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Proust had a bad memory. […] The man with a good memory does not remember anything because he does not forget anything.

(Samuel Beckett)

Den entscheidenden Impuls zur Herausarbeitung des Eingedenkens als besonderer Denkfigur hat Benjamin aus seiner Proust-Lektüre bekommen.

Im geheimnisvollen, von Proust entdeckten Phänomen der mémoire invo-lontaire erschließt sich eine unerhörte Perspektive auf Zeit, Erfahrung und Gedächtnis. Um die Eigentümlichkeit dieser Perspektive hervorzuheben, führt Benjamin in seinem Essay Zum Bilde Prousts (1929) den Termi-nus ›Eingedenken‹ ein. Von daher kommt diesem Text mitsamt den in seinem Vorfeld entstandenen Materialien ein herausragender Stellenwert im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu. In diesem Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, dass Prousts mémoire involontaire für Benjamin ein Paradigma darstellt, dessen Entgrenzung und Übertragung jenseits der Literatur ihm neue geschichtsphilosophische und politische Horizonte erschlossen haben.

3.1. Im Anfang war die Übersetzung

Vom November 1925 bis Ende 1926 widmete sich Benjamin zusammen mit Franz Hessel der Übertragung von drei Bänden des Proustschen Zyklus À la recherche du temps perdu ins Deutsche.1 Während Sodom und Gomorrha leider als verschollen gilt, wurden Im Schatten der jungen Mädchen 1927 beim Verlag »Die Schmiede« und Die Herzogin von Guermantes 1930

1 Zur Entstehungsgeschichte von Benjamins Proust‑Übersetzungen s. Hella Tiedemann‑

Bartels’ Anmerkungen zu GS‑Supplement III, 587−594.

bei Reinhard Pieper veröffentlicht.2 Zutreffend bemerken die Herausgeber der Gesammelten Schriften: »Benjamins Verhältnis zu Proust war zunächst und vor allem das des Übersetzers« (GS II, 1044).3 In einem Brief an Scholem beschreibt Benjamin seine Übersetzungsarbeit als »ungeheuer absorbierend[], auf meine eigenen Schrift[en] intensiv influenzierend[]«

(GB III, 406).4 Der Briefwechsel zeugt von einem »inneren Zwiespalt in Benjamins dienendem Engagement für Prousts Werk«:5 »Zum Problem wurde Benjamin während der Übersetzung aber vor allem die Nähe der eigenen Produktion zum Werk Prousts«.6 Die Nähe des Dichters wurde von ihm »zunehmend als eine Gefährdung empfunden«,7 wie etliche briefliche Äußerungen bezeugen.8

Um den Bann dieser exzessiven Nähe zu brechen, entschloss sich Benjamin schließlich, »etwas zur Deutung Prousts beizutragen« (GB III, 432), wie er in seinem Brief an Max Rychner vom Januar 1929 schreibt, um sogleich hinzuzufügen:

Ich stehe […] dem Ganzen noch zu nahe, es steht noch zu groß vor mir. Ich warte, bis ich Details sehe, an denen ich dann, wie an Unebenheiten einer Mauer, hochklettern will. (Ebd.)

Kurz darauf, wohl ab Februar 1929, begann Benjamin an dem Aufsatz Zum Bilde Prousts zu arbeiten, der Ende Juni und Anfang Juli 1929 in

2 Die erhaltenen Proust‑Übersetzungen Benjamins liegen seit 1987 als Supplement II (Im Schatten der jungen Mädchen) und III (Guermantes) zu den Gesammelten Schriften vor.

3 An ihre Arbeit hatten sich Benjamin und Hessel herangemacht, nachdem der erste Band des Zyklus (Du côté de chez Swann, 1913) unter dem Titel Der Weg zu Swann 1926 in der Übersetzung Rudolf Schottlaenders beim Verlag »Die Schmiede« erschienen war. Der Romanist Ernst Robert Curtius hatte in der Literarischen Welt einen Verriss von Schott‑

laenders Arbeit geschrieben. Seinerseits hatte Benjamin diesen Band als »ein lächerliches Debüt« bezeichnet (GB III, 431). Über die spannende Geschichte der deutschen Proust‑

Rezeption vgl. Mass 1982 und Roloff 1994.

