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Realisierung des Bauvorhabens I. Angebote für Ausführungsvarianten

3 Die Bauten des Wilkhahn-Werkes

3.3 Fertigungspavillons und Lagerspange von Frei Otto 1985 bis 1988

3.3.7 Realisierung des Bauvorhabens I. Angebote für Ausführungsvarianten

Im Februar 1986, nur wenige Wochen nach dem Beschluss des Verwaltungsrates, hat die PG Gestering den Bauantrag für den Bau der Lagerspange gestellt.698 Aus-gewählte Baufirmen wurden zur Bewerbung für die Ausführung der Leistungen auf-gerufen. Mit den erweiterten Rohbauarbeiten für die Lagerspange sollte im April 1986 begonnen werden. Für die Fassaden der Lagerspange wurden gelbe Klinker ausgewählt, die eine gestalterische Klammer des von Süden sichtbaren Gebäudeen-sembles der Pavillons und der Bauten von Herbert Hirche bilden sollten.

Für das Vergabeverfahren für die »Zeltdächer aus gespannten Membranen auf Holz- oder Stahlkonstruktion« haben die Planer Spezialfirmen herangezogen.699 Als Ausführungsalternativen kamen nur noch ein Primärtragwerk aus Stahl oder Holz für die Aufhängung der Membranen und eine Holzkonstruktion mit Hängerippen und konventionellem Warmdach auf einer Holzschalung in Betracht. Richtpreisan-gebote für die Dächer legten drei Firmen auf der Grundlage der Vorgaben des Ate-liers Frei Otto im April 1986 vor. Über deren Inhalte wurden bis in den Oktober hinein Aufklärungsgespräche geführt, und es wurden in Abstimmung mit Otto Überarbeitungen und Varianten mit entsprechenden Preisänderungen erarbeitet.

Die endgültige Entscheidung für die Ausführung einer Leimholzrahmenkonstruk-tion mit Hängerippen und Warmdach auf Holzverschalung fiel mit der Beauftra-gung der Firma Johann Hocke Holzbau aus Bremen Anfang Dezember 1986 (Abb. 114). Die Ausführung des Warmdaches mit einer Dichtungsfolie aus gewebe-verstärktem Kunststoff wurde an die Firma Koitwerk Herbert Koch aus Rimsting vergeben, die im November eine Variante mit einer doppelschaligen Membran, auf-gehängt an einer Primärkonstruktion aus Stahl oder Holz, angeboten hatte.

II. Hängestabvariante erfüllt Brandschutzanforderungen

Den Vergabeentscheidungen vorausgegangen war eine nochmalige, zweite Erörte-rung der Genehmigungsfähigkeit eines Membrandaches mit der Bauaufsichtsbe-hörde im Oktober 1986. In dem Vermerk über das Gespräch heißt es:

»Aufgrund der vorgeschlagenen Außenmembran aus PVC-Material handelt es sich um eine ›weiche Bedachung‹. Konsequenz: Im Verlauf der Brandabschnitte

698 Bauantrag und Baugenehmigung Nr. 98/7-7/1986 v. 29.4.1986 für den Bau der Lagerspange, in: Bauakten Bad Münder, Fritz-Hahne-Straße 8, a. a. O. Als Planverfasser hat den Antrag Rudolf Rüffer von der PG Gestering unterzeichnet.

699 PG Gestering: Schreiben an ausgewählte Firmen v. 10.2.1986, in: Wilkhahn-Bauakte Nr. 55, a. a. O.

zwischen Pavillon II + III soll der Zwischenbau in F 90-Qualität bis zu einer Höhe gezogen werden, daß, in der Waagerechten gemessen, ein Abstand zwischen den Dachhäuten der Pavillons II + III von mindestens 12 m entsteht.«700

