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3 Die Bauten des Wilkhahn-Werkes

3.3 Fertigungspavillons und Lagerspange von Frei Otto 1985 bis 1988

3.3.5 Entwicklungsstudie für das Wilkhahn-Werk

Fritz Hahne und Theodor Diener waren davon überzeugt, dass ein Konzept für die mittel- und langfristige bauliche Entwicklung des Werkes vor einer Entscheidung über Lage und Gestalt eines ersten Bauabschnittes geboten war. Nach der Planungs-grupppe Gestering wurde Frei Otto mit seinem Atelier mit der Erarbeitung einer Entwicklungsstudie beauftragt. Es kann davon ausgegangen werden, dass ihm ne-ben den Programmanforderungen aus dem Statusbericht vom 25. Februar 1985 die Ergebnisse der vorbereitenden Funktionsprogrammstudien der Planungsgruppe Gestering bekanntgegeben wurden. Die Vorstellungen der Geschäftsleitung und der Fertigungsplaner, mit einem Anbau einer Halle 5 für das Materiallager zu einer funktional günstigen Lösung zu kommen, dürften Frei Otto ebenfalls mitgeteilt wor-den sein. Wie er später in einem Interview sagte, habe er sich mit diesem Gedanken befasst, sei aber im Dialog mit dem Bauherrn zur Pavillonlösung gekommen.642

Frei Otto legte im Juni 1985 die Entwicklungsstudie vor, bestehend aus Lageplä-nen jeweils für die einzelLageplä-nen Bauphasen, einer Freihandskizze des zukünftigen Werks aus der Vogelperspektive sowie Skizzen mit Grundrissen, Schnitten und

638 Otto 1982, S. 104–108.

639 Ebd., S. 105.

640 Ebd., S. 108. Ottos Begriff des Eingriffes scheint eine Parallele zur 1976 in das Bundesnatur-schutzgesetz eingeführten sog. Eingriffsregelung zu sein.

641 Otto 1981, S. 24; vgl. Otto 1982, S. 108.

642 Anonym 1989f, S. 87.

Ansichten der Gebäude der ersten Bauphasen (Abb. 84, 86–89). Auch ein Schau-modell des gesamten Werkes wurde in seinem Atelier gefertigt (Abb. 85).643 Ein im SAAI archiviertes Modellfoto vom Juni 1985 belegt, dass Otto zunächst eine Alter-native für eine Bebauung auf der westlichen Grundstücksfläche untersucht hat, die er – wahrscheinlich aufgrund einer Anregung von Fritz Hahne und Klaus Franck – nicht weiterverfolgte (Abb. 81). Das Modell zeigt einen mehrgeschossigen Solitär-bau in Kreisform mit fächerartig gegliederten trapezförmigen Ausbuchtungen des nördlichen Segmentes. Der Kreis des Erdgeschosses hat einen Durchmesser von rund 50 Metern. Auf ihm erhebt sich ein kleinerer eingeschossiger oktogonaler Bau-körper. Über die Flachdächer beider Geschosse erheben sich am äußeren Rand ins-gesamt 24 Masten mit Spannseilen. Eine Verbindung zu den Bestandshallen wurde im Modell nicht dargestellt. Da weder Zeichnungen noch eine Entwurfsbeschrei-bung für diese Variante vorliegen und das Arbeitsmodell eventuell nicht fertig ge-baut wurde, lässt sich keine sichere Aussage über die Intentionen für diese Planung treffen.

I. Klaus Francks Idee eines Produktionsdorfes

Fritz Hahne erwartete sich von Frei Otto eine herausragende Gestalt der Erweite-rungsbauten. Die Geschäftsführung wollte sich hingegen mit einem Anbau an die Bestandshalle 4 zufriedengeben. In dieser Situation entwickelte der Wilkhahn De-signer und an der HfG in Ulm ausgebildete Architekt Klaus Franck auf eigene Initi-ative eine Idee für eine Erweiterung: ein Ensemble von Bauten und Freiflächen auf einem hexagonalen Raster, optional erweiterbar (Abb. 82). Seinen Gegenvorschlag zum bei Wilkhahn in Rede stehenden Anbau einer Halle 5 nannte er »Produktions-dorf«.644 Fritz Hahne leitete die Skizze von Franck an Frei Otto weiter. Seine Ant-wort kurze Zeit später waren erste Ergebnisse seiner Entwicklungsstudie und eine handschriftliche Notiz auf dem ersten Blatt: »[...], so geht’s vielleicht doch [...]«.645 Damit bestätigte er, dass er eine Lösung im Sinne von Klaus Francks Idee eines Dor-fes gefunden habe. Franck erinnerte sich 2017 wie folgt an diesen Vorgang:

643 Frei Otto hat als beteiligte Planerin in seinem Atelier Christine Otto-Kanstinger benannt. Auf einzelne Digitalisate von Zeichnungen und Modellfotos aus dem SAAI wird im folgenden Text nä-her eingegangen. Ein schriftlicnä-her Erläuterungsbericht zur Entwicklungsstudie ist weder im SAAI archiviert noch in den Wilkhahn-Bauakten enthalten. Nach Auskunft von Jürgen Gestering wurde der PG Gestering vom Atelier Frei Otto kein Erläuterungsbericht vorgelegt (Johannes Gestering: E-Mail an den Verfasser v. 23.6.2021).

644 Klaus Franck hat dem Verfasser per E-Mail v. 19.2.2019 eine Gedächtnisskizze zugesandt. Das Original von 1985 ist in den Wilkhahn-Bauakten nicht archiviert worden.

