• Keine Ergebnisse gefunden

Zu einer genetischen Phänomenologie des mimetischen Verhaltensmimetischen Verhaltens

»im Augenblick des Eingedenkens«

5.3. Zu einer genetischen Phänomenologie des mimetischen Verhaltensmimetischen Verhaltens

Die Potenz wird nicht wahrgenommen. Als dau-ernde Aktualität (oder beharrendes Nicht-Jetzt) ist sie vielmehr Gegenstand des Gedächtnisses.

(Paolo Virno)46 Wie zu Recht bemerkt wurde, stellt die Berliner Chronik den Ort eines Paradigmenwechsels hinsichtlich gedächtnistheoretischer Fragen im Ben-jaminschen Denken dar: In ihr kann man u. a. eine Verschiebung von einem topographisch-räumlichen hin zu einem »schrift-topographischen, psychoanalytisch geprägten Gedächtniskonzept«47 beobachten. Darüber hinaus muss ein weiterer, damit zusammenhängender Zug der Kindheitser-innerungen Benjamins hervorgehoben werden: Nach wiederholter Lektüre der Berliner Chronik und der Berliner Kindheit wird man sich des Ein-drucks nicht erwehren, eine schwerwiegende Spannung ziehe sich durch diese Texte hindurch, die näher betrachtet zu werden verdient. Einerseits liefern etliche Stücke bzw. Passagen offensichtlich wichtige Beiträge zu einer genetischen Phänomenologie oder Genealogie48 des mimetischen

44 Zitiert in Bianchi 1987, 157.

45 Ebd., 8.

46 »La potenza non è percepita. In quanto inattualità duratura (o non‑ora che persiste), essa è, piuttosto, oggetto della memoria.« (Virno 1999, 61; meine Übersetzung)

47 Weigel 1997, 28.

48 »Der Genealoge im Sinne Nietzsches hält sich zwar bei den Anfängen auf, aber diese Anfänge liegen gerade nicht vor dem Fall der historischen Zeit, sondern sind durch das

Verhaltens, d. h. zu einer feinfühligen Deskription jenes ursprünglichen Mimetismus, der die Weichen für die Konstitution des Subjekts stellt.

Andererseits stößt man in beiden Schriften häufig auf eigentümlich rück-wärts gekehrte Prophezeiungen:49 Im Erlebten entdeckt bzw. enträtselt Benjamin prophetische Winke, die auf eine mittlerweile zur Gegenwart gewordene Zukunft anspielen. Diesen zweiten Vektorpfeil können wir im Rückgriff auf den vielfachen Schriftsinn in der Bibelexegese als typologisch bezeichnen.50 Läuft der typologische Ansatz darauf hinaus, das Vergangene von der Gegenwart aus als verschlüsselte Antizipation des Gegenwärtigen auszulegen, so versucht die Genealogie im Gegenteil jedwede teleologische Auffassung außer Kraft zu setzen, um das Vergessene bzw. Verdrängte zu Tage zu fördern, d. h. das Gegenwärtige von einer vergessenen Vergan-genheit her zu beleuchten.

Damit ergibt sich eine problematische Spannung zwischen einem teleo-logischen Ansatz einerseits und einem grundsätzlich nicht-teleoteleo-logischen andererseits: Gerade dieser Spannung hat sich Benjamin im Schreibprozess bewusst gestellt. Die Gegenstrebigkeit der zwei geschilderten Vektorpfeile verleiht diesen Texten ihre Eigendynamik und ihre jeder Einordnung sich verschließende Originalität. Schematisch kann man diese Spannung so darstellen:

Genealogie: Vergangenheit ‑‑‑‑‑‑‑> Gegenwart Typologie: Vergangenheit <‑‑‑‑‑‑‑ Gegenwart

Dass Benjamin häufig seine Theoreme aus scheinbar aporetischen Span-nungen heraus entwickelt, geht aus dem Theologisch-politischen Fragment paradigmatisch hervor, wo der fruchtbare Einsatz von gegenstrebigen Denkfiguren bildlich reflektiert wird: Das Profane und das Messianische werden dort als zwei entgegengesetzte Pfeilrichtungen dargelegt, »aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Weg zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches« (GS II, 204). Wie Werner Hamacher

irreduzible Spiel dokumentierbarer Einzelheiten, Kontingenzen und Ereignisse markiert.