Eine Trennwand oder ein Zwischenbau in der dieser Vorgabe entsprechenden Höhe hätte die angestrebte Gestalt des Ensembles massiv beeinträchtigt. Unsicherheit be-stand über die Frage, ob eine Zulassung im Einzelfall benötigt würde, da die Mem-bran selbst auch tragende Funktion zu übernehmen hat. Das vorliegende Prüfzeug-nis bezog sich auf das Material, nicht auf die Tragfähigkeit. Die oberste Bauauf-sichtsbehörde des Landes bestätigte die Notwendigkeit eines Nachweises der Brauchbarkeit der Membran im Einzelfall. Eine mehrmonatige Verzögerung der Baugenehmigung und die Unsicherheit des Ausganges eines zusätzlichen Prüfver-fahrens waren für Wilkhahn nicht hinnehmbar. Im Vermerk über ein Planungsge-spräch Anfang Dezember ist folgender Hinweis auf den noch offenen Entschei-dungsprozess zu finden: »Ausgehend von der Verwirklichung der Hängestabvari-ante für die vier Pavillons werden im Hinblick auf die Gewährleistung eines konti-nuierlichen weiteren Planungs- und Bauablaufes folgende Festlegungen getroffen:

[...].«701 Die Bauarbeiten für die Lagerspange waren zu dieser Zeit in vollem Gange.

Eine Weichenstellung zugunsten der Hängestabvariante war bereits mit dem Verwaltungsratsbeschluss und mit dem Bauantrag Anfang September 1986, also vor der erwähnten Erörterung erfolgt (Abb. 113). Im Bauantrag beschreibt Otto die Dachkonstruktion kurz und stichwortartig: »Verleimte Holzkonstruktion bestehend aus satteldachförmigem Querrahmen und einem umlaufenden Druckring plus ein-gespannter Stützen. Dach: lattenförmige Hängestäbe, querlaufende Schalung, Wär-medämmung.«702 Gleichwohl war die Variante mit dem zweischaligen Membran-dach zum Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht gänzlich ausgeschlossen worden, sonst hätte sich das Gespräch über die Konsequenzen einer weichen Bedachung mit der Bauaufsichtsbehörde im Oktober erübrigt. Die erste Baugenehmigung für die

700 PG Gestering: Vermerk v. 30.10.1986 über das Behördengespräch am 28.10.1986,

in: Wilkhahn-Bauakte Nr. 55, a. a. O. (a) An der Besprechung hat auch ein Vertreter des Membran-herstellers Koitwerk teilgenommen. (b) In den Landesbauordnungen werden Bedachungen nach zwei Arten unterschieden: Bedachungen, die beständig gegen Flugfeuer und strahlende Wärme sind (»harte Bedachung«) und Bedachungen, die diese Anforderung nicht erfüllen (»weiche Beda-chung«).

701 PG Gestering: Vermerk v. 3.12.1986 über die Besprechung am 2.12.1986, in: Wilkhahn-Bauakte Nr. 55, a. a. O.

702 Baubeschreibung v. 3.9.1986, in: Bauantrag und Baugenehmigung Nr. 626/7-7/1986 v. 17.12.1986 für Neubau von Fertigungspavillons, zwei Schornsteinen und Erneuerung der Hei-zungsanlage, in: Bauakten Bad Münder, Fritz-Hahne-Straße 8, a. a. O. Diese Beschreibung des auf dem Druckring aufliegenden »Querrahmens« ist nicht identisch mit der von den Statikern Martin Speich und Franz-Josef Hinkes im Dezember 1986 ausgearbeiteten und ausgeführten Konstruktion mit dem gespreizten Dreigelenkrahmen, dessen Füße auf den Fundamenten aufliegen.

Pavillons wurde im Dezember 1986 erteilt.703 Fritz Wenzel wurde auf Wunsch von Otto als Prüfingenieur für das weitere Baugenehmigungsverfahren bezüglich der Statik beauftragt. Er hatte mit seinen Partnern das Holztragwerk des Solebades in Bad Dürrheim geplant, eine von Rudolf und Ingeborg Geier konzipierte Dachland-schaft mit fünf Hochpunkten und einem Tiefpunkt (Abb. 115). Die Hochpunkte bil-den verzweigte Holzstützen, die die Holzrippenschale des Daches tragen. Überwie-gend durch Zugkräfte beanspruchte Meridianrippen und die Schale des Daches hän-gen an Zugrinhän-gen am oberen Ende der Stützen und liehän-gen unten auf Randböhän-gen. Auf den Ringen sind Glaskuppeln aufgesetzt. Die Dachschale besteht neben den Meri-dianrippen aus Rippenringen und zweilagiger Brettschale mit Warmdachaufbau.

