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Das Eingedenken als Organ einer Metaphysik der Innerlichkeit

Einen wichtigen Teil von Blochs System des theoretischen Messianismus bildet das sechste und letzte Kapitel des Geistes der Utopie,63 »Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage«, in dem nicht weniger als eine »Metaphysik der Innerlichkeit« (363 ff.) entwickelt wird. In deren Mittelpunkt liegt die polare Spannung zwischen dem konstitutiven Sich-Selbst-Verfehlen des Subjekts (das sich in Blochs Schriften durchziehende Dunkel des gelebten Augenblicks) einerseits und der unausweichlichen Dringlichkeit der unbe-antwortbaren (in Blochs Jargon: unkonstruierbaren) Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz andererseits.64 Da das Subjekt sich selber nie vollkom-men gegenwärtig, nie wirklich im Besitz des gegenwärtigen Augenblicks ist, da es also strukturell noch nicht ist, drängt sich ihm immer wieder die

der Tod und die Apokalypse«), wo Bloch seinen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung pathetisch heraufbeschwört (»Denn die Seele besteht, sie ist phänomenologisch‑selbständig gegeben«, 416).

62 Im Lexikon für Theologie und Kirche (Bd. 8, S. 1130) liest man z. B.: »Restitutio in inte-grum, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, gewährt das Kirchliche Recht aus Gründen der Billigkeit als Rechtsmittel gegen ein in Rechtskraft erwachsenes Urteil, sofern die Ungerechtigkeit des Urteils offenkundig steht«.

63 Diesem sechsten Kapitel folgt dann ein selbständiger, nicht nummerierter Essay mit dem Titel »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse« (391−445).

64 Blochs unkonstruierbare Frage kann als Variation zum überlieferten metaphysischen Thema des ›thaumazein‹ gedeutet werden, wie Bloch selbst bestätigt hat: »Schließlich ist ja der ständige Einsatz von Philosophieren das Staunen. Sowohl Platon als auch Aristoteles sagen, das thaumázein, also das Erstaunen, das Sich‑Verwundern sei der Anfang der Philosophie.

Dieses Staunen ist nun das noch ungezielte Fragen, das innerhalb von Philosophie und Wissenschaft auf eine große Zahl von schon vorhandenen Antworten stößt, vor allem auf eine schulmäßige Stereotypie des Antwortens« (1978, 383).

Frage nach dem Sinn dieses permanenten Sich-Verfehlens auf, eine vielfach formulierbare existenzielle Frage, in der sich ein ursprüngliches Staunen ausdrückt, dessen Spuren Bloch an Zitaten aus Eckhart, Böhme, Kant und Kierkegaard ausfindig macht.65 Gerade innerhalb dieser Spannung findet das Eingedenken seinen angemessensten Ort, in dem es auf fruchtbare Weise tätig werden kann, wie aus folgender Passage deutlich hervorgeht:

So nahe scheinen sich Dunkel des gelebten Augenblicks und Gestalt der un‑

konstruierbaren Frage zu berühren, daß gerade jene Begriffe, die nur aus uns kommen, die weder durch etwas außerhalb unseres inneren Evidenzbewußtseins Liegendes veranlaßt noch widerlegt noch bestätigt werden können, wie Held, Güte, Heiliger, Erlöser, Reich, also die rein ontologischen Begriffe der zweiten Ethik und Metaphysik, ebensowohl halb unsichtbar bleiben, an der Steilheit des aktuellen Gesichtswinkels teilnehmend, wie sie imstande sind, dem Sehnenden, Staunenden, Nahen und darin zugleich Fernsten der unkonstruierbaren Frage in uns mindestens die Wegrichtung, das subjektive System abzustecken. Es be‑

reitet sich darin zur Überfahrt in das letzte Antworten, in das sich selbst Essen, in sich selbst Auferstehen, sich selbst Rezitieren der gnostischen Messe, in ein völlig erlebtes, in uns zurückverwandeltes, das heißt mit seinem Kern gedecktes Eingedenken, in ein intensiv und darin ontisch gewordenes Gegenwärtigsein von Person. (373)