[…] Für den Genealogen entziffert sich die Herkunft eines Dings immer nur als ›Herkunft aus etwas anderem‹ als es selbst. Als ›Haupt‑Gesichtspunkt der historischen Methodik‹, die die Genealogie sein will, hebt Nietzsche hervor, dass sie sich die Frage nach den Zweckursachen der Dinge verbietet und stattdessen ihre laufende Umprägung durch die jeweils zwecksetzenden Mächte erforscht.« (Friedrich Balke, in Pethes / Ruchatz 2001, 218) Für eine ausführliche Charakterisierung der genealogischen Methode vgl. Foucault 1971.

49 Ich führe diesen Ausdruck in Anlehnung an eine Notiz Benjamins zu den Thesen Über den Begriff der Geschichte ein, in der der Historiker als »ein rückwärts gekehrter Prophet«

(GS I, 1235) bezeichnet wird.

50 Über Herkunft und Geschichte der ›Typologie‹ als figurale Interpretation vgl. Auerbach 1938.

klargemacht hat, beruht dieses Bild »auf der Vorstellung eines – profanen – Zeitstrahls, der in die Zukunft geht, und eines zweiten – messianischen –, der aus der Zukunft kommt«.51

Auf den uns jetzt interessierenden Kontext übertragen heißt das: Geht die genealogische Pfeilrichtung in die zur Gegenwart gewordene Zukunft hinein, so kommt die typologische aus der zur Gegenwart gewordenen Zukunft zurück. Dabei handelt es sich gewissermaßen um die zwei mög-lichen Lesarten der berühmten Formel von Karl Kraus »Ursprung ist das Ziel«.52 Die genealogische Lesart würde nämlich lauten: »Ursprung ist das Ziel«, die typologische dagegen: »Ursprung ist das Ziel«: Je nach Akzentsetzung verändert sich der Sinn grundsätzlich. Die besprochene Spannung erweist sich somit als Komplementarität, zumal es möglich ist, Spuren von typologischer Teleologie im genealogischen Ansatz, so wie einen genealogischen Ertrag bei typologischen Interpretationen ausfindig zu machen.53

Um mit der Analyse des genealogischen Ansatzes zu beginnen, ist zunächst eine radikale Epoché angesichts der Vorstellungen verlangt, die man von sich selbst bzw. vom Selbst als solchem hat. Die Kindheit als Schwellenfigur bzw. als reine Potenzialität lässt sich nicht auf das katego-riale Raster zurückführen, das für das schon konstituierte Subjekt-Objekt-Verhältnis Geltung beansprucht. Um die Kindheit nicht als Vorstufe bzw.

als Vorbereitung zum erwachsenen Alter zu behandeln, d. h. um dem von Bergson analysierten »mouvement rétrograde du vrai«54 auszuweichen, muss man sich so streng wie möglich an das rein Ästhetische halten: Leib-lich und sinnLeib-lich bewegt sich das Kind in seiner Umwelt. Dabei wird es von jenem ursprünglichen Mimetismus geleitet, auf den Benjamin in zwei kurz nacheinander unternommenen Anläufen theoretisch eingegangen ist.

51 Hamacher 2006, 187.

52 Der Vers stammt aus Kraus’ Gedicht Der sterbende Mensch (Die Fackel, 381−83, Sep‑

tember 1913). Darüber s. o. Kapitel 4.4.