Im März 1987 griff Frei Otto in die fortgeschrittene Ausführungsplanung der Pla-nungsgruppe Gestering und des Statikbüros Speich und Hinkes ein, da er den Er-gebnissen der konstruktiven Durcharbeitung der Holzkonstruktion in für die Nut-zung wichtigen Aspekten nicht zustimmen wollte. Im Vermerk der PG Gestering über das Gespräch ist von Ottos Entsetzen die Rede. Seine Kritik richtete sich vor-rangig gegen eine Beeinträchtigung von Bewegungs- und Nutzflächen durch die Streben am Fuß des gespreizten Dreigelenkrahmens und die Dimensionierung der 20 eingespannten wandhohen Stützen in jedem Pavillon. Eine Reihe anderer De-tailpunkte stellte Otto unter den Aspekten Dimensionierung, Kosten und Eleganz zur Diskussion (Abb. 113 u. 116). Das Protokoll über das Gespräch macht deutlich, dass er die Beratung in Gestalt und Struktur der Werkserweiterung auch als Wahr-nehmung der nutzungsbezogenen Interessen der Bauherren verstand.704 Als eine Möglichkeit zur Vermeidung der Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit bot die ausführende Firma einige Tage nach dem Gespräch gebogene Streben mit einem erheblichen Mehrpreis an. Zur Ausführung gekommen ist schließlich der Vorschlag, die Streben nicht am Stützenfußpunkt einzubinden, sondern 130 Zentimeter über dem Fußboden. Auf die Reduzierung der Stützendimensionen unter Einsatz von zu-sätzlichem Stahl und zusätzlichen Kosten hat Wilkhahn verzichtet.

In einem weiteren Gespräch der Herren Rüffer und Gestering mit Christine Otto-Kanstinger und Frei Otto im Atelier in Warmbronn im Mai 1987 wurden Konstruk-tionsdetails für die Dachabdichtung der Pavillons, Fragen der Kanal- und Leitungs-führung für die haustechnischen Anlagen sowie die Art der Beleuchtungskörper und des Sonnenschutzes für die Pavillons abgestimmt. Damit wurde die Ausführungs-planung für die Pavillondächer abgeschlossen. Im Juli 1987 folgte die ergänzende

703 Bauantrag und Baugenehmigung Az.: 626/7-7/1986 v. 17.12.1986, in: Bauakten Bad Münder, Fritz-Hahne-Straße 8, a. a. O.

704 PG Gestering: Vermerk v. 11.3.1987 über die Besprechung am 10.3.1987 mit u. a. Theodor Diener und Frei Otto, in: Wilkhahn-Bauakte Nr. 55, a. a. O.

Genehmigung für die Statik und die Ausführungspläne für die Pavillons und Zwi-schenbauten.705 Der realisierte Entwurf ist im Nachlass von Frei Otto im SAAI mit zwei Zeichnungen i. M. 1:100 und einer Zeichnung i. M. 1:50 der Planungsgruppe Gestering dokumentiert (Abb. 117–119).

Alle Holzbauteile der Pavillons wurden gemäß dem Angebot der Holzbaufirma Hocke aus Bremen als Rechteckprofile ausgeführt. An Doppelrahmen befestigte und auf einem Rähm oberhalb der Außenwände aufliegende Hängestäbe tragen die Holzschale, auf der Dämmung und Dachfolie aufgebracht sind. Die Ingenieure Hin-kes und Speich aus Hannover haben das Holztragwerk zusammen mit der Holz-baufirma Hocke ausführungsreif dimensioniert und bemessen. Die Realisierung des von Otto in seiner Entwicklungsstudie dargestellten Zeltdaches aus zweischaliger Membran ist wegen der Unsicherheit der bauaufsichtlichen Genehmigungsfähigkeit aufgegeben worden.706 Die Holzkonstruktionen der Pavillons waren vor Ort im Sommer 1987 so weit hergestellt, dass am 10. Juli das Richtfest gefeiert werden konnte (Abb. 120–123). Die Statiker Martin Speich und Franz-Josef Hinkes be-schrieben die zur Ausführung gekommene Konstruktion.707 Die Abdichtung des Warmdachaufbaus über der Holzschalung besteht demnach aus polyestergewebe-verstärkten PVC-Polymer-Planen, die vorkonfektioniert angeliefert und vor Ort ver-schweißt wurden. Halteteller mit Distanzstücken verankern sie in der Konstruktion, um Sog- und Vertikalkräfte in die tragenden Holzbauteile abzuleiten.708

Ausstattungen, Materialien und Farben für die Räume der Erweiterungsbauteile wurden im Beisein des Verwaltungsratsvorsitzenden Fritz Hahne, der Geschäftslei-tung, der Designer Klaus Franck und Werner Sauer sowie von Frau Otto-Kanstinger und den Herren Otto und Gestering im September 1987 ausgewählt oder bestätigt.

Fritz Hahne hatte Ende Januar mit einer Notiz eine bei Rosenthal in Selb gewon-nene Anregung an den Geschäftsführer Diener gerichtet, den Luftraum unter den Pavillondächern für eine Begrünung zu nutzen: »Rosenthal hat in Rothbühl die Gropius-Fabrik mit einem Gewächshaus innen drin, in dem die Flamingos, die im

705 Die Statik wurde vom Büro Martin Speich und Franz-Josef Hinkes aus Hannover im Auftrag der ausführenden Holzbaufirma Hocke aufgestellt und mit einem Nachtrag v. 24.7.1987 genehmigt.

Noch vor der Erteilung der Baugenehmigung änderte der Bauherr seinen Antrag dahingehend, dass die Büronutzung im Pavillon 1 entfallen sollte.

706 Es ist aus den Wilkhahn-Bauakten nicht eindeutig erkennbar, ob der offenbar nicht eingeplante Zeitbedarf für ein Zulassungsverfahren im Einzelfall oder andere Gesichtspunkte zusätzlich maß-geblich waren.

707 Martin Speich und Franz-Josef Hinkes: Die Dachkonstruktion, in: Der Baumeister 86 (1989), Heft 3, S. 27; annähernd wortgleich auch in: glasforum 38 (1989), Heft 3, S. 32f. u. DBZ 37 (1989), Heft 5, S. 602-604. Siehe Dokument IV im Anhang dieser Arbeit.

708 Vorbild für die Verankerungstechnik waren die »Dürrheimer Klötze« am Dach des Bades in Bad Dürrheim.

Sommer draußen herumlaufen, überwintern.«709 Diese Anregung wurde geprüft, fand jedoch keinen Niederschlag in den Pavillons. Eine andere für die Behaglichkeit der Arbeitsplätze in der Näherei bedeutende Anregung wurde hingegen realisiert:

die Ausstattung des Pavillons 2 mit einer Fußbodenheizung für die Arbeitsplätze an den Nähmaschinen.

Die Dächer der Pavillons wurden in Veröffentlichungen hin und wieder wörtlich als Zelte bezeichnet.710 Die Dächer sind keine Flächentragwerke mit biegeunsteifen, gespannten Netzen oder Membranen wie bei anderen ausgeführten Beispielen von Otto. Jeder der vier baugleichen Pavillons hat genau genommen zwei Hängedächer mit einem sie trennenden Lichtband. Die Sattelflächen der beiden Dachabschnitte bilden eine freie Hängeform zwischen geraden Randgliedern. Oberes Randglied ist das in der Nord-Süd-Mittelachse verlaufende gespreizte Bindersystem aus zwei an den Fußpunkten zusammenlaufenden, mit Querstäben verbundenen Dreige-lenkrahmen. Das Bindersystem hat oberhalb der Außenwände die Form eines Sat-teldaches mit einer Neigung von 40 Grad. Das untere Randglied ist ein auf einge-spannten Stützen liegender horizontaler Traufpfettenrahmen, der die oktogonale Pavillonform aufnimmt. Zwischen diesen Randgliedern verlaufen die schlanken, einheitlich gekrümmten Hängerippen aus rechteckigen Brettschichtholzprofilen mit Kantenlängen von unter 10 Zentimetern. Sie hängen gelenkig an den Rahmen-bindern und sind an den unteren Punkten zugkraftschlüssig mit dem Pfettenrah-men verbunden. Um die Tragwirkung von Hängeschalen zu erreichen, ist eine Lage Holzbretter auf den Rippen aufgebracht, und rechtwinklig zu den Rippen sind Zug-bänder verlegt. Ein Ausweichen der Dreigelenkrahmen aus ihrer Ebene bei unglei-cher Dachbelastung wird so vermieden. Auf der Schalung sind eine Dampfsperre, eine Mineralwolldämmschicht und zur Abdichtung eine armierte Folie in hellgrauer Farbe verlegt.711

709 Fritz Hahne: Zu den Neubauten, Vermerk Wilkhahn Intern v. 30.1.1987, in: Wilkhahn-Bau-akte 55, a. a. O. In einer Innenraumperspektive der PG Gestering v. März 1987 ist eine an den Kehl-balken aufgehängte Konstruktion aus zu einem Quadrat zusammengefügten Pflanzkästen darge-stellt. Sie kam nicht zur Ausführung. Von Interesse ist hier Hahnes Kenntnis von der von der TAC mit Walter Gropius geplanten und 1967 fertiggestellten Rosenthal Porzellanfabrik am Rothbühl in Selb. Hahne gehörte zur Bauzeit der Pavillons dem Aufsichtsrat der Rosenthal AG an.

710 Vgl. Anonym 1989e: Produktionspavillons der Firma Wilkhahn in Bad Münder, in: glasfo-rum 38 (1989), Heft 3, S. 27. Die äußere Erscheinung der Pavillons erweckt von bestimmten Blick-punkten aus tatsächlich den Eindruck von Zelten.

711 Vgl. Müller 2021, S. 46.

III. Aussagen zur Fertigstellung und erste Erfahrungen im Betrieb

Am 23. Oktober 1987 nutzte Wilkhahn einen weitgehend fertiggestellten Pavillon für ein Betriebsfest. Im Januar des darauffolgenden Jahres wurden die Pavillons in Betrieb genommen. Bei der Eröffnungsfeier am 3. Juni 1988 stellten Fritz Hahne, Theodor Diener und Frei Otto der Belegschaft und den rund zweihundert internati-onalen Gästen den Neubau vor (Abb. 124 u. 125).712

Frei Otto prognostizierte in einem Interview, dass es »einen Run auf diese Ar-beitsplätze geben wird, weil sie einfach schöner sind«. Über die Zusammenarbeit mit den Beteiligten sprach er von einem »Wechselspiel aller Beteiligten auf seiten des Bauherrn und der Kollegen von der Planungsgruppe Gestering« in einem »sehr langen Entscheidungsfindungsprozeß«. Bemerkenswert ist seine Feststellung,

»man könne die Idee zu diesem Entwurf nicht einer einzelnen Person zuschrei-ben«.713 Diese grundsätzliche Haltung zur Frage der Entstehung der Architektur in einer Gemeinschaftsleistung brachte Otto schon 1958 zum Ausdruck, als er die Rolle des Architekten, bezogen auf den wandelbaren Leichtbau, mehr als die eines betreu-enden »Gärtners« oder eines beratbetreu-enden »Arztes« und weniger als die eines

»Schöpfers« charakterisierte.714 Bei seinen Projekten sah er sich in der von ihm be-vorzugten Position als Mitmacher in einem Team.715 In seinem Selbstportrait 1985 beschreibt er seine subjektive Empfindung so: »Selbst als ich später als Architekt gefeiert wurde, verließ mich nie das Gefühl, die mir zugeschriebenen Gebäude sind gar nicht von mir. Sie haben sich mit der Hilfe vieler Freunde von selbst ge-macht.«716 Im Interview mit Rudolf Schwarz erklärte der Bauherr Fritz Hahne: »Bei den Überlegungen des ›Wie?‹ und ›Wer?‹ favorisierten wir eine Architektur, die in ihrer Ernsthaftigkeit außer Zweifel steht, sich aber dennoch von gewohnten Indust-riebauten sehr deutlich unterscheidet.«717

In den ersten Jahren nach Inbetriebnahme mussten hinsichtlich der Lichtver-hältnisse und des sommerlichen Wärmeschutzes Nachrüstungen vorgenommen werden, die die Innenraumgestaltung tangieren. Die Lichtbänder der Pavillondä-cher erwiesen sich als ein Problem, das man mit den innen von den Kehlbalken

712 Die DWZ berichtete über die Einweihung mit rund 650 Gästen. Die Redakteurin Martina Köll-ner bezeichnete Frei Otto als den »geistigen Schöpfer der neuen Betriebsgebäude« (Martina Köllner: Helle Produktionspavillons statt trister Fabrikhallen, in: DWZ 141 (1988), Nr. 129 v. 4.6.1988, o. P.).

713 Rudolf Schwarz: Interview mit dem »Entwerfer« Frei Otto, in: Der Wilkhahn 5, März 1988, S. 11, verkürzt abgedr. in: glasforum 86 (1989), S. 28–29.

714 Otto 1958b, S. 1/10; vgl. Rauterberg 2003.

715 Frei Otto: Brief an Prof. J. P. Kleihues v. 30. Juli 1980, abgedr. in: Otto 1985a, S. 48.

716 Otto 1985b, S. 134.

717 Rudolf Schwarz: Interview mit dem Bauherrn Fritz Hahne, in: Der Wilkhahn 5, März 1988, S. 9.

abgehängten Seilspann-Segeln nicht gelöst hatte. Um Schlagschatten und Blendung zu vermeiden und der Überhitzung im Sommer noch stärker entgegenzuwirken, er-hielten die Glasflächen zwischen den Holzbindern eine transluzente Folierung (Abb. 126).718 Die zehn von der Dachkonstruktion abgehängten Pendelstrahler wur-den mit untergehängten Schirmen zur besseren Lichtverteilung ergänzt; im Pavillon der Näherei wurden kurz nach der Inbetriebnahme zur ausreichenden Arbeitsplatz-beleuchtung in mehreren Reihen Langfeldleuchten als Ergänzung der Strahler in-stalliert (Abb. 127).719

Den eigenen Anspruch der baulichen Anpassungsfähigkeit, die Otto für Indust-riegebäude als bedeutend ansah, konnte er bei seinem einzigen realisierten Fabrik-bau, den Fertigungspavillons in Bad Münder, nicht erfüllen. Der Gedanke stand für Wilkhahn nicht im Vordergrund. Allerdings stellte sich zehn Jahre nach der Inbe-triebnahme heraus, dass die Pavillons auch für andere anspruchsvolle Nutzungen geeignet sind. Für ein dezentrales Projekt zur Weltausstellung 2000 in Hannover wurde im vierten Pavillon eine temporäre Ausstellung zum Thema »Zukunft der Ar-beit« präsentiert (Abb. 128). Drei Jahre später wurde dort ein Gruppenbüroraum mit der Bezeichnung »Gläserne Manufaktur« für die Betriebsstelle Auftragsab-wicklung eingerichtet (Abb. 129).720 Eine Büronutzung war in der Phase der Ent-wurfsplanung im ersten Pavillon bereits vorgesehen gewesen.