4 In ihrer 1980 erschienenen, systematisch angelegten Studie über das Verhältnis von Benjamins Übersetzungen zu seiner Sprachphilosophie stellt Barbara Kleiner einen inter‑

essanten Vergleich zwischen der Übersetzung von Benjamin / Hessel und der späteren, in den 1950er Jahren vorgelegten von Eva Rechel‑Mertens an, aus dem hervorgeht, dass Letztere »bei diesem Vergleich schlecht abschneidet« (Kleiner 1980, 114). Kennzeichend für Rechel‑Mertens’ Übertragung sei »ein musterschülerhafter Proust auf Deutsch, von dem alles Lust‑ und Glücksvolle abgestrichen ist« (ebd., 115). Wenn Benjamin eine deutlich bessere Arbeit geleistet habe, hänge das auch von seiner Übersetzungstheorie ab, denn, so Kleiner, »die nahe Verwandtschaft Benjamins zu Proust [musste] […] ihn zu dessen prädestinierten Übersetzer machen« (ebd., 114).

5 Hella Tiedemann‑Bartels in: GS, Supplement III, 592.

6 Ebd.

7 Ebd., 593.

8 Vgl. GB III, 62 (an Scholem), 96 (an Hofmannsthal), 98 (an Rilke), 105 (wiederum an Hofmannsthal) und 151 (an Jula Cohn).

drei Fortsetzungen in der Literarischen Welt erschien.9 Den Kern dieser Schrift bildet Benjamins Einsicht in »das absolut Neue« (GS II, 1057) von Prousts Werk, i. e. das, was es als Sonderfall ohnegleichen auszeichnet und ihm (Proust) die Würde verleiht, eine ungeahnte Perspektive auf bislang so gut wie unbekannte Phänomene erschlossen zu haben. Dabei setzt Benja-min voraus, dass »alle großen Werke der Literatur eine Gattung gründen oder sie auflösen, mit einem Worte, Sonderfälle sind« (310). Beides ist bei Proust der Fall: Die Recherche steht wie ein herausragendes Massiv in der Weltliteratur bzw. wie eine labyrinthische Werkstatt, in der ein einzigar-tiges Experiment geführt wurde und bei jedem Leser, geradezu bei jeder Lektüre erneut vor sich geht; ein Experiment, dessen Protokolle einen kaum zu übertreffenden Reichtum an wertvollen Einsichten enthalten.

Leitmotiv dieser »unkonstruierbaren Synthesis«10 (310) ist jenes geheim-nisvolle Phänomen, auf das man sich üblicherweise mit Bezeichnungen wie ›Gedächtnis‹ und ›Erinnerung‹ bezieht:

Es liegt auf der Hand: nicht psychologische Analyse, nicht die Gesellschaftskritik, nicht die Beobachtungsgabe sind unverwechselbar Proustisch. […] Das Signet seines Schaffens, verborgen in den Falten seines Textes (textum = Gewebe) ist die Erinnerung. (1057)

Gerade in der Betonung der »Falten« und in der Vorstellung des Romans als »Gewebe« lässt sich ein deutlicher Widerhall der Arbeit als Übersetzer vernehmen. Dass Benjamins Verhältnis zu Proust zunächst einmal die Form der Übersetzung annahm, ist ein Umstand, der auf seine Deutung in Zum Bilde Prousts einen prägenden Einfluss ausüben sollte. Der Übersetzer muss den Text als Gewebe nicht nur wahrnehmen, sondern auch gewissermaßen in »Zettel« und »Einschlag« auflösen, um mit den daraus resultierenden Fäden ein ganz neues Gewebe zustande zu bringen.

Nicht von ungefähr führt Benjamin in seinem Vorwort zu den von ihm übersetzten »Tableaux parisiens« (1923) aus Baudelaires Fleurs du Mal ein mit Textilien zusammenhängendes Denkbild ein, um das Verhältnis Original-Übersetzung zu reflektieren:

Bilden nämlich [Gehalt und Sprache] im [Original] eine gewisse Einheit wie Frucht und Schale, so umgibt die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten. (GS IV, 15)

9 Über Benjamins Verhältnis zu Proust vgl. u. a. Kleiner 1980, Greffrath 1986, Knips 1994, Pensky 1996, Kahn 1998, Münster 1999, Teschke 2000, Weber 2000, Bittel 2001, Fin‑

kefelde 2003, Mc Gettigan 2009.