53 Das liegt zum einen daran, dass es keine absolut voraussetzungslose genealogische Un‑

tersuchung geben kann (denn die Ausschaltung der gegenwärtigen Lage kann nie ohne Rest erfolgen), zum anderen daran, dass das typologische Eindringen in die Vergangenheit auf Befunde stoßen kann, die den Glauben an eine teleologische Kontinuität radikal in Frage stellen, indem sie heterogene Beiträge und verfremdende Verschränkungen ans Licht bringen.

54 Die retrospektive Logik des »mouvement rétrograde du vrai« wird von Bergson in seiner Einleitung zur Aufsatzsammlung La pensée et le mouvant (1934) geschildert. Hier heißt es u. a.: »A toute affirmation vraie nous attribuons […] un effet rétroactif; ou plutôt nous lui imprimons un mouvement rétrograde. […] Par le seul fait de s’accomplir, la réalité projette derrière elle son ombre dans le passé indéfiniment lointain; elle paraît ainsi avoir préexisté, sous forme de possibile, à sa propre réalisation. De là une erreur qui vicie notre conception du passé; de là notre prétention d’anticiper en toute occasion l’avenir.«

(Bergson 1959, 1263 f.)

In den als methodologischen Reflexionen zu den Kindheitserinnerungen entstandenen Texten Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen geht er davon aus, die Natur und insbesondere der Mensch er-zeugten Ähnlichkeiten, die den Umgang der Lebewesen mit der Welt grund-legend strukturieren.55 Die Erzeugung von Ähnlichkeiten kann zuerst ontogenetisch  – am prägnantesten beim spielenden Kind56  – beobachtet werden, wird allerdings erst von einer phylogenetischen Untersuchung in ihrer vollen Tragweite beleuchtet (als Beispiele werden hier das Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos, außerdem das Horoskop und das Tanzen angeführt). Neben dieser geschichtsphilosophischen Perspektive verweist Benjamin aber auch auf einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz, der – so unsere These – ohne das wenngleich nicht explizit angeführte Eingedenken nicht auskommen kann. Denn das Eigentümliche an der Ähnlichkeit ist laut Benjamin der erkenntnistheoretisch zu verwertende Umstand, dass

»ihre Wahrnehmung […] in jedem Fall an ein Aufblitzen gebunden« (GS II, 206) sei. Dazu bemerkt er:

Sie [die Wahrnehmung der Ähnlichkeit, S. M.] huscht vorbei, ist vielleicht wiederzugewinnen, aber kann nicht eigentlich wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden. (Ebd.; Hervorhebung S. M.)57

Das Wahrnehmen ist sicherlich auch eine Frage des Tempos: Das Vorbei-huschende bzw. Aufblitzende wird zwar wahrgenommen, jedoch nicht

»festgehalten«. Wie die auf Reproduzierbarkeit beruhenden Künste, besonders das Kino, zeigen, kann es sogar Wahrnehmungen geben, die wegen ihrer extremen Schnelligkeit nicht einmal die Schwelle des Be-wusstseins überschreiten, dementsprechend als ›subliminal‹ bezeichnet werden.58 Nicht von ungefähr erinnert Benjamin in Lehre vom Ähnlichen an die Fähigkeit von unbewussten Wahrnehmungen, unser Verhalten un-bemerkt zu bestimmen.59 Denn das nicht bewusst Wahrgenommene wird

55 Darüber vgl. Menninghaus 1980 (60 ff.).

56 Benjamins Hervorhebung des Zusammenhangs zwischen Spiel und mimetischem Verhal‑

ten findet in Roger Caillois’ Les jeux et les hommes (Paris, 1958) eine aufschlussreiche Bestätigung.

