen« jeden Versuch einer philosophischen Aufwertung zum Schei-tern verurteilen, so verlangt es vielmehr als Zeugnis aufgenommen zu werden. Als »Allmensch«,30 der mit seinen »Bürgertugenden« (365) die Ideale des Bildungshumanismus bzw. der Weimarer »Humanität« (363) verkörpert, zeugt Kraus von einer äußerst konsequent durchgeführten Verwerfung der Geschichte im Namen der Natur als Schöpfung bzw. im Namen der Kreatur.31 Nach einer Notiz aus den »Paralipomena« stellt sich ihm »das Menschenwürdige nicht als eine Bestimmung und eine

Be-30 Dieser Ausdruck wurde ursprünglich von Dostojewski im Aufsatz Die Judenfrage verwen‑

det, den Kraus in der Fackel vom Dezember 1915 abgedruckt hatte. Dazu Schulte: »Bei Dostojewski steht der Allmensch für den guten Einzelnen, dessen beispielhaftes Handeln ausschließlich von der Liebe zum Mitmenschen bestimmt ist.« (2003, 56)

31 Dazu bemerkt Beatrice Hanssen: »Despite appearances, Kraus’s polemical work was in the thralls of a deep‑rooted, melancholic longing for a paradisiac state of nature.« (1998, 116)

dingung der befreiten Natur sondern als Element der Natur schlechtweg, einer geschichtslosen archaischen Natur in ihrem ungebrochnen Ursein«

dar (1101). Damit befinden wir uns im Umfeld des theoretischen Kerns des ganzen Essays: Mit ungeheurer Radikalität zeigt Benjamin, wie die allmenschliche Treue zu einer als ursprüngliche Natur hingestellten Schöp-fung ständig der Gefahr ausgesetzt ist, dialektisch in eine zweideutige Dämonie umzuschlagen.

Schließlich wird im dritten Teil eine anders geartete, dynamische Auf-fassung des Ursprungs dargelegt, die ihn als zerstörend-erlösende Macht aufweist. Nicht von ungefähr bezeichnete der Kraus-Aufsatz für Benja-min »den Ort, wo ich stehe und nicht mitmache« (1093):32 Schildern die ersten zwei Teile (»Allmensch« und »Dämon«) die von ihm verworfenen Standpunkte, so profiliert sich im dritten Abschnitt (»Unmensch«) eine Perspektive, in der die sprachphilosophischen Theoreme seines Frühwerks mit einem materialistischen Ansatz in Einklang gebracht werden sollen.

Um Benjamins Konstruktion von dem »allmenschlichen Kredo« bei Kraus in ihren theologischen und geschichtsphilosophischen Implikationen zu vertiefen, erweist sich der Bezug zu Franz Rosenzweig als äußerst fruchtbar. Nach dem triadischen Schema, auf dem der Stern der Erlösung beruht, verweisen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung jeweils auf drei verschiedene Konstellationen, die so resümiert werden können:

(a) In der Schöpfung als immerwährendem Grund der Dinge33 wendet sich Gott an die Welt; das bestimmende Pronomen ist hier »Er«, das entsprechende Tempus die Vergangenheit und die charakteristische Form die Erzählung.

(b) In der Offenbarung als allerzeit erneuerter Geburt der Seele34 wendet sich Gott an den Menschen; hier kommt den Personalpronomina

»Ich-Du«, dem Tempus Gegenwart und der Form des Dialogs die ent-scheidende Rolle zu.

(c) In der Erlösung als ewiger Zukunft des Reichs35 wendet sich schließ-lich der Mensch an die Welt. Im Vordergrund stehen hier das Pronomen

32 Hier stütze ich mich auf Christopher Thornhills Deutung: »The Kraus‑essay is expressely intended as an immanent critique of the notion and vocabulary of ›Ursprung‹. […] Kraus is employed as a critical model who both represents, and ultimately points the way out of, myth, demonism and the Klagesian quest for origin.« (1996, 12) Im Kraus‑Essay finde man

»a radicalisation of the theory of origin in Benjamin’s thought and the transportation of the notion of origin into the later context of Benjamin’s materialist‑dialectical concerns«

(ebd., 7).