10 Mit diesem Ausdruck spielt Benjamin auf Ernst Blochs »Gestalt der unkonstruierbaren Frage« an (s. o. Kap. 1.5).

Der Übersetzer arbeitet demnach wie ein Schneider, also wie jemand, der sich in Geweben bestens auskennen muss. »Gehalt« der Sprache der Übersetzung ist aber nichts anderes als die Sprache des Originals: Unter dem Königsmantel befindet sich als Gehalt der Übersetzung ein weiteres Gewebe, das mit dem »Original« zusammenfällt. Da der »Gehalt« der Recherche laut Benjamin in der (Entfaltung der) mémoire involontaire besteht, heißt das in der Begrifflichkeit des Übersetzer-Essays, dass die Proust’sche »Art des Meinens« (14) nichts anderes als »das ungewollte Eingedenken«  – so übersetzt Benjamin mémoire involontaire (GS II, 311) – ist. Daraus erklärt sich, warum Benjamin gleich am Anfang seines Proust-Essays die Erinnerung im Bild des Webens auftreten lässt: Dort redet er von der »Penelopearbeit des Eingedenkens« (ebd.).

Dem Übersetzer erscheint der »Gehalt« des Originals als »textum«, d. h. als Gewebe.11 Man muss aber einen weiteren Schritt machen: Die mémoire involontaire bzw. das unwillkürliche Eingedenken ist zwar »tex-tum«, in dem »Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel ist«

(ebd.), jedoch gilt umgekehrt das »textum« der Recherche als Übersetzung der mémoire involontaire. Denn das Einzigartige an Proust ist gerade die Art und Weise, wie die Sprache das unwillkürliche Eingedenken mit seinen verwickelten Falten getreu nachahmt. Keine Psychologie, wie Benjamin betont, d. h. kein Subjekt waltet hier, sondern ausschließlich die Erinnerung in ihrem Sich-Auslösen und Entfalten.

Als Übersetzer hat Benjamin die lehrreiche, aber auch äußerst an-strengende Gelegenheit gehabt, die besondere Art des Proustschen We-bens gründlich zu studieren und »sich an[zu]bilden« (GS IV, 18). Nun ist Prousts Stil im wesentlichen metonymisch, nicht metaphorisch, wie Barbara Kleiner treffend betont:

Das metonymische In‑Beziehung‑Setzen zweier Dinge der Außenwelt oder der Erinnerung liefert Proust dasjenige reduplizierte Bild, in dem nichts mehr mit sich selbst identisch, eins nur als ähnliches im anderen wiedererkannt wird.12 Die Metonymie beruht also auf der Kontiguität von zwei oder mehre-ren Eindrücken, wobei sich diese Kontiguität sowohl räumlich als auch zeitlich entfalten kann. Es lohnt sich, diesen Gedankengang in seinen

11 Über den kosmologischen Hintergrund der Metapher des Webens und des Spinnens (den Mythos vom Weltgewebe usw.) vgl. den sehr informativen Artikel von Ellen Harlizius‑

Klück im Wörterbuch der philosophischen Metaphern (Konersmann [Hg.] 2007, 498 ff.).

12 Kleiner 1980, 105. Auf Stephen Ullmann zurückgreifend, meint Kleiner, »daß in der Re‑

cherche, entgegen Prousts ausdrücklicher Betonung der Metapher häufig metonymische Konstruktionen zu finden sind; Gérard Genette hat im Anschluß daran gezeigt, daß Prousts Metaphern fast ausnahmslos in Metonymien fundiert sind und daß aus deren Verstrebung die Dichte des Textes, des Gewebes sich zusammensetzt« (ebd., 103 f.).