57 Dieser Passus stammt aus Lehre vom Ähnlichen. In Über das mimetische Vermögen lautet die entsprechende überarbeitete Stelle: »Denn ihre [der Ähnlichkeit, S. M.] Erzeugung durch den Menschen ist – ebenso wie ihre Wahrnehmung durch ihn – in vielen und zumal den wichtigen Fällen an ein Aufblitzen gebunden. Sie huscht vorbei.« (213)

58 Im Kunstwerk‑Aufsatz legt Benjamin dar, wie die Kamera das Optisch‑Unbewusste zum Vorschein bringt: »Denn die mannigfachen Aspekte, die die Aufnahmeapparatur der Wirklichkeit abgewinnen kann, liegen zum großen Teile nur außerhalb eines normalen Spektrums der Sinneswahrnehmungen« (GS I, 461; GS VII, 376; vgl. auch die französische Fassung: GS I, 731).

59 So schreibt er: »Noch für die Heutigen läßt sich behaupten: die Fälle, in denen sie im Alltag Ähnlichkeiten bewußt wahrnehmen, sind ein winziger Ausschnitt aus jenen zahl‑

doch  – wenngleich unbewusst  – festgehalten: Es hinterlässt eine Spur, die »vielleicht wiederzugewinnen« ist, und zwar in einem nachträglichen Akt der Vergegenwärtigung. Zieht man Bergsons Ausführungen über die Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Erinnerung wieder heran, so kann man die These aufstellen: Eine unbewusste Wahrnehmung ist eine Art Erinnerung an die Gegenwart. Die blitzschnelle aísthesis hinterlässt ein phántasma, das später aufgrund einer mémoire involontaire, i. e. des Eingedenkens, »vielleicht wiederzugewinnen« ist.

Erst vor diesem Hintergrund wird der von Benjamin eingeführte Begriff der unsinnlichen Ähnlichkeit verständlich. Wie wir schon gesehen haben, bezieht Benjamin deutlich Stellung für die Hypothese, das den Lebenskreis unserer vorgeschichtlichen Urahnen durchwaltende mimetische Vermögen sei nicht abgestorben, sondern habe eine »Verwandlung« (206) bzw. eine

»Transformierung« (211) erfahren: Es sei nämlich dermaßen in Verges-senheit geraten, »daß wir ihn [den mimetischen Objektcharakter, S. M.]

heute nicht einmal zu ahnen fähig sind« (206). Beispielsweise wurden

»Vorgänge am Himmel von früher Lebenden [als] nachahmbar« ange-sehen, was heutzutage offenbar nicht mehr der Fall ist. Ähnlich verhält es sich laut Benjamin mit der Sprache: Nicht nur hat das Verhältnis von Gesprochenem und Bedeutetem einen in Vergessenheit geratenen onoma-topoetischen Charakter gehabt, sondern auch das Verhältnis zwischen Gesprochenem und Geschriebenem (bzw. zwischen Geschriebenem und Bedeutetem) beruht auf einer ursprünglichen Ähnlichkeit.60

Deshalb ist der Begriff der unsinnlichen Ähnlichkeit  – wie Benjamin betont – »ein relativer: Er besagt nach einer ersten semantischen Schicht – wohl nicht der einzigen  –, dass wir in unserer Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es einmal möglich machte, von einer Ähnlichkeit zu sprechen, die bestehe zwischen einer Sternkonstellation und einem Menschen« (207; Hervorhebung S. M.). ›Unsinnlich‹ hieße demnach ein-fach ›nicht mehr sinnlich‹. Jene Ähnlichkeiten und Korrespondenzen, die einmal in einer unvordenklichen Vorwelt für das menschliche Verhalten bestimmend waren und den damaligen Erfahrungshorizont gestalteten, werden nicht mehr als solche wahrgenommen. Gewissermaßen existieren sie für den modernen Menschen nicht mehr, hält man sich an den gesunden Menschenverstand. Trotzdem versucht Benjamin, über »den geläufigen

losen, da Ähnlichkeit sie unbewußt bestimmt. Die mit Bewußtsein wahrgenommenen Ähnlichkeiten – z. B. in Gesichtern – sind verglichen mit den unzählig vielen unbewußt oder auch garnicht wahrgenommenen Ähnlichkeiten wie der gewaltige unterseeische Block des Eisbergs im Vergleich zur kleinen Spitze, welche man aus dem Wasser ragen sieht.«

(GS II, 205; Hervorhebungen S. M.)

