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3 Die Bauten des Wilkhahn-Werkes

3.2 Erste Neubauten südlich und westlich der Fabrik

3.2.1 Bauten von Herbert Hirche 1957 bis 1959

Mit der Planung der ersten Bauten der Werkserweiterung südlich des Eimbeckhäu-ser Baches wurde der 45-jährige Diplom-Architekt Herbert Hirche beauftragt, der auch als Produktgestalter von Möbeln für Wilkhahn arbeiten sollte. Er hatte nach seiner Ausbildung zum Tischler ein Studium mit Abschluss am Bauhaus – Hoch-schule für Gestaltung – in Dessau und Berlin u. a. bei Mies van der Rohe und Lilly Reich absolviert.

I. Hirches Arbeit in den Büros Mies van der Rohe und Eiermann

Hirche war zwischen 1934 und 1938 im Atelier von Mies van der Rohe in Berlin tätig (Abb. 43). Er war u. a. an der Gestaltung der Ausstellung Deutsches Volk – Deutsche Arbeit in den Messehallen in Berlin im Juni 1934 beteiligt. Es war die erste Ausstel-lung, die von Anfang an unter dem Einfluss des NS-Regimes geplant wurde. Er-staunlich ist die Beteiligung ehemaliger »Bauhäusler«, die die Halle II gestalten konnten. Gropius, Mies van der Rohe und Lilly Reich gaben diesem Ausstellungsteil eine Ästhetik im Sinne des Bauhauses. In der von Lilly Reich unter Mitarbeit von Herbert Hirche geplanten Abteilung Glas, Keramik und Porzellan war eine Tisch-gruppe mit Weißenhof-Stühlen von Mies van der Rohe zu sehen.430

Kenntnisse auf dem Gebiet des Verwaltungs- und Fabrikbaus hat er im Atelier von Mies van der Rohe bei der Planung der Bauvorhaben für die Vereinigten Sei-denwebereien AG in Krefeld erworben. Mies van der Rohe hatte 1931 einen Fabrik-neubau für diese Firma realisiert, der als ein gestalterisches Vorbild für Hirches spä-teren Entwurf für ein Produktionsgebäude von Wilkhahn angesehen werden kann (Abb. 44 u. 51). Am zweigeschossigen Gebäude für die Fertigung und Lagerung von Herrenfutterstoffen (HE-Gebäude) hat Mies das Prinzip der Flächenbündigkeit der Elemente der Fassade exemplifiziert, die den kubischen Charakter des Baukörpers verstärkt. Vor- und Rücksprünge von Bauteilen sind auf ein konstruktiv bedingtes Mindestmaß reduziert. Das flach geneigte, von der Attika verdeckte Walmdach tritt aus der Perspektive der Passanten nicht in Erscheinung. Die vor der rd. 60 Meter langen Seitenfassade verlaufenden Regenfallrohre gliedern sie rhythmisch in unter-schiedlich breite Felder mit Betonung der Gebäudemitte. Die äußere Erscheinung des Gebäudes wurde ursprünglich durch einen hellen Edelputz geprägt, der gegen-über einem roten Ziegel bevorzugt wurde, um sich vom negativen Image des her-kömmlichen Fabrikbaus zu lösen (Abb. 44). In Hirches Zeit im Büro von Mies fiel

430Sabine Weißler: Bauhaus-Gestaltung in NS-Propaganda-Ausstellungen, in: Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus: zwischen Anbiederung und Verfolgung, hg. v. Winfried Nerdinger/Ute Brüning, München 1993, S. 48–63 (54–58). Tischgruppe und Stühle siehe dort S. 55, Abb. 9.

auch die Aufstockung dieses Gebäudes um zwei Etagen im Jahr 1935 (Abb. 45) und die Arbeit am Entwurf für die Hauptverwaltung der Firma auf einem nahe gelege-nen Grundstück im Jahr 1938, die vor dem Krieg nicht mehr realisiert werden konnte.431

Während des Krieges war Hirche als Architekt und Bauleiter im Büro von Egon Eiermann in Berlin angestellt. Er arbeitete nicht nur an Neubauprojekten, sondern mit der bei Lilly Reich erworbenen Erfahrung auch als Innenarchitekt beim Umbau des Verwaltungsgebäudes der Total KG Foerstner & Co. in Berlin und an der Gestal-tung eines Bühnenbildes für eine Inszenierung von Gustaf Gründgens am Berliner Schauspielhaus mit.432 Im Museum der Dinge in Berlin sind Fotos aus dem Nachlass von Hirche, die ihn im Baubüro von Eiermann auf der Baustelle der Propellerfabrik Gustav Schwarz GmbH in Eilenburg zeigen, und weitere Dokumente der Arbeit Hirches archiviert.433 Hirche war zwischen 1941 und 1945 Bauleiter für ergänzende Fabrikbauten der Firma.434 Sie war Zulieferin u. a. der Heinkel-Flugzeugwerke in Oranienburg und damit Produzentin kriegswichtiger Güter. Die Industriebauarchi-tekten, die an Projekten derartiger Firmen arbeiteten, waren für den Kriegseinsatz in der Regel unabkömmlich gestellt. Das galt auch für Hirche, den Eiermann im September 1939 mit dem Bonus dieser Sonderstellung anwarb.435 Die Arbeit als Bauleiter eines kriegswichtigen Industriebaus schützte ihn vor dem Kriegsdienst und ermöglichte Hirche eine ununterbrochene Berufspraxis als Architekt.436

In den ersten Nachkriegsjahren war Hirche als Bauleiter für Gustav Hassenpflug am Wiederaufbau der Charité in Berlin beteiligt und gestaltete Wohn- und Schul-möbel für die Nachfolgefirma der 1946 aufgelösten Deutschen Werkstätten Hellerau. Seine 1948 begonnene Lehrtätigkeit im Fach Architektur an der Hoch-schule für angewandte Kunst in Berlin-Weißensee hat er 1950 im Kontext des For-malismusstreits über die Frage der staatlichen Haltung zur Bauhausmoderne

431 Vgl. Wolf Tegethoff: Industriearchitektur und Neues Bauen. Mies van der Rohes Verseidag-Fab-rik in Krefeld, in: Archithese 13 (1983), Heft 3, S. 33–38; vgl. Norbert Hanenberg/Daniel

Lohmann: Mies van der Rohes Verseidag. Neue Erkenntnisse zu Baugeschichte und Erhalt, in: In-dustriekultur. Krefeld und der Niederrhein, hg. v. Walter Buschmann, Essen 2017, S. 166–177.

432 Sonja Hildebrand: Egon Eiermann: die Berliner Zeit: das architektonische Gesamtwerk bis 1945 (= Diss. Univ. Braunschweig 1997), Braunschweig 1999, S. 362.

433 Deutsche Digitale Bibliothek: Fotos von Herbert Hirche im Baubüro der Propellerfabrik Gustav Schwarz GmbH, Eilenburg, 1941. URL siehe Internetquellen.

434 Hildebrand 1999, S. 346 u. 362. Weitere Mitarbeiter Eiermanns an diesem Bauvorhaben waren Günther Andretzke (bis 1943), Rudolf Büchner u. Herbert Weinberger.

435 Ebd., S. 182. Sonja Hildebrand hat diese Information von Herbert Hirche (ebd., S. 301, Fn. 150).

436 Albrecht 2020, S. 70.

beendet.437 Mehrmals schlug Eiermann nach dem Krieg Hirche vor, in den Westen nachzukommen. Tatsächlich arbeitete Hirche 1951 noch einmal für eine kurze Zeit in Eiermanns Karlsruher Büro am Wettbewerbsentwurf für die Krefelder Textilin-genieurschule mit. Zu der Zeit wurde im Büro Eiermann auch das Bauvorhaben der Hauptverwaltung der Verseidag in Krefeld bearbeitet. Eiermann hatte Hirche auch für die Bauleitung des Funkhauses in Stuttgart angefragt, ein Projekt, das nicht zur Ausführung kam.438

II. Zusammenarbeit der Bauherren Wilkening u. Hahne mit Herbert Hirche Als Wilkening und Hahne 1956 Hirche mit Bauplanungen beauftragten, war er frei-beruflicher Architekt und Designer sowie seit 1952 Professor für Innenarchitektur und Möbelbau an der Staatlichen Akademie für Bildende Künste in Stuttgart.439 Nicht nur Wilkhahn hat die auf die Produktgestaltung gerichtete Zusammenarbeit mit Hirche auf die Gebäudeplanung ausgedehnt. Etliche seiner wenigen Bauten als Freiberufler waren Auftragsarbeiten für Unternehmer, für die er vorher erfolgreich Produkte gestaltet hat: eine Wohnanlage für Artur und Erwin Braun in Königstein (1960), das Wohnhaus für Christian Holzäpfel in Ebhausen (1961) und die Möbel-fabrik der Christian Holzäpfel KG in Horb (1969). Bei Wilkhahn stand der Bau einer Halle für die Sägerei und eines Bürohauses an. Nur wenig später folgte der Bau eines Kesselhauses mit Spänesilo. Hirche stellte zunächst Überlegungen an, wie das neue Gelände mittelfristig entwickelt werden könnte. Die Überlegungen Hirches sind nicht in der Qualität einer Masterplanung ausgearbeitet worden, sondern in weni-gen Plänen festgehalten (Abb. 46). Sie waren gleichwohl der Einstieg in das Konzept der Masterplanung für das Werk, das später weiterverfolgt wurde. Fritz Hahne be-kannte in seinen Erinnerungen, dass es damals »für unser Unternehmen […] und für mich im Besonderen ein gewaltiger Schritt war, künftig nicht mehr einfach drauflos zu bauen, sondern einen profilierten Architekten für den anstehenden Bau […] hinzuzuziehen.«440

437 Mit Formalismusstreit wird eine Phase der Kulturdebatte Anfang der 1950er-Jahre in der DDR bezeichnet, die eine klare Abgrenzung von westlichen Gestaltvorstellungen zum Ziel hatte.

438 Albrecht 2020, S. 70, Fn. 242. Die Verseidag beauftragte 1950 Egon Eiermann mit der Planung ihrer Hauptverwaltung an einem anderen Standort, nachdem Mies van der Rohe die Ausführung seines Entwurfs von 1938 ausgeschlossen hatte. An dem Entwurf von Mies war Hirche beteiligt.

439 Vgl. Hirche/Godel 1978, o. P. Hirche war bis 1975 Professor in Stuttgart.

440 Hahne 1990a, S. 71f.

III. Sägereigebäude und Rundholzlager

Im Jahr 1957 wurde auf dem Erweiterungsgelände südlich des Eimbeckhäuser Ba-ches das erste Gebäude errichtet, ein eingeschossiger Hallenbau für die Sägerei nach dem Entwurf von Hirche (Abb. 47).441 Das Tragwerk der 300 Quadratmeter großen Halle, in der aus Rundhölzern und Bohlen Kanteln geschnitten werden sollten, be-steht aus sechs Zwei-Gelenkrahmen-Bindern aus Stahlprofilen im Abstand von 5 Metern mit Spannweiten von 12 Metern. Die Rahmen bilden ein Satteldach mit Neigungen von 8 Grad aus. Die längsseitigen Fassadenfelder zwischen den Stützen sind zweigeteilt. Über einer knapp 2 Meter hohen Brüstung aus gelbbraunem Klin-ker ist eine ebenso hohe, in acht Felder aufgeteilte Verglasung angeordnet. Mit dem gelbbraunen Klinker stellte Hirche einen Kontrast zu den roten Ziegeln der alten Fabrikbauten her und etablierte eine gestalterische Klammer des von der Erschlie-ßungsstraße aus sichtbaren, später entstandenen Gebäudeensembles. Die bis zur Traufhöhe verklinkerten Giebel weisen insgesamt drei Stahltore auf. In den Bauan-tragsplänen fehlten die Stahlprofile zur Gebäudeaussteifung in Längsrichtung. Auf Veranlassung des Statikbüros Wagner und Strauß wurden in den jeweiligen Endfel-dern der Binder schräge Zugstangen in die Außenwände integriert, die in der Luft-schicht der gemauerten Brüstungen zu den unteren Verankerungspunkten geführt sind und in den Ansichten hinter der Verglasung erscheinen.442

Der Standort des 1958 in Betrieb genommenen Gebäudes der Sägerei war Be-standteil einer Planung für das gesamte Gelände südlich des Baches. Sie lässt sich anhand eines Lageplanes aus Hirches Büro nachvollziehen (Abb. 46). Es waren we-der gesonwe-derte Erläuterungstexte noch Papiere in den Wilkhahn-Bauakten aufzu-finden, die eine Erörterung mit dem Bauherrn Wilkening dokumentieren. Ein An-sichtsplan zeigt die Sägerei von Osten als ersten Bauabschnitt eines Komplexes aus drei aneinander gestellten Gebäuden. Als zweiter Bauabschnitt war ein südlicher Anbau in den gleichen Abmessungen geplant. Daran sollte sich direkt eine rund 10 Meter hohe, an drei Seiten offene Halle anschließen, in der Rundhölzer mit ei-nem fahrbaren Portalkran bewegt und der Gattersäge zugeführt werden sollten. Ge-trennt durch eine Werksstraße, die über eine Brücke beide durch den Bach getrenn-ten Werkbereiche verbinden sollte, war Richtung Osgetrenn-ten eine weitere offene Halle in gleicher Höhe und Bauweise für die Lagerung der Rundhölzer geplant. An der

441 Bauantrag und Bauschein Nr. 306/1957 v. 16.7.1957, in: Bauakten Bad Münder, Fritz-Hahne-Straße 8, a. a. O. (a) Im Bauantrag wurde als Architekt angegeben: Professor Herbert Hirche, Dipl.-Arch., Stuttgart-N., Am Weissenhof 1 (die Adresse bezeichnet ein Gebäude von Mies van der Rohe). (b) Als Bauunternehmer und als Bauleiter ist Heinz Meyer im Baugeschäft F.H. Meyer &

Sohn, Eimbeckhausen angegeben.

442 Das Ingenieurbüro Wagner & Strauß, Stuttgart, hat auch das Bürogebäude bearbeitet.

östlichen Grundstücksgrenze war das zweigeschossige Produktionsgebäude ange-ordnet, dessen erster Bauabschnitt provisorisch als Verwaltungsgebäude genutzt werden sollte.

IV. Bürogebäude

Hirche hatte, wie aus dem Lageplan vom April 1957 hervorgeht, vorgeschlagen, den östlichen Teil des neuen Geländes mit einem U-förmigen, ein- bis zweigeschossigen Produktionsgebäude in Skelettbauweise mit Stützweiten von 5,5 Metern zu be-bauen. Ein Rechteck von 55 Meter Länge und 33 Meter Breite wäre mit diesem Ge-bäude besetzt worden. Für den Neubau für die Verwaltung schlug Hirche einen Standort am westlichen Rand des Geländes nahe am Bach vor. Das Bürogebäude wäre an dieser Stelle fernab sowohl von der Erschließungsstraße im Süden als auch von der Bahnhofstraße443 im Norden für Besucher schwer zu finden gewesen, zumal die geplanten 10 Meter hohen Hallen für das Rundholzlager den Blick von Süden verstellt hätten. Wilkening und Hahne haben umgehend über die Vorschläge von Hirche entschieden. Am 10. Mai wurde der Bauantrag für den ersten Abschnitt der Sägerei eingereicht und schon am 30. September desselben Jahres der Bauantrag für den Neubau des Bürogebäudes, für das jedoch nicht der Standort am Bach, son-dern ein Standort in prominenterer Lage an der südlichen Erschließungsstraße ge-wählt wurde.444 Man war sich über die weitere Entwicklung wahrscheinlich noch nicht sicher und hat die beantragte Nutzung des Gebäudes in der Baubeschreibung als Provisorium bezeichnet. Dort heißt es:

»Das zweigeschossige Gebäude nimmt vorerst im Erd- und Obergeschoss Büro- und Ausstellungsräume auf. Später soll in der Nordwestecke des Grundstückes ein gesondertes Bürogebäude gebaut werden. Der jetzige Bau würde dann als Produk-tionsstätte verwendet werden. Eine spätere L-förmige Erweiterung der Produkti-onsräume in nördlicher Richtung ist vorgesehen.«445

443 Der Straßenname wurde in den 1970er-Jahren in »Hauptstraße« geändert.

444 Bauantrag und Baugenehmigung Nr. 850/1957 v. 24.1.1958, in: Bauakten Bad Münder, Fritz-Hahne-Straße 8, a. a. O.

445 Ebd., Baubeschreibung des Architekten Hirche zum Bauantrag v. 30.9.1957. Der Bauantrag wurde für die Bauherrin Wilkhahn von Adolf Wilkening unterschrieben. Auch der Bauingenieur und Unternehmer Heinz Meyer hat den Bauantrag für die Firma Meyer & Sohn unterschrieben, die den Bau erstellt hat. Als Bauleiter vor Ort hat Hirches Angestellter Claus-Peter Klink gewirkt. Die Ausführungszeichnungen wurden in Stuttgart gefertigt. Im Büro von Hirche wurden auch die fest eingebauten Teile der Inneneinrichtung geplant.

Für die spätere Änderung der Nutzung wurden statische Vorkehrungen für die Auf-stellung von Maschinen im Obergeschoss getroffen. Die Stahlbetonrippendecke wurde für 1.000 Kilogramm pro Quadratmeter Flächenlast ausgelegt.

Die Pläne des Bauantrages sehen im Inneren und in den Außenwänden Stahlbe-tonstützen und -unterzüge in Sichtbeton vor. Die Fassaden werden durch Unterzüge und Stützen in Gefache gegliedert (Abb. 48 u. 49). Die Gefache der Schmalseiten des Bürogebäudes sind mit gelben Klinkern weitgehend geschlossen, die Felder vor den Büroräumen weisen Fensterbänder zwischen den Stützen und verklinkerte Brüs-tungen auf. Die Felder der Westfassade mit dem Eingang sollten sich ursprünglich im Erdgeschoss und im Obergeschoss gleichen. Eine im März 1958 vorgenommene Planänderung, die sich aus einer alternativen Anordnung des Büros von Fritz Hahne ergab, führte zu einer Auflösung der klaren Ordnung der gestalterischen Elemente Fenster, Eingangstür und Klinkerflächen der Eingangsseite (Abb. 49 u. 51).446

Die von Hirche gewollte Ordnung und Reduzierung von sichtbaren Elementen in der Fassade im Sinne seines Lehrers Mies van der Rohe kommt in einem Detail be-spielhaft zum Ausdruck: die Vermeidung der Sichtbarkeit von Regenrinnen und Fallrohren. Anstelle einer Attika gibt es an diesem Gebäude als oberen Abschluss den gleichen Betonunterzug wie über dem Erdgeschoss. Abweichend ist nur das schmale Aluminiumprofil der Tropfkante des Daches (Abb. 50). Die Abführung des Regenwassers von den walmdachförmig flachgeneigten Teilflächen erfolgt über eine von der Außenkante des Gebäudes zurückgesetzte Rinne und vier innen an die Be-tonstützen angelehnte Fallrohre. Die Schalpläne für die Betonbauteile belegen, dass Hirche keinen Wert auf Gleichheit der Elemente gelegt hat, die für eine industrielle Herstellung von Vorteil gewesen wäre. Der Planung wurde die Ortbetonbauweise zugrunde gelegt.447 Allein für die Stützen der Fassade wurden sechs verschiedene Profile gewählt, deren Abweichungen allerdings am fertigen Gebäude visuell nicht wahrnehmbar sind. Die Schalung des oberen Randbalkens mit der Regenwasser-rinne und der Anbindung der Fallrohre erforderte hohen Arbeitsaufwand auf der Baustelle. Projektleiter vor Ort war Klaus-Peter Klink, ein ehemaliger Student von Hirche und später Partner im Hircheteam.448

446 Der Schlussabnahmeschein mit Genehmigung von Nachtragszeichnungen im Maßstab 1:50 wurde am 3.3.1959 ausgestellt.

447 Herbert Hirche: Schalplan Dachdecke des Bürogebäudes mit Details v. 4.12.1957, in: Wilkhahn-Bauakte 18a, a. a. O.

448 Vgl. Hahne 1990a, S. 72; vgl. Hirche/Godel 1978, o. P. Im Vorwort erwähnt Hirche Claus-Peter Klink in »Achtung, Freundschaft und Dankbarkeit« und spricht ihm »großen Anteil« an vielen ge-meinsamen Ergebnissen zu. Klink (*1927) war 1948 Hirches erster Student an der Hochschule für angewandte Kunst Berlin-Weißensee, ab 1970 Hirches Partner im Hircheteam und zwischen 1967 und 1992 Professor für Möbelbau und Innenarchitektur an der Staatlichen Akademie der Bilden-den Künste in Stuttgart.

In seiner Dimension ist der Bau in Eimbeckhausen bescheidener, gestalterisch jedoch vergleichbar mit dem von Mies van der Rohe 1938 konzipierten, nicht reali-sierten Hauptverwaltungsgebäude der Firma Verseidag in Krefeld.449 Er erinnert in Dimension und Gestalt an das 1931 errichtete, zweigeschossige Fertigungs- und La-gergebäude für Herrenfutterstoffe der Firma (Abb. 44). Der erste Entwurf von Hirche für Wilkhahn sah einen annähernd quadratischen Treppenraum mit drei Läufen nach dem Vorbild von Mies’ Entwurf für Krefeld vor. Er hätte die promi-nente Südwestecke des Hauses eingenommen, von deren oberer Ebene aus das ge-samte Erweiterungsgelände zu überblicken ist. Ausgeführt wurde an dieser Stelle das Büro von Fritz Hahne, das zuvor im Erdgeschoss vorgesehen war. Eingang und Treppenraum mussten diesem Wunsch angepasst werden, was sich später für den nördlichen Anbau der Ausstellungshalle als Vorteil erwies (Abb. 51 u. 53).

V. Zeitliche Parallele: Bürogebäude der Rosenthal-Porzellan AG

Als eine zeitliche und gestalterische Parallele zum Bürogebäude von Wilkhahn wird ein in Nutzung und Größe ähnliches Gebäude der Firma Rosenthal-Porzellan AG in Selb vorgestellt. Es wurde für die ausgegründete Entwicklungsgesellschaft, die Rosenthal Studio AG, errichtet, um den festangestellten Designern und den Gast-künstlern verbesserte Arbeitsbedingungen bereitzustellen. Das Gebäude beher-bergte neben den Ateliers und Werkstätten auch die Büroräume der Geschäftslei-tung der Gesellschaft und Ausstellungsräume. Insgesamt war es für bis zu fünfzig Arbeitsplätze ausgelegt. Drei Arbeitsgruppen und die Verwaltung sind im Oberge-schoss untergebracht, die Arbeitsgruppe Formentwicklung mit ihrer Maschinen- und Geräteausstattung und zwei Ausstellungsräume im Erdgeschoss. Geplant wurde das Gebäude 1957 von der Architektin Renate von Brause, die zu dieser Zeit Assistentin am Lehrstuhl von Professor Johannes Schwippert an der TH Aachen war. Als Standort wurde ein von der Fabrik etwas abgesetztes Baugelände nahe dem Park der Rosenthal-Villa gewählt. Bei der Konzeption musste die Architektin Rück-sicht auf einen zum Bahnhof führenden Fußweg nehmen.450

Die Architektur ist mit der des Wilkhahn-Gebäudes vergleichbar. Beide sind zweigeschossige Betonskelettbauten mit Flachdach. Die Stützen und Unterzüge gliedern die Fassaden. Während Hirches Gestaltungselemente Stützen, Unterzüge

449 Ein Foto aus dem Nachlass von Herbert Hirche zeigt ihn bei der Arbeit am Modell der Haupt-verwaltung im Atelier von Mies van der Rohe in Berlin (Inventarnummer D 4000-0069 der Doku-mentensammlung, in: Werkbund-Archiv im Museum der Dinge, Berlin).

450Renate von Brause: Dokumentation einer Auswahl selbständiger Arbeiten (= Habilitationsleis-tung TH Aachen), Aachen 1966, S. 1–4 des Abschnittes I.1. Das Gebäude der Rosenthal Studio AG hat 823 qm Nutzfläche, das Wilkhahn Bürogebäude 709 qm.

und Brüstungsmauerwerk außen in einer Ebene zusammengefügt sind, wirken die Fassaden der Architektin von Brause in der Schrägansicht plastisch. Hier sind die Unterzüge über dem Erdgeschoss und die Ausfachungen der Fassaden geringfügig aus der Ebene der Stützen zurückversetzt. Die Vertikale der Stützen wird durch die-ses Detail betont, was den Fassaden des zweigeschossigen Gebäudes eine ausgewo-gene Proportionierung verleiht (Abb. 52).

VI. Hirches Bau als Beispiel für den Bauhausstil

In der Wilkhahn Firmenkommunikation wird Hirches Verwaltungsgebäude als Werk im Bauhausstil charakterisiert. Diese Charakterisierung deckt sich zwar mit der des Bauhausabsolventen, Mitbegründers und ersten Rektors der Hochschule für Gestaltung in Ulm Max Bill, nach der Hirche »seinem herkommen, seiner entwick-lung und seinen auswirkungen nach ein typischer bauhäusler« war.451 Allerdings hat Bill den Stilbegriff hier nicht verwandt und stattdessen von »vernunftgemäßer schönheit« gesprochen.452 Lubitz hat in einem Artikel im zeitlichen Zusammenhang mit dem 100-jährigen Bauhausjubiläum festgestellt, dass der Begriff Bauhausstil weder eine zeitgenössische Bezeichnung aus den 1920er-Jahren ist noch in der Ar-chitekturgeschichtsschreibung als analytischer Begriff eingeführt ist.453 Gropius hat 1920 den Begriff Neues Bauen verwendet, wie auch Behne 1927 für seinen Buchtitel Neues Wohnen – Neues Bauen.454 Das Neue war allgemeiner politischer Ausdruck für die deutsche Republik nach Ende des Kaiserreiches. Der Architekt Erwin Gutkind hat 1919 in seinem Buch Neues Bauen das Programm für die 1920er-Jahre wie folgt formuliert: »Unsere wirtschaftliche Lage zwingt zu größter Einfachheit al-ler Bauten. [...] Durch diesen Zwang wird die Baukunst entkleidet werden von alal-ler Unwahrhaftigkeit und äußerlichen Anmaßung.«455

Den Stilbegriff für das Neue Bauen lehnte Gropius ab. Der Begriff Stil war sus-pekt, da er mit der Ornamentik der vergangenen Jahrhunderte verbunden war. »Die Jugendstil-Bewegung ersetzte verbrauchte, entleerte Formen durch neue Formen

451 Max Bill, zit. n. Hirche/Godel 1978, o. P.

452 Ebd.

453 Jan Lubitz: »Bauhaus«-Stil? Über die Terminologie der modernen Architektur, in: Denkmal-pflege. Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 39 (2019), Heft 1, S. 13–17. Nach Ursula Hansen können Stile innerhalb der vom Menschen geschaffenen Objektwelt als reale Typen der Ge-staltung verstanden werden, soweit ein Spielraum in der GeGe-staltung besteht (Hansen 1969,

S. 22f.).)

454 Gropius verwendete den Begriff 1920 als Titel eines Artikels (Walter Gropius: Neues Bauen, in: Der Holzbau. Mitteilungen des Deutschen Holzbau-Vereins 1 (1920), Nr. 2, S. 5, hg. von: Deut-sche Bauzeitung.

455 Erwin Gutkind, zit. n. Lubitz 2019, S. 14.

der künstlerischen Fantasie, aber hierbei blieb sie noch in der das ganze 19. Jahr-hundert kennzeichnenden Vorstellung befangen, daß Ornament und Dekor primäre Komponenten der Stil-Prägung darstellten.«456 Der Stil wird durch nachträgliche Zuschreibungen und Interpretationen postuliert und nach längerer Zeit kanonisiert.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Begriff Bauhausstil bei einer Gruppe von Rezipienten durchaus positiv konnotiert. Frei Otto meinte 1963, dass das moderne Bauen für den Betrachter oder Bewohner längst ein Stil wie andere vergangener Zeiten geworden sei, weil der Traditionalismus der modernen Archi-tektur begonnen hätte.457

VII. Heizhaus mit Spänesilo

Als drittes Gebäude plante Herbert Hirche ein Heizhaus mit Brennholz- und Späne-silo, das für die ersten Bauten auf dem Südgelände benötigt wurde und später die Anlagen in der alten Fabrik ersetzen sollte.458 Der Entwurf zeigt ein durch seine Höhe und Lage markantes Gebäude, das den Parkplatz vor dem Bürogebäude räum-lich begrenzt. Oberhalb der fast vollständig geschlossenen, 10 Meter hohen Fassa-den aus gelbbraunen Klinkern sollten Gebläseanlagen und Rauchgaskamin sichtbar bleiben (Abb. 54). Das Heizhaus erhielt 1966 einen von Leowald geplanten Anbau zur Installation einer Dampfkesselanlage als vorbereitende Maßnahme für den ein Jahr später begonnenen Werksneubau auf dem westlichen Teil des neuen Geländes südlich des Baches (Abb. 55). Leowald wollte die technischen Anlagen auf dem Dach von Hirches Heizhaus mit Sichtmauerwerk verbergen und Platz für den Namenszug der Firma schaffen. Auf diese Ergänzung verzichteten die Bauherren.

Die Zusammenarbeit von Herbert Hirche mit Wilkening und Hahne blieb auf den kurzen Zeitraum zwischen 1956 und 1960 begrenzt. Das gilt für seine Tätigkeit als Möbelgestalter wie auch als Architekt.459 Der zweite Abschnitt des Gebäudes der Sä-gerei wurde 1965 ohne Mitwirkung von Hirche realisiert. Auf die von ihm geplante Halle als Wetterschutz für das Rundholzlager hat Wilkhahn verzichtet. Stattdessen

456 Wend Fischer: Bau Raum Gerät, Bd. 1, Hamburg 1957 (= Die Kunst des 20. Jahrhunderts), S. 74.

457 Frei Otto: »Moderne Architektur«. Versuch einer Standortbestimmung, in: Allgemeine Bauzei-tung 33 (1963) Nr. 28, nachgedr. in: Frei Otto: Frei Otto. Schriften und Reden 1951–1983, hg. v. Berthold Burkhardt, Braunschweig 1984 (= Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie), S. 59–64 (59f).

458 Bauantrag und Bauschein Nr. 467/1959 v. 2.9.1959, in: Bauakten Bad Münder, Fritz-Hahne Straße 8, a. a. O. Der Schlussabnahmeschein wurde am 1.11.1960 ausgestellt.

459 Die möglichen Gründe für die Beendigung der Arbeit für Wilkhahn von Seiten Hirches sind im Kapitel 2 dieser Arbeit angeführt.

wurde 1959 ein Dach für den Lagerplatz der Kanteln westlich der Sägerei mit dem Architekten Leowald gebaut.