33 Vgl. Rosenzweig 1921, 124−173.

34 Ebd., 174−228.

35 Ebd., 229−282.

»Wir«, das Tempus Zukunft und die Ausdrucksform des Chors bzw. des choralen Worts.

Zieht man dieses Schema bei der Lektüre des Kraus-Essays heran, so kommt man zum folgenden Schluss: Indem Kraus ständig der Schöpfung eingedenk bleibt und sie einseitig zum höchsten Kriterium erhebt, indem er als »Sachwalter der stummen Natur« (GS II, 1153) auftritt,36 privile-giert er eine statische Urvergangenheit, die ihm allerdings einen Zugang zur Gegenwart und zur Zukunft erschwert, wenn nicht verschließt.37 So wird Die Fackel in einer Notiz auch als »das Organ des ewigen Schöp-fungstages« bezeichnet (1114). Somit kann es bei Kraus weder zu einer dialogischen noch zu einer choralen Beziehung zu seinen Mitmenschen kommen: Es bleiben nur die zwei gegensätzlichen Parteien seiner Verehrer und seiner Verächter. Aus dieser gewissermaßen ausweglosen Situation ergibt sich auch die Zentralität der »Kreatur« bei Kraus.

Der Umstand, dass Benjamin so nachdrücklich auf diesen Begriff hinweist, mag auch damit zusammenhängen, dass der Ausdruck damals Konjunktur genoss. Das belegt u. a. die Zeitschrift Die Kreatur (1926−29), die von Martin Buber, Joseph Wittig und Viktor von Weizsäcker herausge-geben wurde. Das erste Heft wird von einem programmatischen Vorwort eingeleitet, in dem man auf ähnliche Worte und Wendungen stößt, wie sie Benjamin im Kraus-Aufsatz verwenden wird:38

Was uns drei Herausgeber verbündet, ist ein Ja zur Verbundenheit der geschöpf‑

lichen Welt, der Welt als Kreatur. Der unseren drei Lehr‑ und Dienstgemein‑

schaften gemeinsame Glaube an den Ursprung wird sinnlich präsent in der Gewißheit des eigenen Erschaffenseins und dem daraus wachsenden Leben mit allem Erschaffnen. Diese Zeitschrift will von der Welt – von allen Wesen, von allen Dingen, von allen Begebenheiten dieser gegenwärtigen Welt – so reden, daß ihre Geschöpflichkeit erkennbar wird. Sie will nicht Theologie treiben, eher,

36 Die zitierte Wendung stammt aus Benjamins rätselhafter Parabel Idee eines Mysteriums, die ein erstes Zeugnis seiner Kafka‑Lektüren darstellt und im November 1927 an Scholem geschickt wurde. Der ganze, das Stück eröffnende Satz lautet: »Die Geschichte darzustellen als einen Prozeß in welchem der Mensch zugleich als Sachwalter der stummen Natur Klage führt über die Schöpfung und das Ausbleiben des verheißnen Messias« (GS II, 1153; auch GB III, 303). Die Fixierung auf eine vorweltliche Urvergangenheit gehört zu den Zügen, die in Benjamins Deutung Kraus und Kafka gemeinsam waren. Der Letztere war übrigens auch ein aufmerksamer Leser der Fackel.

37 Vgl. z. B. Kraus’ Gedicht Rückkehr in die Zeit (Die Fackel, Nr. 508−513, April 1919), wo es u. a. heißt: »Mein Zeiger ist zurückgewendet, / nie ist Gewesnes mir vollendet, / und anders steh’ ich in der Zeit. / In welche Zukunft ich auch schweife / und was ich immer erst ergreife, / es wird mir zur Vergangenheit«.

38 Dass Benjamin über diese Zeitschrift bestens informiert war, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass er das Stadtbild »Moskau« (GS IV, 316 ff.) darin veröffentlicht hat: vgl. Die Kreatur, 2, 1927, S. 71−101.

in geistiger Demut, Kosmologie. Wenn sie stets der Kreation eingedenk bleibt, muß ihr jede Kreatur denkwürdig werden, der sie sich zuwendet.39

Auch Kraus bleibt »stets der Kreation eingedenk« und hegt einen tiefen

»Glaube[n] an den Ursprung« wie den von Buber, Wittig und von Weiz-säcker ökumenisch hoch gepriesenen. Das führt aber zwangsläufig zu einer Vernachlässigung bzw. Verleugnung der Geschichte, eine Negierung, der Benjamin äußerst kritisch gegenüberstand, wie aus etlichen Formulie-rungen hervorgeht: Für den Allmenschen findet etwa »die Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht […] keine heilsgeschichtliche Erfüllung, ge-schweige denn geschichtliche Überwindung« (GS II, 340); Kraus sind »die Schreckensjahre seines Lebens nicht Geschichte, sondern Natur« (341).

Gerade aus dieser unverkennbaren »Naturverhaftung« (353) ergibt sich aber die Fragwürdigkeit der allmenschlichen Haltung und der Umschlag des wohlgesinnten Allmenschen in einen korrumpierten-korrumpierenden

»Dämon«.40

Dieser schillernde Begriff, der bei Benjamin mit der verwerflichen Sphäre des Mythos eng verbunden ist, lässt sich durch den Bezug auf eine Schrift Søren Kierkegaards erhellen, die Benjamin sowohl in seinem frühen Sprachaufsatz (153) als auch im Kraus-Essay (356) zitiert: die 1914 von Theodor Haecker ins Deutsche übersetzte Kritik der Gegenwart.41 Wenn das Hauptmerkmal des Dämons nach Benjamin die Zweideutigkeit42 ist, so lässt sich Kierkegaards Schrift als eine Genealogie der Zweideutigkeit im Zeitalter der leidenschaftslosen Reflexion lesen: »Zweideutigkeit im Dasein ist es, wenn die qualitative Disjunction der Qualitäten geschwächt wird durch eine nagende Reflexion«.43 Typisch für eine leidenschaftslose und reflektierende Zeit ist laut Kierkegaard die Tatsache, »daß sie die innerliche Wirklichkeit der Verhältnisse in einer Reflexionsspannung abmattet, die

39 Die Kreatur, 1, 1926/27, S. 2 (Hervorhebungen S.M).

40 Kraus’ »Naturverhaftung« sowie sein allmenschliches Credo werden von Benjamin durch ein längeres Zitat aus dem Vorwort zu Bunte Steine in Zusammenhang mit Adalbert Stifters

»sanftem Gesetz« gebracht. Darüber vgl. eine schon 1918 entstandene Notiz zu Stifter (GS II, 608 f.), in der Benjamin zeigt, wie bei diesem »sich gleichsam eine Rebellion und Verfinsterung der Natur ereignet welche ins höchste Grauenvolle, Dämonische umschlägt«

(ebd.). Über die von Benjamin bei Stifter hervorgehobene »schnöde« Säkularisierung vgl.

Weigel 2008 (27 ff.).

41 Es handelt sich um einen Abschnitt aus Kierkegaards Eine literarische Anzeige (1846).

Über die Kierkegaard‑Rezeption bei den deutschsprachigen Intellektuellen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vgl. Thornhill 1996 (40−53), der u. a. folgende These aufstellt: »Benjamin also tries, in the construct of Kraus, to link the fundamental negati‑

vity of Kierkegaardian gnostic thought to a context of historical action. Yet Benjamin’s employment of Kierkegaardian categories consciously eschews both a Blochian celebration of the interior and an endorsement of positive social ontology.« (Ebd., 43)

42 Dazu vgl. im Kraus‑Aufsatz die Seiten 346, 350, 353, 357 und 367.

43 Kierkegaard 1846, 16.

Alles bestehen läßt, aber das ganze Dasein in eine Zweideutigkeit verwan-delt hat: so daß alles in seiner Faktizität besteht, während dialektischer Betrug privatissime eine heimliche Lesart unterschiebt – daß es nicht bestehe«.44 Die allmähliche Entkräftung der qualitativen Differenzen wür-de wür-demnach die Verhältnisse auf verheerenwür-de Weise beeinträchtigen, damit aber die für das Handeln erforderliche Orientierung unmöglich machen.

In Kierkegaards Zeitdiagnose erscheint die dämonische Zweideutigkeit als das Heraustreten aus den lebendigen Verhältnissen:

Die Springfedern der Lebensverhältnisse, die nur in einer qualitativ trennenden Leidenschaft sind, was sie sind, verlieren ihre Elastizität. Die Fernheit des Verschiedenen von seinem Gegensatz im Qualitätsausdruck ist nicht mehr das Gesetz für das innerliche Verhalten zueinander. Die Innerlichkeit fehlt, und das Verhältnis ist insofern nicht da, oder das Verhältnis ist eine schlappe Kohäsion.

[…] Das Verhältnis besteht wohl, aber es ermangelt der Spannkraft zur Samm‑

lung in Innerlichkeit und zur Vereinigung in Einträchtigkeit. Die Verhältnisse äußern sich als daseiend und doch als abwesend, nicht in Fülle, eher in einer gewissen schläfrigen Unabgebrochenheit.45

Was Kierkegaard an dieser Stelle scharfsinnig beschreibt, ist eine ähnliche Pathologie wie die historische Krankheit nach der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches. Die problematische Lage des reflexiven, von dem Überschuss an Reflexion gelähmten Menschen ist dann ihrerseits zu einem beliebten Thema von mehr oder weniger klugen Reflexionen geworden:

ein scheinbar teuflischer Zirkel, in dem der angebliche Gegengift, i. e. die Reflexion, zu einer weiteren Schwächung, d. h. zu einer Intensivierung des zu behandelnden Übels führt.

Hinter Kierkegaards Ausführungen über den Verfall der Verhältnisse steht die Figur des Dämons.46 Vergegenwärtigt man sich den Eros in Platos Symposion,47 so erkennt man im Dämon die paradigmatische Zwischen-gestalt der Vermittlung zwischen Göttern und Menschen. Deshalb ist der Dämon als solcher ein zweideutiges Wesen: weder Gott, noch Mensch, sondern Bedingung der Möglichkeit ihrer Kommunikation. Als »τι μεταξύ« verkörpert der Dämon das Verhältnis, und das Verhältnis par excellence ist das erotische, das mit der Begierde zusammenhängt: »so daß durch

44 Ebd. (im Original hervorgehoben).

45 Ebd., 17 u. 19.

46 Ausführlicher geht Kierkegaard auf den Begriff des Dämonischen im vierten Kapitel von seiner pseudonymen Schrift Der Begriff Angst (1844, 138 ff.) ein. Auf die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg sehr verbreitete Verwendung des Ausdrucks ›Dämon‹

weist Thornhill (1996, 53) hin, indem er folgenden symptomatischen Satz aus Theodor Haeckers Buch Satire und Polemik (1922) zitiert: »Kein Berliner Tageblatt‑Kavalier geht heute, und nun vollends während des Krieges, ohne Dämon aus; lieber läßt er noch das silberne Zigarettenetui in der Tasche, als daß er seinen Dämon nicht vorzeigt.«

47 S. besonders Symp. 201 D–209E.

seine Vermittlung das All sich mit sich selber zusammenbindet«.48 Wenn man den Dämon walten lässt, kann er sozusagen ungestört seine lebendige Macht ausüben: Dann können die Menschen sich nach gewissen Verhält-nissen richten, nach ihnen handeln. Erhebt aber der Mensch den Anspruch darauf, den Dämon für seine eigenen Zwecke zu bezwingen, lässt er sich von dem Willen leiten, das lebendige Verhältnis zu einem bloßen Mittel herabzuwürdigen, dann verfällt er in die zweideutige Dämonie.

Nicht von ungefähr deckt Benjamin im Kraus-Essay  – wohl auf sei-ne Lektüre von Ludwig Klages zurückgreifend49  – Geist und Sexus als dämonische Mächte auf: Stellt der Sexus die Herabwürdigung des Eros zu einem bloßen Mittel zum Genuss dar, so erweist sich der Geist als Usurpator der Sprache:50

Die Besessenheit des dämonischen Sexus ist das Ich, das, umgaukelt von so süßen Frauenbildern, »wie die bittre Erde sie nicht hegt«, sich genießt. Und nicht anders die lieblose und selbstgenugsame Figur des besessenen Geistes: der Witz. Zu ihrer Sache kommen sie beide nicht; das Ich zum Weib so wenig wie der Witz zum Wort. (GS II, 350)51