60 Über Benjamins Einschätzung von onomatopoetischen Sprachtheorien vgl. sein Sammel‑

referat Probleme der Sprachsoziologie (GS III, 452−480).

(sinnlichen) Bereich der Ähnlichkeit« (207) hinauszugehen, indem er die Sprache als Leitfaden nimmt. Macht man den onomatopoetischen Ansatz geltend, so erscheint die Sprache bzw. die Schrift geradezu als »ein Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten, unsinnlicher Korrespondenzen« (208).

Demnach lautet die für die vorliegende Arbeit entscheidende Frage:

Wie kann eine unsinnliche, d. h. als solche in Vergessenheit geratene Ähnlichkeit ermittelt und untersucht werden? Es handelt sich nämlich um ein Phänomen, das im Prinzip nie wahrgenommen werden kann, um ein nicht-gegebenes Phänomen, also um ein paradoxes Nicht-Phänomen.

So schreibt Benjamin im Blick auf die zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen waltende unsinnliche Ähnlichkeit:

Und der Versuch, ihr eigentliches Wesen sich zu vergegenwärtigen, kann kaum ohne den Blick in die Geschichte ihres Zustandekommens unternommen wer‑

den, so undurchdringlich auch das Dunkel ist, das heut noch darüber gebreitet ist. (208)

Anders formuliert: Die an der Sprache haftende unsinnliche Ähnlichkeit kann zwar nicht mehr wahrgenommen werden, erschließt sich jedoch einem rigoros durchgeführten ontogenetischen Eingedenken, in dem die dem Kind unreflektiert aufblitzenden Ähnlichkeiten nachträglich reflek-tiert, damit zugleich vor dem Vergessen gerettet werden. Diese These findet eine Bestätigung in Benjamins 1933 aufgezeichnetem Vergleich zwischen seinem frühen Sprachaufsatz und der neuen Mimesistheorie:

Das Aufblitzen der Ähnlichkeit hat geschichtlich den Charakter einer Anam‑

nesis, die einer verlornen Ähnlichkeit, die frei von der Verflüchtigungstendenz war, sich bemächtigt. Diese verlorene Ähnlichkeit, die in der Zeit Bestand hat, herrscht im adamitischen Sprachgeist. Der Gesang hält das Abbild einer solchen Vergangenheit fest. (GS VII, 795)61

Gerade solche »Anamnesis« liegt Benjamins Unterfangen in der Berliner Chronik und in der Berliner Kindheit zugrunde. So versucht er an einer Stelle der Ersteren, »das Unergründliche […], mit dem gewisse Worte aus der Sprache Erwachsner dem Kinde entgegentreten« (GS VI, 495), herauf-zubeschwören. Das hier angegebene Beispiel heißt ›Brauhausberg‹: Dieses Wort wird vom Kind keineswegs als Mitteilungsmittel zur Bezeichnung eines Ortes, sondern als eigenständiger »Klang« (ebd.) erfahren.62 Da

die-61 Die angeführte Passage stammt aus einem Einzelblatt, das Scholem in seinem Nachlass aufbewahrt und mit dem Titel »Antithetisches über Wort und Name« überschrieben hat.

62 Der Passus über das ›Brauhausberg‹ aus der Chronik wurde dann von Benjamin in das Stück »Schmetterlingsjagd« der Berliner Kindheit eingearbeitet, das am 2. Februar 1933 in der Frankfurter Zeitung neben anderen Stücken veröffentlicht wurde (GS IV, 245; VII, 393).