Implikationen für unser Thema weiterzuverfolgen. Indem man die der mémoire involontaire zugrunde legende »Art des Meinens« als ein »We-ben« beschreibt, legt man sie scheinbar metaphorisch, tatsächlich jedoch metonymisch als einen Text aus. Das Merkwürdige bei Proust ist aber die Tatsache, dass auch die Umkehrung dieses Satzes gilt: Mit der Recherche begegnet man einem Text, der metonymisch als eine einzige, sich in eine fast unübersichtliche Vielfalt von zerstreuten Eindrücken auflösende mémoire involontaire erscheint. Zu Recht beschreibt Benjamin diesen die Grenzen der Gattung sprengenden Roman als »Schublade, die bis zum Rande mit unbrauchbarem, vergeßnem Spielzeug gestopft ist.« (GS II, 1057)

So funktioniert die Metonymie bei Proust: »[D]ie unebenen Pflaster-steine im Hof des Palais Guermantes sind auch die im Baptisterium der Markuskirche in Venedig.«13 Durch die Metonymie (gr. metonymía, lat.

denominatio oder transnominatio, i. e. ›Umbenennung‹) wird gewisser-maßen jede Benennung zu einer Umbenennung, deren bildlosem Schoß unaufhaltsam Bilder entspringen. Nicht zuletzt aus diesem metonymischen Grund konnte Benjamin im Namen die »Zuflucht aller Bilder« (GS IV, 370) sehen.14 Das liegt daran, dass jeder Name als solcher eine Metony-mie darstellt, wie u. a. Benjamins Prosastücke In der Sonne und Agesilaus Santander belegen. Im Ersteren erscheint, mit schöner Proustscher Wen-dung, »jede Ortsbezeichnung [als] eine Chiffre, hinter welcher Flora und Fauna ein erstes und ein letztes Mal aufeinandertreffen« (GS IV, 417).

Im esoterischen Selbstporträt Agesilaus Santander dagegen geht Benjamin von der Annahme aus, jeder öffentliche Name müsse als Verstellung eines geheimen Namens angesehen werden. Metonymisch weist sich jeder Name als Spielraum von correspondances aus, die das von ihm Bezeichnete sowie ihn selbst verklären und in ein Netz von vielfältigen Relationen auflösen, die den Grundton ›Ähnlichkeit‹ immer wieder variieren.

Die metonymische Struktur der mémoire involontaire – das, was Ge-nette als »contagion métonymique« bezeichnet hat15 – lässt sich anhand der berühmten madeleine-Szene nachweisen, und zwar in zweifachem Sinne. Zum einen steht der Name Madeleine aufgrund der

Wirkungsge-13 Kleiner 1980, 106.

14 Dieser Ausdruck begegnet im Denkbild »Zu Nahe« aus Kurze Schatten, nicht zufällig im selben Jahr wie der Proust‑Aufsatz veröffentlicht.

15 Genette 1972, 56. In seinem Aufsatz Métonymie chez Proust redet Gérard Genette mit prägnanter Formulierung von einer »collusion très fréquente de la relation métaphorique et de la relation métonymique, soit que la première s’ajoute à la seconde comme une sorte d’interprétation surdéterminante, soit que la seconde, dans les expériences de ›mémoire involontaire‹, prenne le relais de la première pour en élargir l’effet et la portée.« (Ebd., 59) Er geht also davon aus, dass die sprachliche Aufarbeitung der mémoire involontaire auf einem metonymischen Verfahren beruht.

schichte der Recherche paradigmatisch für etwas anderes, das allerdings eng mit ihr verknüpft ist (die von Proust gestiftete Kontiguität liegt hier auf der Hand): Sie verweist nämlich auf das unwillkürliche Eingedenken.

Andererseits aber gehen folgenschwere Verschiebungen und Verdichtungen schon in der Episode vor sich: Plötzlich wird die vom Erzähler verzehrte madeleine zu einer anderen, schon längst vergangenen, die er als Kind sich gerne schmecken ließ. Es geht hier ja um keine Metapher, sondern um das verblüffende Sich-Einstellen einer Konstellation zwischen dem Wahr-genommenen und dem Erinnerten: um eine irradiation (Ausstrahlung) per Kontiguität.16 Je tiefer man in Prousts Meisterwerk eindringt, desto mehr wird man dazu neigen, diese metonymische Struktur der mémoire involontaire zu verallgemeinern: In jeder Empfindung wird man die An-deutung auf eine andere Welt von Empfindungen ahnen.

3.2. Gegen psychologisierende Lektüren: