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3 Die Bauten des Wilkhahn-Werkes

3.3 Fertigungspavillons und Lagerspange von Frei Otto 1985 bis 1988

3.3.4 Frei Ottos Ideal des natürlichen Bauens

hingewiesen habe. Ihn habe das Entstehen von Formen hängender Konstruktionen fasziniert, die mit einem Minimum an Material von »großer Klarheit und bestechen-der Schönheit« geprägt sind.546 Drew bestätigt die hohe Anmut vieler seiner Bau-werke, die deren Komplexität verberge und zu beweisen scheine, dass Spannung schön ist.547 Eine Zuordnung seines Werkes zur Nachkriegsmoderne in der Nach-folge der Protagonisten des Neuen Bauens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbietet sich, sieht man von Ausnahmen wie seinen Wohnungsbauprojekten in den 1950er-Jahren ab.548 Otto ist ein Vorreiter des Leichtbaus und des ökologischen Bauens. Die Bezeichnung seiner Bauten als biomorph und ihre Vereinnahmung als Beispiele der Bionik sind irreführend. Er selbst hat diese Begriffe nicht in Anspruch genommen und sich vom Prinzip der Übernahme von biologischen Strukturen in der Technik distanziert. Otto erklärte in einem Interview mit Rudolf Finsterwalder:

»Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass sich zwar bei manchen meiner Leichtbauten formale Analogien zu Objekten der lebenden Natur aufdrängen, dass sie aber ohne Vorbild entwickelt und Ähnlichkeiten in der Natur erst nachträglich festgestellt wurden.«549

1976 mit seiner Werkanalyse in engem Kontakt mit Frei Otto und dem Institut für Leichte Flächentragwerke in Stuttgart eine umfassende Darstellung mit kontextuel-len Bezügen vorgelegt.551 Zu Karin Wilhelms 1985 erschienenem Buch Portrait Frei Otto hat Otto ein ausführliches Selbstportrait beigetragen.552 Auch die danach ent-standene Literatur gibt Auskunft über Ottos Haltung zum Bauen in der Zeit seiner Planungstätigkeit für Wilkhahn. Angesichts des Umfanges des Schrifttums können hier nur einige ausgewählte Aspekte seines Wirkens und seiner Ansichten angespro-chen werden.553

Er war nach eigener Darstellung ein Suchender und Lernender, der seit Mitte der 1960er-Jahre um sein eigenes Naturverständnis, »das wahre, das glaubende, das wünschende«, gerungen hat.554 Sein Verständnis war dementsprechend dauernd in einer Entwicklung begriffen und über die Jahre nicht vollkommen konsistent. Die geistige Auseinandersetzung mit der Natur wurde zur Basis seiner Arbeit. Er hat Natur als subjektiv und in nur winzigen Ausschnitten erlebbar angesehen, wenn auch unter Übernahme von Gedanken, von Wissen und Erfahrungen anderer Men-schen. Sein Naturbegriff in den 1980er-Jahren ist nicht auf die organische Welt be-schränkt, sondern schließt die unbelebte Welt der nicht technischen und techni-schen Objekte ein. In den von Otto geleiteten Forschungsteams waren die Naturver-ständnisse »derart unterschiedlich, daß nicht einmal der Versuch lohnte, Annähe-rungen zu schaffen.«555 Im Institut für Leichte Flächentragwerke galt nach der Auf-fassung von Siegfried Gaß die Unterscheidung zwischen Natur als der Summe aller ohne menschliches Mitwirken entstandenen unbelebten und lebenden Objekte und der Technik als Summe der Erzeugnisse menschlicher Tätigkeit.556 Frei Otto hatte ein von Gaß abweichendes Verständnis des Naturbegriffs eingenommen. In einem Vortrag beim Eröffnungsseminar des Sonderforschungsbereiches »Natürliche Kon-struktionen« 1984 erklärte er:

Technik und Prozesse ihrer Entstehung, Stuttgart 1982 (= Architektur, Forschung und Entwick-lung), S. 129–131; vgl. Otto 2005, S. 380–382).

551 Drew/Weitbrecht 1976. Conrad Roland hat 1965 den ersten umfassenden Werkstattbericht ver-öffentlicht (Roland 1965).

552 Wilhelm/Otto 1985.

553 Vgl. Irene Meissner: »Otto, Frei«, in: Allgemeines Künstlerlexikon Band 94, hg. v. Günter Meißner/et al., Berlin 2017, S. 27–29.

554 Frei Otto: Architektur Natur, Warmbronn 1996 (= Warmbronner Schriften 7), S. 23; vgl. Frei Otto: Selbstbildende Formen: Frei Otto im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert, Angelika Schnell u.

Gunnar Tausch, in: Arch+ 27 (1994), Nr. 121, S. 30–37 (36); vgl. Drew/Weitbrecht 1976, S. 12.

555 Otto 1996, S. 22.

556 Siegfried Gaß: Experimente – physikalische Analogmodelle im architektonischen Entwerfen, Stuttgart 1990 (= Mitteilungen des IL, Nr. 25, Reihe: Form, Kraft, Masse), S. 2.2. Otto hatte 1979 noch die vom Menschen geprägte Welt mit ihren Objekten der Technik von der Natur kategorisch unterschieden.

»In meiner eigenen Sicht umschreibt das Wort ›Natur‹ alle Phänomene der unbe-lebten und der beunbe-lebten Welt und schließt auch alles Menschgemachte ein, obwohl ich Schwierigkeiten habe, alles Menschengemachte als Natur zu empfinden. [...]

Für mich gibt es keine ›Nicht-Natur‹. Auch das sogenannte Unnatürliche, das Wi-dernatürliche und das Künstliche sind Teilbereiche der Natur, etwa so wie Schat-ten eine Form des Lichtes ist und der Tod zum Lebewesen gehört.«557

Ihn interessierten die typischen Objekte der natürlichen Konstruktionen, an denen die physikalischen, biologischen und technischen Prozesse ihrer Erzeugung sichtbar werden.558

Frei Otto hat neben seinem in Zeichnungen und Modellen dargestellten und in Bauten manifestierten Werk zahlreiche Essays und Reden sowie dokumentierte Äu-ßerungen in Interviews hinterlassen. Seine grundlegenden Erkenntnisse hat er mit allen Interessierten geteilt, seine Einstellung zu unterschiedlichen Aspekten des Bauens und des Städtebaus publik gemacht, seine Arbeitsweise dargestellt und seine Lebensgeschichte offengelegt. Auch über die seine Kind- und Jugendzeit be-gleitende NS-Diktatur, die Erfahrungen des Einsatzes im Krieg und seine ersten praktischen Tätigkeiten als »Chef der Baugruppe« des Lagers während der Gefan-genschaft in Frankreich hat er sich geäußert.559 Für seine Architekturhaltung sei seine rückblickende Wahrnehmung der in den 1930er-Jahren geplanten und gebau-ten Repräsentationsarchitektur mit ihrer Symbolik und Einbindung in die NS-Propaganda grundlegend, meint Winfried Nerdinger. Er weist in seiner 2005 ver-fassten Würdigung des Gesamtwerkes von Otto auf diesen Hintergrund hin. Die Ar-chitektur des NS-Regimes war darauf angelegt, mit Monumentalität und Massivität den Eindruck von ewiger Dauer zu vermitteln und als Machtzeichen den Staat zu repräsentieren.560 Statt für Monumentalität interessierte sich Otto für den Leicht-bau, statt für das Dauerhafte für das Veränderliche und Vergängliche. Leichte Kon-struktionen als Zeichen der Überwindung des Nationalsozialismus setzte er der

557 Frei Otto im Jahr 1984, zit. n. Otto 1996, S. 14f.; vgl. Sabine Schanz: Frei Otto, Bodo Rasch: Ge-stalt finden. Auf dem Weg zu einer Baukunst des Minimalen, hg. v. Frei Otto/et al., Stuttgart 1995, S. 15.

558 Otto 1982, S. 7.

559 Vgl. Frei Otto: Subjektives und Kritisches zu dem, was andere als mein Werk bezeichnen, in: Wilhelm/Otto 1985, S. 131–170. Otto wurde 1943 zur Wehrmacht eingezogen und war bis 1947 in französischer Kriegsgefangenschaft, während der er mit dem Status eines Architekturstudenten zur Planung von Behelfsbauten eingesetzt wurde (vgl. Hanno Rauterberg: Gespräch mit Frei Otto:

Der Herr des Augenblicks – Seine Liebe gilt dem Leichten und Beweglichen, in: Die Zeit 58 (2003), Nr. 2 v. 2.1.2003, S. 30; vgl. Cornelia Escher/Kim Förster, Interview mit Frei Otto: Ich war Dr. Zelt.

Frei Otto über Anpassungsfähigkeit, Ökologie und Ökonomie im Bauen, in: Arch+ 46 (2013), Heft 211-212, S. 72–80.

560 Winfried Nerdinger: Frei Otto. Arbeit für eine bessere »Menschenerde«, in: Otto 2005, S. 9–15 (12).

Fortsetzung des monumentalen Bauens und dem Aufkommen eines »Traditionalis-mus der modernen Architektur« in der Nachkriegszeit entgegen.561 Der anhaltende Einsatz seiner Arbeitskraft für den Leichtbau dürfte allerdings weniger eine Reak-tion auf die NS-Architektur sein als vielmehr aus seiner tiefen Überzeugung ent-stammen, der Menschheit dienen zu sollen, indem beim Bauen sparsam mit den Lebensgrundlagen umgegangen wird: »Die Suche nach Konstruktionen mit einem minimalen Aufwand an Material und Zeit entspringt dem Streben, äußerst sparsam mit den zur Verfügung stehenden Energien umzugehen.«562 Ottos selbst gewählte Mission ließ ihn zu einem Pionier des ökologischen Bauens werden. Mit seinen leichten und flexiblen Bauten erhoffte er sich auch »eine neue, offene Gesell-schaft«.563

Der zeichenhaften Architektur stand er skeptisch gegenüber, ohne sie generell abzulehnen. Den Bau der Berliner Philharmonie mit seiner architektonischen und philosophisch-formalen Aussage hat er gelobt. »Wenn Scharoun versucht hätte, ein echtes Zelt aufzuspannen, wäre ihm vermutlich dieser einmalige Bau nicht gelun-gen. Er war nie Zeltbauer.«564 Die von ihm projektierten Hüllen und Dächer für ver-schiedene Nutzungen kommen ohne die herkömmliche Architektur der Fassaden als Träger von Zeichen aus. 1963 schrieb er einen Artikel, in dem er das architektur-betonte Bauen der dritten Generation der Protagonisten der »modernen Architek-tur« kritisierte und bezweifelte, dass übergeordnete, immaterielle und geistige Be-griffe in der Architektur verkörpert werden können. 565

I. Leicht bauen

Schon als Architekturstudent im Alter von 25 Jahren schlug Frei Otto mit der Zu-wendung zum Leichtbau eine Richtung ein, die ihn später als einen »Grenzgänger zwischen Architektur und Ingenieurbau« auszeichnete.566 Während seines

561 Vgl. Otto 1963, S. 60.

562 Frei Otto/Rudolf Trostel: Zugbeanspruchte Konstruktionen: Gestalt, Struktur und Berechnung von Bauten aus Seilen, Netzen und Membranen, Band 1, Frankfurt a. M. 1962, Vorwort o. P.;

vgl. Rauterberg 2003.

563 Rauterberg 2003.

564 Frei Otto: Das Zeltdach. Subjektive Anmerkungen zum Olympiadach, in: Allgemeine Bauzei-tung, 42 (1972), Nr. 48, nachgedr. in: Otto 1984, S. 98–105 (100).

565 Otto 1963, S. 64, Fn. 1. Drew kritisiert, dass die »Antiarchitektur« den Prozess vor das Produkt stelle und die traditionellen architektonischen Interessen minimiere (Drew 1972, S. 42).

566 Rainer Graefe: Grenzgänger zwischen Architektur und Ingenieurbau, in: Otto 2005, S. 71–78;

vgl. Drew 1972, S. 114. (a) Drew spricht von einem »technologischen Grenzgänger« und einer Mi-schung von Architekt, Ingenieur und technischem Erfinder. (b) Das Interesse am Leichtbau wurde nach Ottos Erinnerungen schon vor seinem Entschluss, Architekt zu werden, geweckt. Beim Bau von Segelflugmodellen als Kind und während des Krieges beim Konzipieren eines

Studienaufenthaltes in den USA lernte er die geplante Hängedachkonstruktion der Dorton Arena in Raleigh kennen, die Anregung für Thema und Titel seiner 1954 ver-öffentlichten Dissertation im Fach Tragwerksplanung war. Darin definiert er das hängende Dach in seiner Urform als zwischen festen Punkten »gespannte Haut, die zugleich Dachkonstruktion und Dachhaut ist«567. Die gespannte Haut könne auch aus einem tragenden Seilnetz und einer Dachhaut aus unterschiedlichen Materia-lien gebildet werden. In der Arbeit stellt er eine Zusammenfassung des bisher »Ent-worfenen und Gebauten, des Gefühlten und Erdachten« dar, und er zeigt die von ihm gesehenen Entwicklungsmöglichkeiten auf. Dabei unterscheidet er Gestalt und Struktur, ohne den Zusammenhang der architektonischen und konstruktiven Prob-leme aus dem Blick zu verlieren.568

1957 gründete Otto die Entwicklungsstätte für den Leichtbau in Berlin, deren Ar-beit er in periodisch erscheinenden, zunächst an ein kleines Fachpublikum gerich-teten Mitteilungen publik machte (Abb. 79). In der ersten Mitteilung 1958 legte er ein umfassendes Programm dar, das sein weiteres Wirken begleiten sollte. Als ein Merkmal des Leichtbaus stellte er die Möglichkeiten des sparsamen Einsatzes hoch-wirksamer Baustoffe und der Trageigenschaften der räumlichen Systeme heraus.

Die Konstruktion könne so auf das unbedingt Notwendige reduziert werden.569 Seine Suche richtete sich auf das »natürliche Tragwerk« für eine bestimmte stati-sche Aufgabe. Es zeichne sich dadurch aus, dass es die zu berücksichtigenden Belas-tungen in einfachster Weise aufnimmt und dabei zugleich die »architektonischen Forderungen« erfüllt.570 Otto behauptete, dass den Tragwerken, die Kräfte mit dem geringsten Aufwand an Baustoff übertragen, eine eigene und besondere Schönheit innewohne. »Es ist gerade für den Architekten eine dankbare Aufgabe, diese For-men zu suchen und ihnen zu helfen, sich zu entfalten.«571 Karin Wilhelm meint, dass Otto »im Prinzip Leichtbau [...] eine Kategorie auch des ästhetischen Urteils« ge-funden habe.572 Ausgehend von der Annahme, dass es eine angeborene Ästhesie des Ästhetischen gibt, nahm Otto für den ideal geformten Leichtbau, der seine »wahre«

Einmannflugzeuges für den Tiefstflug mit einem Rumpf aus Gitterschalen verschaffte er sich erste Kenntnisse über Leichtbauweisen und rahmengespannte Membranen (Otto 1985b, S. 150f.).

567 Frei Otto: Das hängende Dach: Gestalt und Struktur (= Diss. TU Berlin 1954), Nachdruck mit einem Nachwort von Christian Schädlich und Rainer Graefe, Stuttgart 1990, S. 9.

568Otto 1990.

569 Otto 1958a, S. 1/2. Wirtschaftlicher Hintergrund für die Entwicklungsstätte waren anfangs Auf-träge der Zeltbaufirma von Peter Stromeyer (Joachim Kleinmanns/Martin Kunz: Der Weg zum Leichtbau, in: Frei Otto – Denken in Modellen, hg. v. Georg Vrachliotis/et al., Leipzig 2017, S. 36;

vgl. Roland 1965, S. 2).

570 Otto 1990, S. 13.

571 Ebd., S. 85.

572 Wilhelm/Otto 1985, S. 20.

Gestalt dem »unvoreingenommenen Beobachter« zeigt, in Anspruch, ästhetisches Objekt zu werden.573 Die Leichtbauweise wird durch eine Formgebung charakteri-siert, die das in der Architektur des Neuen Bauens vorherrschende Repertoire der geraden Linien und rechteckigen Formen sprengt. Philip Drew bezeichnete die ent-stehenden antiklastischen Flächen als »wesensgemäß üppig und verführerisch, dy-namisch und in der Richtung nicht eingeschränkt«.574 In einem 1982 veröffentlich-ten Interview hat Otto postuliert, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, Formen zu sehen und sie als schön zu empfinden, »wenn sie aus dem Trend des Optimierens herausgewachsen sind«.575 Neben der Frage der Ästhesie ging es Otto in seinen Äu-ßerungen vorrangig um die Einbindung der Technik in die Natur und damit um um-weltbezogene Fragestellungen. Es komme darauf an, dass die Produkte der Technik eingebunden werden können in die Gesamtvision oder die Gesamtumwelt.576

Die hängende Seilnetz-Konstruktion erwies sich in seinen vergleichenden Be-rechnungen hinsichtlich des benötigten Materialvolumens als am wirtschaftlichs-ten.577 Im einfachen, transportablen Zelt, der ältesten Form eines hängenden Da-ches, sah Otto das Potential, durch Umwandlung in ein wetterbeständiges und dau-erhaftes, hängendes Dach Bauweise jeder architektonischen Aufgabe zu werden.578 Berthold Burkhardt stellte in seinem Vorwort zu den gesammelten Schriften und Reden von Otto fest, dass die Suche nach der optimierten Konstruktion die Voraus-setzung für die Realisation der Leichtbauten mit Netzen, Membranen und Schalen sei. Eine nicht mehr verbesserbare Form bringe ein Optimum des Zusammenwir-kens von Form, Kraft und Masse hervor.579 Otto hat Zeltbautenals von sich aus »ele-gant« bezeichnet, sofern sie Resultat eines »sorgfältigen Formfindungsprozesses«

mit gleichmäßiger Spannungsverteilung und Materialausnutzung sind.580 Neben den Zelten verkörpern Gitterschalen und pneumatische Hüllen seine »Vision

573 Otto 1982, S. 110. Vrachliotis hat den Leichtbau als Ottos »Brücke zur Ästhetik« bezeichnet (Georg Vrachliotis: Man muss mehr denken, mehr forschen, entwickeln, erfinden und wagen ..., in: Meissner/Möller 2015, S. 32–35 (32)).

574 Drew/Weitbrecht 1976, S. 27.

575 Pehnt 1982, S. 302.

576 Ebd., S. 342.

577 Otto 1990, S. 86.

578 Otto 1990, S. 35. Otto hat die Stockwerksbauten und andere, nicht bezeichnete Aufgaben ausge-nommen. Er erwähnt die Anforderungen Schallschutz, Ortsgebundenheit und Langlebigkeit als Gründe für die notwendige Ertüchtigung des Zeltes zu einem »modernen hängenden Dach«

(ebd., S. 9). Seine These von der allgemeinen Verwendbarkeit der Bauform Zelt erwies sich in der Baupraxis als unzutreffend. Eine »Massentauglichkeit« haben seine Zeltbauten nicht erreicht.

579 Berthold Burkhardt: Vorwort, in: Otto 1984, S. VII.

580 Otto 1972, S. 104, Fn. 25; vgl. Otto 1982, S. 66. Zelte sind gespannte Flächentragwerke aus Ge-weben, Folien oder Netzen, also biegeunsteifen Materialien, bei denen das Eigengewicht gegenüber den Vorspannkräften gering ist.

natürlicher Konstruktionen«.581 Ihre Gebilde haben eine Zuschreibung von Adjek-tiven wie »biomorph« oder »organisch« zu ihren Architekturen bewirkt, die in Ottos Schriften und Reden allerdings, auf seine eigene Arbeit bezogen, nicht vorkom-men.582 Christian Schädlich hat unter Verzicht auf diese Begriffe von einem »ande-ren Charakter« gesprochen: »Das hängende Dach hat neue Körper- und Raumfor-men zur Folge. Die rektanguläre, kubische Gestalt wird durch gekurvte plastische Gebilde abgelöst. Mit dem Leichterwerden der Tragwerke erhalten Körper und Raum einen anderen Charakter.«583 Das gilt auch für die durch Gitterschalen gebil-deten Dächer und durch Luftdruck getragenen oder Unterdruck gespannten Dach-membranen.

Als Lehrbeauftragter bei Peter Poelzig an der Technischen Universität Berlin hielt Frei Otto im Wintersemester 1960/1961 Seminare über den Leichtbau ab.584 Er kam mit dem dort lehrenden Biologen und Mikromorphologen Johann Gerhard Helmcke in Kontakt, der sich mit der mikroskopischen stereometrischen Bildwie-dergabe von Radiolarienskeletten und Diatomeenschalen befasste.585 Sie weisen den menschlichen Schalenbauten und technischen Raumfachwerken ähnliche grundlegende Strukturmerkmale auf. Angeregt durch den überraschenden Befund, gründeten beide die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Biologie und Bauen« und hielten gemeinsame Vorlesungen, um Wissen aus den Bereichen Leichtbau, Biolo-gie und Architektur zusammenzuführen.586 Die selbst gestellte Aufgabe war: »Wir erforschen die Bildungsgesetze der Wesen der lebenden Natur. Wir wollen erken-nen, wir wollen wissen, was Form und Konstruktion ist und wo das herkommt, was wir als Architektur bezeichnen.«587 Um die Gestalt und Struktur lebender Objekte zu verstehen, gingen Helmcke und Otto weit zurück in ihre Entwicklungsgeschichte

581 Otto 2005, S. 15.

582 Beispielsweise Irene Meissner: »Besucher und Fachwelt sind von den biomorphen Formen, der lichten Atmosphäre und der Leichtigkeit des Dachs [der Multihalle in Mannheim, Erg. d. V.] bis heute beeindruckt« (Meissner/Möller 2015, S. 82). Den Begriff organisch hat Frei Otto im Zusam-menhang mit der Wandelbarkeit von Gebäuden gesehen: »Unser Bauen kann [...] nie starr sein [...]. Wir müssen strukturell echt dynamisch und ›organisch‹ sein« (Frei Otto: Die Bedeutung des Leichtbaus in unserer Zeit, in: Otto 1958b, S. 1/4–1/11 (1/6)).

583 Christian Schädlich: Nachwort, in: Otto 1990, S. 166.

584 Nach Roland hat sich Otto zwischen 1959 und 1961 fast ausschließlich mit der Erforschung von pneumatischen Konstruktionen befasst (Roland 1965, S. 3; vgl. Glaeser 1978, S. 88).

585 Mikroskopische Darstellungen von Kieselalgen und von technischen Gitterschalenkonstruktio-nen weisen ähnliche grundlegende Strukturmerkmale auf (vgl. Roland 1965, S. 114f).

586 Frei Otto/Berthold Burkhardt: Die Forschungsgruppe »Biologie und Bauen«, in: Natürlich bauen: Bericht über das Internationale Symposium Natürlich Bauen vom 15. bis 19. Oktober 1979, hg. v. Berthold Burkhardt, Stuttgart 1981 (= Mitteilungen des IL, Nr. 27), S. 6–8 (6). Der For-schungsgruppe gehörten 1980 mehr als fünfundzwanzig kooperierende Wissenschaftler an.

587 Frei Otto: Stuttgarter Architektur - gestern, heute und morgen, Vortrag vom 27.10.1978 an der Universität Stuttgart, abgedr. in: Otto 1984, S. 154–168 (167).

und nahmen das »hochfeste Bauelement«, die organische Zelle in den Blick, die, als

»Pneu« oder konstruktives System betrachtet, aus einer flüssig-weichen Füllung und einer zugfesten und biegeweichen Haut besteht.588

Das Ideal des Leichtbaus der Natur interessierte Otto nicht primär aus ästheti-schen Gründen, sondern als Mittel der Materialersparnis und Anpassungsfähigkeit der Bauten an die sich wandelnden Aufgaben, die er als Notwendigkeiten im großen Zusammenhang der Arbeit für eine »bessere Menschenerde« sah.589 Um die zur ein-gesetzten Masse relative Leistungsfähigkeit von verschiedenen Objekten der Natur und der Technik vergleichen zu können, hat Otto eine Relation zwischen Aufwand an Material und Summe aller übertragenen Kraftwege in einer Formel erfasst. Ma-terialersparnis bedeutet Verminderung des Energieaufwandes bei gleicher Funkti-onserfüllung. Der Leichtbau bekam, wie sich in seinem Artikel mit dem Titel »Mit Leichtigkeit gegen Brutalität« zeigt, eine ethische Bedeutungsaufladung.590

Es stellt sich die Frage, ob Ottos »natürliches Tragwerk« das Ökonomieprinzip des Menschen verkörpert, indem mit Hilfe der Mathematik der Nachweis der Mini-mierung des notwendigen Materialvolumens eines Objektes für seine Aufgabe er-bracht wird.591 Dann wäre die Inanspruchnahme des Begriffs »natürlich« zur Qua-lifizierung eines Tragwerkes zu hoch gegriffen und eigentlich so zu verstehen, dass es nach physikalischen Gesetzen optimiert ist. Sein besonderes Verständnis von Na-tur ist die Erklärung für die Qualifizierung von Konstruktionen als »natürlich«.

II. Selbstbildungsprozesse

Eine seiner Erkenntnisse aus den Experimenten mit Modellen zur Untersuchung von tragenden Strukturen und Formen war, dass er auch die von Menschen herge-stellten Konstruktionen in bestimmten Fällen als Ergebnis eines Selbstbildungspro-zesses aufgefasst hat.592 Dies schon im Jahr 1953, bevor er diese Überzeugung durch das Studium der Strukturen und Formen in der Natur gefestigt hat:

»Das ›hängende Dach‹ ist ›natürlich‹: es enthält seine Form von selbst und läßt sich nicht willkürlich entwerfen. Da es unaufdringlich ist und sein will, fordert es eine ganz leise architektonische Sprache. Es kann nur dort zum Meisterwerk

588 Otto 1982, S. 9.

589 Nerdinger 2005. Den Vorwand für sein Handeln als Erfinder, der Menschheit zu dienen, unter-zog er in den 1970er-Jahren einer »skeptischen Selbstkritik« (Otto 1985b, S. 134).

590 Frei Otto: Mit Leichtigkeit gegen Brutalität, in: Allgemeine Bauzeitung, 46 (1976), Nr. 1, nach-gedr. in: Otto 1984, S. 128–132.

591 Otto 1990, S. 85–87.

592 Vgl. Wilhelm/Otto 1985, S. 86.

werden, wo es so verborgen und edel ist, daß es nur der sehen kann, der dafür Au-gen hat: für den es gebaut und d e r es gebaut hat.«593

Frei Otto hat in seinem Buch über die pneumatischen Konstruktionen 1962 darauf hingewiesen, dass deren technische Formen denen der lebenden Formen ähneln.

Der Pneu sei eines der wesentlichsten Konstruktionsprinzipien der Natur.594 Er hat, die Erwartungen auf Annäherung der Technik an die Belange der organischen Welt einschränkend, festgestellt, dass trotz des Wissenstandes der Medizin noch nicht gesagt werden könne, dass »der so universale Aufbau der Körper von Tier und Mensch bisher erfaßt worden sei.«595 Organische Systeme und vom Menschen er-dachte und geplante Konstruktionen seien grundsätzlich verschieden. Jürgen Joe-dicke weist in seiner Rezension des Buches darauf hin, dass zwischen beiden Berei-chen ein Verhältnis der Nichtübertragbarkeit bestehe.596 Die Natur wurde von Otto gerade nicht als Vorbild für die Technik herangezogen, sondern er beschritt den um-gekehrten Weg. »Wenn die Technik und insbesondere die Wissenschaft vom ›Prin-zip Leichtbau‹ gründlich bekannt ist [sic], dann erst sind die Voraussetzungen ge-geben, die Objekte der lebenden Natur in Bezug auf Gestalt und Struktur zu verste-hen.«597 Der Selbstbildungsprozess der Form im Arbeitsmodell basiert auf den phy-sikalischen Gesetzen der Schwerkraft und den Materialeigenschaften. »Der Archi-tekt wird zum Geburtshelfer innerhalb des Selbstbildungsprozesses der Form, nur auf dieser Grundlage erklärt sich auch der Begriff des natürlichen Tragwerks.«598

Die Modellsysteme mit Seifenhäuten und hängenden Strukturen aus Netzen und Ketten finden von selbst ihre Formen und optimieren dabei den inneren Kraftaus-gleich. Dieser Vorgang wird als »natürliche« Selbstfindung der Form bezeichnet und als Ausgangspunkt für Ideen des Entwerfens genommen. Die dabei entstehende Architektur wird dann als »natürliche Architektur« qualifiziert.599 Das Hilfsmittel der Wahl waren physikalische Modelle, anhand derer das Ziel verfolgt wurde,

»Erkenntnisse über die Entstehung der Form von Konstruktionen aus dem ›freien Spiel‹ der Kräfte zu erhalten, die entstehenden Konstruktionen in ihrer Form zu erfassen, die formerzeugenden Kräfte und den Aufwand an Material zu

593 Frei Otto: Weiteres über das hängende Dach: Die Seilnetze, in: Bauwelt 44 (1953), Heft 16, S. 302–307 (307).

594 Otto/Trostel 1962, S. 10.

595 Ebd., S. 148.

596 Vgl. Jürgen Joedicke: Rezension Zugbeanspruchte Konstruktionen, in: Bauen und Woh-nen 17 (1963), Heft 4, S. 176.

597 Otto/Burkhardt 1981, in: Burkhardt 1981, S. 6.

598 Wilhelm/Otto 1985, S. 20, Hervorhebung wie im Original; vgl. ebd., S. 86.

599 Wolfgang Weidlich: Vorwort, in: Gaß 1990, S. 0.7.