ser Klang Benjamin jahrzehntelang »nicht mehr über die Lippen noch zu Ohren gekommen ist«, hat er sich verklärt:63 Er hat eine besondere Macht angenommen, die sich im Eingedenken entfalten kann. Denn in diesem Wort haben »sich wie hunderte von Rosenblättern in eine[m] Tropfen von rose malmaison hunderte von Sommertagen ihre Gestalt, ihre Farbe und ihre Vielzahl opfernd mit ihrem Dufte erhalten« (ebd.). Damit wird nicht so sehr die mimetische Erfahrung des Kindes zum Ausdruck gebracht, als vielmehr der mögliche Zugang zu ihr angedeutet. Darauf weist Benjamin deutlich hin, wenn er schreibt:

Es ist noch nicht lange her, daß ich es [das Wort ›Brauhausberg‹, S. M.] wieder‑

fand, wie denn einige unteilbare Funde, diesem gleichend, viel Anteil an meinem Entschlusse haben, diese Erinnerungen aufzuzeichnen. (ebd.)

Die Berliner Chronik und die Berliner Kindheit wurden gleichsam nach dem Diktat des Eingedenkens niedergeschrieben. Was aber den Anlass zum Eingedenken gab, war nichts anderes als das unerwartete Wieder-auftauchen von längst vergessenen Namen, in denen sich eine Reihe von kindlichen Erfahrungen destilliert hatte. Wie ein Wein vom Winzer wurde das Wort ›Brauhausberg‹ im Gedächtnis abgelagert, hiermit dem Vergehen der Zeit überlassen, in der sich stillschweigend ein Gärungsprozess zur Verklärung des Wortes vollzog. Denn  – wie vor allem die Surrealisten gezeigt haben64 – »[v]ergangen, nicht mehr zu sein arbeitet leidenschaftlich in den Dingen« (GS V, 1001).

Diese sprachliche Dynamik, die Ansätze zu einer Theorie des Gedächt-nisses liefert, macht Benjamin an weiteren Stellen geltend, z. B. als er sich an die Abschiedsfeier für die Abiturienten erinnert:

Hier finde ich, wie an einigen andern Stellen, in meinem Gedächtnis streng fixierte Worte, Ausdrücke, Verse, die wie eine bildsame später aber erkaltete Masse den Abdruck des Zusammenstoßes zwischen einem größern Kollektiv und mir in sich bewahrt haben. Wie eine gewisse Art bedeutsamer Träume in Worten das Erwachen überdauert, wenn sonst schon alle übrigen Trauminhalte sich verflüchtigt haben, so sind hier isolierte Worte als Male katastrophaler Begegnungen stehen geblieben. (GS VI, 474)

Im Einklang mit seinem sprachphilosophischen Ansatz deckt hier Benja-min das Wort als Medium der geschichtlichen Erfahrung auf: In ihm, in einer noch nicht instrumentalisierten Sprache, mit der das Kind noch frei spielt und experimentiert, ereignet sich der »Zusammenstoß« zwischen

63 So in der Berliner Kindheit: Dieses Wort habe »das Unergründliche bewahrt, womit die Namen der Kindheit dem Erwachsenen entgegentreten. Langes Verschwiegenwordensein hat sie verklärt« (GS IV, 245; VII, 393).

64 S. o. Kapitel 2.2. und 3.4.

dem Kollektiv und dem einzelnen Individuum. Das von Benjamin verwen-dete Bild einer bildsamen Masse, die den Abdruck eines Stoßes erhalten kann, verweist offensichtlich auf die berühmteste gedächtnistheoretische Metapher der ganzen abendländischen Philosophie, und zwar auf Platons

»ekmageîon«, jene uns von Mnemosyne geschenkte »Wachstafel« (Theai-tetos 191c), deren paradigmatischer Charakter sich bis Freud mit seinem Wunderblock behauptet hat.65

Aus diesem unverkennbaren Stellenwert der Sprache hinsichtlich der Aktivierung des Eingedenkens erklärt sich auch der Vorrang des Akusti-schen vor dem Visuellen in Benjamins Kindheitserinnerungen, ein Vorrang, der im Stück »Eine Todesnachricht« ausdrücklich thematisiert wird:

Es ist ein Wort, ein Rauschen oder Pochen, dem die Gewalt verliehen ist, un‑

vorbereitet uns in die kühle Gruft des Einst zu rufen, von deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein Echo scheint zurückzuhallen. (GS IV, 252)

Wurden bei Proust vor allem Geruchs- und Geschmacksempfindungen durch die Macht ausgezeichnet, unwillkürliche Erinnerungen an den

»temps perdu« zu wecken,66 so besitzt bei Benjamin das Gehör die effek-tivsten Schlüssel zu den heimlichsten Gemächern unseres Gedächtnisses.

Demgemäß treten zahlreiche Figuren aus Benjamins Vergangenheit zuerst akustisch auf. So ist der Vater mit dem eigentümlichen Geräusch des eine Brotscheibe streichenden Messers assoziiert (GS VI, 497); das Teppich-klopfen wird als »die Sprache der unteren Welt« vernommen (503); die Vergegenwärtigung der gehassten Schule ist von dem »Klingelzeichen«

(510) nicht zu trennen; »die Schrecken der berliner Wohnung« (498) werden vom schrillen Geläut des Telefons gesteigert; in die Loggia dringt die Stadt in akustischer Gestalt des Straßenlärmes herein (502). Schließlich vernimmt Benjamin in der ans Ohr gebrachten »Muschel« ganz bestimmte Klänge und Geräusche, die er sorgfältig in »Die Mummerehlen« aufzählt (GS IV, 262).

Der Stellenwert akustischer Empfindungen für die Erinnerung hängt mit dem phänomenologischen Befund zusammen, dass sie eben nicht dem wahrnehmenden Subjekt gegenüber stehen, sondern es umgeben und von jeder Seite überraschen können. Während der Akt der Vision vom Subjekt durch das Fokussieren aktiv vollzogen werden muss, stellen sich die Hör-empfindungen überwiegend passiv ein: Sie überfallen und überraschen das Subjekt, indem sie von der Welt her in seine Wahrnehmungsfeld einbrechen.

65 Neben Freud 1925 vgl. auch Aristoteles De anima (429b−430a) und Derrida 1966.

66 »Der Geruch, das ist der Gewichtssinn dessen, der im Meere der temps perdu seine Netze auswirft.« (GS II, 323)

Auf besonders gelungene Weise wird diese Verschränkung von akus-tischen Empfindungen und mimetischem Verhalten im Stück »Die Mum-merehlen« (IV, 260−263) reflektiert. Der entstellte Kindervers, der dem Stück den Titel gibt, gilt Benjamins Eingedenken als Leitfaden, um sich einen Zugang zur »entstellte[n] Welt der Kindheit« (262) zu verschaffen.

Diese Welt ist von der unwiderstehlichen Neigung zum Sich-Vermummen charakterisiert, dessen bevorzugte Masken bei Benjamin sprachlichen Charakter haben. Worte übten nämlich auf ihn geradezu einen Zwang aus, sich ihnen ähnlich zu machen, sich in sie »zu mummen« (261). Dabei bevorzugt er ausgerechnet Worte, die ihn »nicht Mustern der Gesittung, sondern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten«,67 wie auch aus dem Stück »Verstecke« hervorgeht: »Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst« (GS IV, 253; VII, 418).

Es sei schließlich kurz auf den eigentümlichen materialistischen Ansatz Benjamins hingewiesen. In ihrem Streben nach einer räumlichen Über-windung der zeitlichen Innerlichkeit des Subjekts gelangen Benjamins Kindheitserinnerungen zu einer genauen Beschreibung jener Momente, in

Es sei schließlich kurz auf den eigentümlichen materialistischen Ansatz Benjamins hingewiesen. In ihrem Streben nach einer räumlichen Über-windung der zeitlichen Innerlichkeit des Subjekts gelangen Benjamins Kindheitserinnerungen zu einer genauen Beschreibung jener Momente, in