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3 Die Bauten des Wilkhahn-Werkes

3.3 Fertigungspavillons und Lagerspange von Frei Otto 1985 bis 1988

3.3.9 Bewertung der ausgeführten Planung

Sabine Schanz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Leichte Flächen-tragwerke, beschrieb die Dächer der Pavillons für die 1992 vom Werkbund Bayern anlässlich der Preisverleihung an Frei Otto und Bodo Rasch ausgerichtete Ausstel-lung prägnant wie folgt:

»Der Erweiterungsbau der Fa. Wilkhahn in Bad Münder zeigt einen neuen Ansatz in der architektonischen Gestaltung industrieller Produktionsstätten. [...]. Die Hängedächer über den Pavillons bestehen aus je zwei Dreigelenkrahmen als Hauptträger, von denen tragende Dachlatten abgehängt sind. Die Dreigelenkrah-men sind in der Mitte so angeordnet, daß zwischen diesen Hauptträgern eine ebene Dachfläche entsteht, die mit Glas eingedeckt wurde. Der lichtdurchflutete Innenraum sorgt für eine angenehme Arbeitsatmosphäre. Aufgereiht an einem langgestreckten Flachdachbau bilden die Pavillons kleine überschaubare Einhei-ten, die bei Bedarf mit weiteren Bauten ergänzt werden können, ohne die architek-tonische Gesamtkonzeption zu beeinträchtigen.«740

Der Text begleitet ein Modellfoto und zwei Fotos der fertiggestellten Dächer. Ein Foto zeigt die vier Pavillons von einem entfernten südlichen Standpunkt, auf dem sie sich über der Wiese im Vordergrund schwebend zu erheben scheinen. Die Fas-saden sind auf den Fotos nicht zu sehen. In die Ausstellung des Werkbundes wurden neben den Pavillons von Wilkhahn zwei weitere realisierte Hängekonstruktionen von Otto aufgenommen. Das waren die Schwergewichtshängedächer über den Sälen des Konferenzzentrums in Mekka von 1975, das Frei Otto und Rolf Gutbrod gemein-sam entwarfen, und das Institutsgebäude in Stuttgart-Vaihingen.741

Auch wenn ein Beratungsauftrag rechtliche Arbeitsgrundlage für die Durchfüh-rung des Baus wurde und die Architektenleistungen der Planungsgruppe Gestering übertragen waren, lässt die Entstehungsgeschichte der Pavillons den Schluss zu, dass Frei Otto die Urheberschaft am Werk der Architektur der Pavillons und der Lagerspange im tatsächlichen und rechtlichen Sinne zuzuschreiben ist, auch wenn die Pavillonidee aus der Sphäre der Bauherrin kam. Sie ist in der von Otto signierten Skizze vom 8. Juni 1986 und den weiteren Zeichnungen und Modellen aus dem Ate-lier Frei Otto dokumentiert. Die Rede von den »Pavillons von Frei Otto« wird durch die Inhalte der Bauakten fundiert. Die Rolle der Planungsgruppe Gestering bezüg-lich der Entscheidungen über Gestalt und Struktur der Pavillons kann als eine von Otto kontrollierte Materialisierung seiner Ideen charakterisiert werden. Lager-spange, Zwischenbauten, Flucht- und Transporttunnel sowie Umbauten an und in der Halle 4 sind in den Leistungsphasen der Entwurfs- und Ausführungsplanung sowie der Bauüberwachung faktisch von der Planungsgruppe Gestering ohne nen-nenswerte Beteiligung von Otto bearbeitet worden. Auf einer anderen Betrach-tungsebene nachvollziehbar ist Ottos Aussage über die Gemeinschaftsleistung, wenn es um Details der Werkplanung für den konstruktiven Holzbau und andere Facetten des Gesamtbaus geht, von denen Otto nur einige, aber die für die visuelle Wahrnehmung maßgeblichen Teile bestimmt und kontrolliert hat.