Im Eingedenken – so meine Deutung dieser dunklen Stelle – erlebt man zweierlei: einerseits das Staunen vor dem permanenten Sich-Verfehlen, andererseits aber das nachträgliche Einholen eines schon unwiederbring-lich verlorenen Augenblicks. Im Eingedenken »berühren« sich – wie hier Bloch betont  – beide Momente der Innerlichkeit: Dunkel des gelebten Augenblicks und unkonstruierbare Frage. Allerdings muss man sich vor dem naheliegenden Schluss hüten, diese Berührung führe zu einer Lösung der innerlichen Spannung, zu einer Synthese, die dann mit ›Eingedenken‹

benannt werde. Die Dialektik zwischen unabdingbarem Dunkel und unbeantwortbarer Frage lässt sich nicht als bloße vorläufige Vorstufe zu einer endgültigen »Selbstbegegnung« aufheben. Zwar ist Blochs Werk darauf angelegt, das apokalyptisch-messianische Ende herbeizuführen, dennoch speist sich dieser mystische Elan gerade aus einer im Herz der Gegenwart liegenden Lücke. Das Eingedenken erscheint also nicht als eine provisorische prekäre Lösung, sondern vielmehr als Offenbarung der unkonstruierbaren Frage, das heißt aber auch als Fähigkeit, dieser Frage den ihr gebührenden Spielraum zu geben, statt sie durch allzu mensch-liche Konstruktionen zu bagatellisieren und abzuwehren. Man lese zum Beispiel folgende Stelle:

65 »Denn nur einer, Kierkegaard, hat hier völlig das bloß Gescheite, uns letzthin Fremde hinter sich gelassen. Er ist der uns zugeborene Hume, wie er anders, bedeutungsvoller als dieser aus dem dogmatischen Schlummer erweckt« (368).

Wir ruhen um uns, rufen, schaffen, beschleunigen, beten, befehlen, eingedenken, legen die Antwort so nahe als möglich, die Krusten um uns herum aufzulockern und die Masken an uns abzuwerfen. (385 f.)

Es stellt sich somit die Frage: Kann man sich einen Zustand vorstellen, in dem diese existenzielle Sorge  – eben dieses Rufen, Beschleunigen, Beten und Eingedenken – endlich überwunden wäre, um dem Frieden eines mit sich selbst versöhnten, sich selbst restlos durchsichtig gewordenen Sub-jekts Platz zu machen? Wie soll man die von Bloch mit unerschütterlicher Beharrlichkeit anvisierte Selbstbegegnung66 verstehen? Fällt sie mit der Erfahrung des Eingedenkens zusammen, oder weist sie darüber hinaus auf einen weiteren Horizont, in dem das Utopische zur vollständigen, restlosen Verwirklichung kommen wird? Mit dem fundamentalen Begriff des Dunkels des gelebten Augenblicks rettet sich Bloch vor der naiven Idealisierung eines Zustandes der absoluten Durchsichtigkeit. Denn wir

»liegen uns selbst im gelben Fleck« (371), ohne uns »in die adäquate Di-rektheit des wirklichen Lebens« (372) ein für allemal begeben zu können.

So betont Bloch an der oben zitierten Stelle den dynamischen Charakter der conditio humana, indem er von »Wegrichtung«, »Überfahrt« und von einem »Sich-Bereiten« redet, die letztlich zum verwirklichten Gegen-wärtigsein führen sollen.67 Damit scheint aber Bloch auf die Möglichkeit einer messianischen Aufhebung des Dunkels des gelebten Augenblicks zu verweisen, deren äußerst problematischer Charakter auf der Hand liegt.

Diese Aufhebung wird als »[ein] letzte[s] Antworten, [ein] sich selbst Essen, [ein] in sich selbst Auferstehen, [ein] sich selbst Rezitieren der gnostischen Messe, ein völlig erlebtes, in uns zurückverwandeltes, das heißt mit seinem Kern gedecktes Eingedenken« beschrieben. Bezeichnenderweise wird hier der Abschnitt über die »Metaphysik der Innerlichkeit« unterbrochen, und ein neuer, einfach »Jesus« betitelter, fängt an. Das Fragwürdige, geradezu Aporetische an Blochs Darstellung könnte so zusammengefasst werden:

Nur die Nicht-Verwirklichung der Möglichkeit der Erlösung – die Tatsache also, dass diese Möglichkeit sich nicht realisieren kann  – rettet sie von ihrer Auflösung in eine getarnte Form von Notwendigkeit. Man begegnet damit einem modaltheoretischen Problem, das in Aristoteles’ Metaphysik

66 Der ganze Geist der Utopie kann als eine Aufforderung und eine Anleitung zur Selbstbe‑

gegnung betrachtet werden: Sämtliche sechs Kapitel (denen der Anhang über Karl Marx folgt) stehen nämlich unter dem allgemeinen Titel »Die Selbstbegegnung«.

67 Auf die Bedeutung des Bereit‑Seins hatte schon Buber im letzten seiner Drei Reden über das Judentum (1911) nachdrücklich hingewiesen: »Aber bereit sein heißt nicht unbewegt warten. Bereit sein heißt sich und die anderen zu dem großen Selbstbewußtsein des Ju‑

dentums erziehen […]. Bereit sein heißt: bereiten« (Buber 1920, 101 f.).

erstmals formuliert wurde.68 Da eine angemessene Behandlung dieser Aporie den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, beschränken wir uns hier auf ihre Bedeutung für das Eingedenken.69

Unbestreitbar beschwört Bloch an der angeführten Stelle eine beson-dere Form des Eingedenkens herauf: »ein völlig erlebtes, in uns zurück-verwandeltes, das heißt mit seinem Kern gedecktes Eingedenken«. Darin könnte man die messianische, d. h. endgültige weil vollendete Form des Eingedenkens erblicken, die sich von den vorangehenden, noch vorläufigen und tastenden Formen durch zwei Merkmale unterscheidet: vollständige Erfüllung und lückenlose Deckung. Das vollendete Eingedenken wäre also die perfekte Übereinstimmung des eingedenkenden Subjekts mit sich selbst, das endlich realisierte »Gegenwärtigsein von Person«. Trotz seiner wertvollen Einsicht ins Dunkel des gelebten Augenblicks bliebe dann Bloch letztendlich dem metaphysischen Traum einer Aufhebung jeglicher Distanz und Differenz im Namen einer absoluten Selbst-Identität verhaftet. Es handelt sich um dasselbe Ideal, von dem sich Husserl in der ersten Logi-schen Untersuchung leiten lässt.70 Wenn es aber keine innerliche Differenz mehr gibt, dann hat das Eingedenken keinen Spielraum mehr, um sich in seiner konstitutiven Nachträglichkeit zu entfalten, d. h. es wird überflüssig.

68 Und zwar in Aristoteles kritischer Auseinandersetzung mit den Megarikern: vgl. Meta-physik, 9. Buch, 1046b 29 ff.

69 Dieses Schwanken Blochs zwischen der Möglichkeit und der Notwendigkeit der Erlösung kommt gerade auf den allerletzten Seiten des Buches zum Vorschein, wo er behauptet:

»[D]aß wir selig werden, daß es das Himmelreich geben kann, daß sich der evident eingesehene Trauminhalt der menschlichen Seele auch setzt, daß ihm eine Sphäre wie immer bestimmter Realität korrelativ gegenübersteht, das ist nicht nur denkbar, das heißt formal möglich, oder erfüllbar, das heißt objektiv möglich, sondern schlechterdings notwendig, weit entfernt von allen formalen oder realen Belegen, Beweisen, Erlaubnissen, Prämissen seines Daseins« (444). Auf die Frage nach der Verwirklichung und nach den

»Schichten der Kategorie Möglichkeit« wird Bloch in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung ausführlicher eingehen, in dem er ausdrücklich vom Traum einer restlosen Selbst‑Durchsichtigkeit des Subjektes Abschied nimmt: »Das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zeigt genau dieses Sich‑Nicht‑Haben des Verwirklichenden an. Und es ist eben dieses noch Unerlangte im Verwirklichenden, welches primär auch das Jetzt und Da eines Verwirklichten überschattet. […] weshalb auch eine hinreichend vollkommen erscheinende Erfüllung rebus sic stantibus noch ebenso eine Melancholie der Erfüllung mit sich führt« (Bloch 1959, 221).

70 Vgl. § 9 der ersten Logischen Untersuchung, wo es heißt: »In der monologischen Rede können uns die Worte doch nicht in der Funktion von Anzeichen für das Dasein psychischer Akte dienen, da solche Anzeige hier ganz zwecklos wäre. Die fraglichen Akte sind ja im selben Augenblick von uns erlebt« (Husserl 1901, 36 f.). Für eine ausführliche Kritik des Husserlschen Ansatzes vgl. Derrida 1967a, wo man lesen kann: »[D]ie Gegenwärtigkeit der wahrgenommenen Gegenwart als solche [kann] nur in dem Maße erscheinen, wie sie kontinuierlich mit einer Nicht‑Gegenwärtigkeit und einer Nicht‑Wahrnehmung, nämlich der primären Erinnerung und der primären Erwartung (Retention und Protention), Ver-bindungen eingeht. Diese Nicht‑Wahrnehmungen schließen sich nicht an, begleiten nicht eventuell das aktuell wahrgenommene Jetzt, sondern haben unabdingbar und wesentlich ihren Anteil an seiner Möglichkeit« (1967a, 88).

Wir stehen dann »nackt vor Gott«. Diese apokalyptische Szene wird von Bloch an folgender Stelle geschildert, an der das Wort ›Eingedenken‹ zum letzten Male in Geist der Utopie begegnet:

Aber wenn man uns erwürgt und wir ersticken, die Berge und Inseln bewegen sich aus ihren Örtern und der Himmel entweicht wie ein zusammengerolltes Tuch; wenn uns Luft und Boden entzogen werden […]: dann stehen wir nackt vor Gott, halb, lau, unklar und doch »vollendet«, im Sinn der tragischen Situation vollendet, […] jetzt herrscht Satans apokalyptischer Zeitpunkt, und nichts fällt bei diesem verfrühten, satanisch beliebigen, aber unwiderruflichen Werkschluß vor Gott ins Gewicht als die Fülle unseres erlangten Reinseins und Gerüstetseins, unseres seelischen Besitzes und geistlichen Eingedenkens, unseres überhaupt Gewordenseins, die Ahnung, die rufende Kenntnis unseres Namens als des endlich gefundenen Namens Gottes, damit nicht alles verloren sei, damit nicht der Gang um sein Ziel betrogen werde, und alle seine Genesungen: Leben, Seelen, Werke, Liebeswelten zugrunde gehen müssen, ohne daß auch nur ein Keim davon im Staub des kosmischen Vertanseins übrig bleibt. Nur der gute Mensch kann in dieser Nacht der Vernichtung den Morgen herbeiziehen, wenn anders die unrein Gebliebenen ihn nicht hinabreißen und wenn anders sein Rufen nach dem Messias stark genug ist, um die errettenden Hände zu erregen, um in Gott die uns und ihn selber herüberziehenden Kräfte, die atembringenden, gnadenreichen Kräfte des Sabbathreiches zu erwecken. (439)

Es geht hier offensichtlich um das auf die jüdische und frühchristliche Apokalyptik zurückgehende Thema des Endkampfes zwischen dem Guten und dem Bösen bzw. dem Messias und dem Antichrist.71 Nach Bloch fällt anscheinend dieser Endkampf mit dem Weltgericht zusammen, in dem Gott die Guten retten und »die unrein Gebliebenen« verdammen wird.72 Ins Gewicht fällt u. a. auch »die Fülle […] unseres geistlichen Eingeden-kens«. In ihm sieht folglich Bloch einen möglichen Zugang zur Rettung:

Das Eingedenken bereitet die Erlösung, die ersehnte Aufnahme in das

»Sabbathreich« vor. Was hier Bloch vorschwebt, ist also, wie Benjamin in seinem sich von Geist der Utopie kritisch abgrenzenden Theologisch-politischen Fragment schreibt, eine »geistliche[] restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt« (GS II, 204). In dem hier von Benjamin benutzten Adjektiv ›geistlich‹ steckt vermutlich sogar eine direkte Anspielung auf Blochs Verwendung desselben Ausdrucks im oben ange-führten Passus, wo die Rede eben von einem »geistlichen Eingedenken«

ist. Diese Annahme ist nicht zu abwegig, wenn man berücksichtigt, dass es bei Bloch an dieser Stelle um eine kühne Spekulation über das Verhältnis zwischen dem Namen Gottes und dem Messias geht, also über ein The-ma, dessen Relevanz für Benjamins Sprachphilosophie unleugbar ist. Die

71 Einige Zeile nach der angeführten Stelle erwähnt Bloch »das Tribunal in der Apokalypse des St. Johannes« (440).

72 Vgl. Mt 25,31−46, Joh 5,28−29, Offb 20,12.

Annahme, dass sich das Theologisch-politische Fragment tatsächlich der Kritik Benjamins an Blochs Messianismus verdankt, findet ein weiteres starkes Argument darin, dass Bloch das Reich fürwahr als Ziel konzipierte, wogegen Benjamin es als Ende hinstellt.73 In Blochs apokalyptischer Sicht steht das geistliche Eingedenken auf der Schwelle zur Erlösung, da es dem Subjekt zur Selbstbegegnung verhilft.

1.6. Das Eingedenken als revolutionäre