Das Ich genießt sich selbst in der Onanie und im Witz: In beiden Fällen gibt es keinen Raum mehr für wirkliche Relationen, es bleiben nur Einbil-dungen, Phantasmen, Larven.52 Es bleibt nur das, was Benjamin »Selbst-bespiegelung« (346) nennt.53 Genau wie von Kierkegaard beschrieben:

»Die Verhältnisse äußern sich als daseiend und doch als abwesend«54 – so

48 Ebd., 202 E.

49 Ich denke hier vor allem an Klages’ Vom kosmogonischen Eros (1922), in dem folgende These ausführlich diskutiert wird: »Eros ist nicht Geschlechtstrieb, und Geschlechtstrieb ist nicht Eros« (Klages 1922, 54). Benjamins Beschäftigung mit diesem und anderen Tex‑

ten von Klages, den er 1914 zu einem Vortrag über Graphologie vor der Berliner Freien Studentenschaft eingeladen hatte (vgl. GB I, 237), fand ihren Niederschlag im 1922−23 verfassten Fragment Schemata zum psychophysischen Problem (GS VI, 78 ff.). Vgl. auch GB II, 114 u. 319; GB III, 110 u. 537. Über Benjamins Beziehung zu Klages vgl. u. a.

Pauen 1999, Wohlfarth 2002b, Lebovic 2006 und 2013.

50 Über die Degradierung des Eros zu einem Mittel vgl. Benjamins frühen Aufsatz Sokrates (1916): »Sokrates bildet den Eros zum Diener seiner Zwecke. […] Er vergiftet die Jugend, er verführt sie. Seine Liebe zu ihr ist nicht ›Zweck‹ noch reines Eidos, sondern Mittel.«

(GS II, 129) Vgl. dazu Sigrid Weigels Lektüre (1997, 154 ff.).

51 Hier zitiert Benjamin aus Kellers Gedicht »Tod und Dichter«, das er bereits in seinem Essay Gottfried Keller (1927) behandelt hatte (s. GS II, 292).

52 »An leerer Selbstbezüglichkeit […] kranken Onanie und Pointe, weil ersterer die wahre Lust fehlt und letzterer der geistvolle Witz.« (Honold, in Lindner 2006, 537)

53 Nach dem triadischen Schema entspricht dem Allmenschen die Selbstbehauptung, dem Dämon die Selbstbespiegelung und dem Unmenschen die Selbstbescheidung, wie man folgendem Passus am Ende des Essays entnehmen kann: »So sieht die Selbstbescheidung nun aus – kühner als die einstige Selbstbehauptung, die in dämonischer Selbstbespiege‑

lung zerging« (GS II, 367). Vgl. auch die triadischen Variationen in den »Paralipomena«

(1088).

54 Kierkegaard 1846, 19.

lautet das Gesetz der dämonischen Zweideutigkeit in Verkennung der qualitativen Differenzen. Um diese fundamentale Einsicht in ihrer vollen Tragweite zu würdigen, muss die Schilderung des »Sündenfall[s] des Sprachgeistes« (153) im frühen Sprachaufsatz näher betrachtet werden.

Bezeichnenderweise bevorzugt hier Benjamin die räumliche Semantik des Gegensatzes ›innen-außen‹, wie die häufige Verwendung der Ausdrücke

›heraustreten‹ und ›äußerlich‹ im folgenden Passus belegt:

Der Name tritt aus sich selbst in dieser Erkenntnis heraus: Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namensprache, der erkennenden, man darf sagen:

der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleich‑

sam, magisch zu werden. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes. […] Indem der Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt, macht er die Sprache zum Mittel. (153) Benjamin versucht an dieser Stelle, eine schwer zu fassende Bewegung heraufzubeschwören, die eine profane Übersetzung und Verwertung der biblischen Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies darstellt. Im Mittelpunkt dieser kühnen Deutung steht die elementare Feststellung, dass Gott die Schöpfung insgesamt als gut erkannt hat. Daraus folgt aber, dass

»das Wissen, was gut sei und böse« (152) nichtig ist – denn es kann sich

»das Wissen, was gut sei und böse« (152) nichtig ist – denn es kann sich