Die für Wilkhahn ausgeführte Hängestabvariante ist in einigen Aspekten ver-gleichbar mit dem Seilnetzbau in Stuttgart-Vaihingen, der nach seinem Ausbau 1969 als Sitz des Instituts für Leichte Flächentragwerke genutzt wurde (Abb. 130).

Ursprünglich wurde er von Frei Otto und Rolf Gutbrod als Versuchsbau für den deutschen Pavillon bei der Weltausstellung in Montreal 1967 entworfen.743 Das an einem Stahlrohrmast hängende, abgespannte Stahlseilnetz erhielt beim Ausbau für das Institut eine Holzrippenauflage mit Brettverschalung, eine Wärmedämmung, eine weitere Holzschale und eine Dachabdeckung aus Faserzementschindeln.744 Im Inneren dominiert beim Blick auf die »Zelthaut« wie bei den Dächern in Bad Mün-der die Erscheinung Mün-der Holzschale, in Stuttgart zusätzlich die des Stahlseilnetzes mit ihren verschraubten Verbindungsstücken (Abb. 131). Auch in Bad Münder die-nen wie beim Bau des Instituts Teilflächen des Daches der Belichtung. Das ostseitige Seilauge in Stuttgart erhielt Acrylglas-Platten, auf den nach Norden und Süden ge-richteten ebenen Flächen der gespreizten Rahmen der Fertigungspavillons in Bad Münder wurden Aluminiumfenster mit Sicherheitsklarglas montiert, von denen ei-nige motorisch zu öffnen sind. Während man beim Institutsbau in Stuttgart

743 Kleinmanns 2020, S. 113.

744 Meissner/Möller 2005, S. 240.

aufgrund der Vorspannung von einem »schweren« Zeltsprechen kann, handelt es sich bei den vier Fertigungspavillons in Bad Münder jeweils um eine Konstruktion aus zwei beidseits an einem mittleren Rahmen hängenden antiklastisch gekrümm-ten biegesteifen Dachschalen in Membranform, die in ihrer äußeren Gesamterschei-nung Zeltdächern ähnlich sind.745 Ihre Hängerippen tragen jedoch anders als beim Zelt die Kräfte linear als durch Eigengewicht stabilisiertes Stabtragwerk ohne Vor-spannung ab.

Die Pavillons und ihre Zwischenbauten in Bad Münder haben Fassaden mit Fens-terbändern oberhalb von massiven Sockeln aus gelben Ziegelsteinen. Die Außen-wände verhindern das Erkennen der Tragwerke der Dächer von außen. Das gläserne Band über den Fenstern reicht, von Otto ausdrücklich gewollt, bis unter die Dachränder und lässt die Dächer über den Fassaden schwebend erschei-nen (Abb. 116).746 Die Pavillons mit ihren Fassaden können eher als der Zeltbau des Instituts in Stuttgart als Gebäude im herkömmlichen Sinn charakterisiert werden.

Das Zeltdach des Instituts wird an den Rändern von schräg gestellten, gespreizten Böcken aus Stahl und von über sie geführten Spannseilen und Betonwiderlagern abgefangen. Eine geneigte, umlaufende Glasfassade bildet den unteren Gebäudeab-schluss. Das Tragwerk des Daches ist außen und innen sichtbar. Es entspricht ide-altypisch einem »entwickelten Zeltbau«, einem wetterbeständigen und dauerhaften hängenden Dach.747

Die zweiseitig gekrümmten Hängedächer in Bad Münder werden ohne Vorspan-nung nur durch ihr Eigengewicht und das Aussteifen der Dachfläche mittels Holz-verschalung und Zugbändern stabilisiert. Die Krümmung der zugbeanspruchten Stäbe und damit die Gestalt des Daches hat Otto anhand von Modellen gefunden.748 Aus fertigungsökonomischen Gründen wurde auf unterschiedliche Radien der Hän-gerippen verzichtet, was genaugenommen eine geringfügige Manipulation der am Modell gefundenen Form bedeutet.749 Aufgrund ihrer Konstruktion, die ohne Ab-spannungen und Widerlager im Erdreich auskommt, bestand die Option, die Reihe der Pavillons mit einem fünften Pavillon zu verlängern. Bereits aufgenommene

745 Frei Otto hat die Konstruktionen mit tragenden Seilnetzen und von ihnen getragenen Membra-nen oder andersartigen Dachschichten den Zelten zugerechnet, obwohl Seilnetze nicht kontinuier-lich, sondern diskret gekrümmt sind.

746 Sepp Ruf hat in seinem Museumsbau in Tegernsee 1966 ein Vorbild für dieses Prinzip geliefert.

Das Flachdach des Baus ruht auf vier Stützen im Inneren des Ausstellungsraumes. Ein umlaufen-des, schmales, weitgehend rahmenloses Fensterband trennt das Flachdach von den geschlossenen Außenwänden. Dieses Prinzip ist auch an der Rosenthal-Glasfabrik in Amberg erkennbar.

747 Vgl. Otto 1990, S. 35.

748 Schanz 1995, S. 128.

749 Speich 1989, S. 27.

Planungen wurden auf Empfehlungen der Architekten Kiessler und Herzog ge-stoppt, um deren Masterplanungen nicht einzuschränken.

In der Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Frei Otto durch die Fakultät für Architektur der Technischen Universität München im Jahr 2005 hat Rainer Barthel eine Auswahl von Werken von Otto erwähnt, in denen die

»künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet des Leicht-baus« und das »Engagement für eine anpassungsfähige, naturnahe und ökologische Architektur« sichtbar werden.750 Ottos einzige Industriebauten, die Fertigungspa-villons von Wilkhahn, hat er nicht erwähnt. Barthel hat neben den weltberühmten Bauten in Montreal, München und Mannheim und einer Reihe von anderen Projek-ten das Institutszelt in Stuttgart-Vaihingen besonders hervorgehoben. Seiner Cha-rakterisierung als »großartiger Raum« mit der Wirkung von »Leichtigkeit, Einfach-heit und Sinnfälligkeit der Konstruktion« kann gefolgt werden.751 Sie kann in glei-cher Wertigkeit auch auf die Fertigungspavillons in Bad Münder übertragen werden (Abb.132).

Der für den Fabrikbau unübliche Grundriss der Pavillons hat in der Planungs-phase die Frage der nachhaltigen Funktionsgerechtigkeit des Konzeptes aufgewor-fen. Im Unternehmen gab es dazu die Meinung, dass eine flexibel einzurichtende Halle auf Dauer wirtschaftlicher sei. Festzustellen ist, dass die Lagerspange und die Pavillons nach gut 30 Jahren Betriebszeit weitgehend in der ursprünglich vorgese-henen Nutzung durch die Polsterei und Teile der Verwaltung sind. Die Bausubstanz, auch die der Witterung ausgesetzten Dächer und Fassaden, weist noch die Materia-lien des Originalzustandes auf. Beides zusammen ist für einen Industriebau unge-wöhnlich.

Das Beispiel der Fertigungspavillons widerlegt die Allgemeingültigkeit der These von Frei Otto, dass sich die Anforderungen an einen Bau »rasch, ja beinahe täglich verändern« und Gebäude daher veränderbar sein müssen und nicht »erstarrt« sein dürfen.752 An der Anpassungsfähigkeit eines Hauses hat Otto 1959 die Qualität eines

»echten organischen Bauens« messen wollen.753 Welche äußere Form es aufweist, ob eine rechteckige, sechseckige, runde oder amöbenhafte, sei zweitrangig. Die Be-tonung der Bedeutung dieses Aspektes ist in seinen Äußerungen auch in den 1990er-Jahren unverändert zu finden: »Unsere Zeit verlangt leichtere, energiesparendere, mobilere und anpassungsfähigere, kurz gesagt natürlichere Häuser, ohne die

750 Rainer Barthel: Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Frei Otto durch die Fakultät für Architektur der TUM am 25.Mai 2005, a. a. O.

751 Ebd.

752 Otto 1959, S. 6/4.

753 Ebd., S. 6/14.