645 Frei Otto: Handschriftliche Notiz v. 8.6.85 auf der Skizze »Phase 0« seiner Entwicklungsstudie v. 5.6.1985, in: Wilkhahn-Bauakte Nr. 55, a. a. O.

»Das ›Wechselspiel‹ sah so aus: Als die Erweiterung der Produktionsflächen not-wendig wurde, schien es zunächst logisch, den vorhandenen Hallen nahtlos eine weitere hinzuzufügen.

Fritz Hahne beauftragte Frei Otto, einen Entwurf auszuarbeiten, mit Recht in der Annahme, anstelle der relativ konventionellen Konstruktion eine besonders pfif-fige Lösung zu bekommen. Davon wusste ich nichts, stellte aber meinerseits eine Überlegung an.

Ich schlug vor, statt einer großen unübersichtlichen Halle kleinere Produktions-einheiten zu bilden und stellte mir vor, dass dies auch für die Motivation der ein-zelnen Teams vorteilhaft wäre. Dazu legte ich ein hexagonales Raster auf das ge-samte noch zur Verfügung stehende Gelände. Darauf wechselten sechseckige Pa-villons, die miteinander in Verbindung standen, mit sechseckigen Grün- bzw. Frei-flächen. Je nach Bedarf könnte [man, Erg. d. V.] dieses ›Produktionsdorf‹ gemäß dem Raster erweitern.

Fritz Hahne zeigte Frei Otto dieses Konzept. Daraufhin änderte Frei Otto seinen Hallenentwurf und präsentierte die vier Pavillons. Nach seinem Vortrag zur Eröff-nung kam Frei Otto auf mich zu und sagte so ungefähr: ›Das war ja eigentlich Ihre Idee‹. Aber es sind ja keine Sechsecke und meine Idee war ja eigentlich das Dorf.

Jedenfalls ist ein wunderbares Stück Architektur entstanden und weitere Möglich-keiten wurden geschaffen.«646

Otto bestätigte später, dass die Pavillon-Idee aus dem Werk kam.647 Die hand-schriftliche Notiz und die Entwicklungsstudie von Otto gingen eine Woche nach Vorlage der o. g. Überarbeitung der Planungsgruppe Gestering für die Halle 5 bei Fritz Hahne und Theodor Diener ein.

II. Hexagonale Betonschirme beim Rosenthal Keramikwerk in Kronach Eine zeitliche und formale Parallele zu Francks Idee des Produktionsdorfes auf der Grundlage eines hexagonalen Rasters kann in der Planung des Architekten Ekkehard Fahr für ein neues Keramikwerk der Rosenthal AG in Kronach gesehen werden (Abb. 83).648 Die Geometrie der Dachkonstruktion des 1986 fertiggestellten Hallengebäudes von ungefähr 50 Meter Breite und 250 Meter Länge besteht aus 50 aneinandergefügten sechseckigen Betonschirmen, die jeweils eine Fläche von etwa 280 Quadratmetern überdecken. Oberlichter bilden die Verbindung zwischen den Betonschirmen. Für die Verwaltung wurde ein zweigeschossiger vorstehender Flü-gel – ebenfalls auf einem Sechseckraster basierend – gebaut, der auch den Haupt-eingang aufnimmt.649 Es ist nicht bekannt, ob und wann Klaus Franck Kenntnis von

646 Klaus Franck: E-Mail an den Verfasser v. 30.9.2017.

647 Anonym 1989f, S. 87.

648 Siehe Unterabschnitt 5.2.1 dieser Arbeit.

649 Anonym 1987b: Rosenthal-Keramikwerk in Kronach, in: DBZ 35 (1987), Heft 11, S. 1391–1395.

Das Projekt für die Fabrik in Kronach ist in der Ausführungsplanung von der Bauabteilung der

dieser Planung hatte. Zumindest Fritz Hahne wird als Aufsichtsratsmitglied der Ro-senthal AG von der Planung und der 1984 begonnenen Baumaßnahme Kenntnis ge-habt haben, über die im Februar des Jahres, gleich nach Baubeginn, in der Indust-riezeitschrift Produktion berichtet wurde.650

In der Planungsphase ab Ende 1982 war Philip Rosenthal bereits aus dem Vor-stand der Rosenthal AG ausgeschieden und führte den Aufsichtsrat, dem Fritz Hahne als Mitglied angehörte. Es ist daher wahrscheinlich, dass er über die

»Rosenthal-Waben« berichtete, die auf diese Weise Eingang in die Überlegungen von Klaus Franck gefunden haben könnten.651

III. Entwicklung des Wilkhahn-Werkes in vier Bauphasen

Frei Ottos Entwicklungsstudie für den langfristigen Ausbau des Wilkhahn-Werkes vom Juni 1985 ist, wie Fritz Hahne erwartete, in Gestalt und Struktur außergewöhn-lich. Sein städtebauliches Konzept ist in einem Lageplan, einer perspektivischen Skizze, die das Werk aus der Vogelschau zeigt, und einem Modell dargestellt (Abb. 84–86).652 Entlang der Erschließungsstraße Im Landerfeld und auf den west-lichen Erweiterungsflächen sind drei Gebäudegruppen mit einer von Kuppeln und Zelten geprägten Dachlandschaft erkennbar. Der Erschließung und Verbindung der Ensembles dienen zwei parallele Hauptflure, von Otto »Lagerstraßen« genannt, und ein an die Bestandshallen angelehnter Flur. In den 7 Meter hohen Lagerstraßen sind auf beiden Seiten der Gänge bzw. Fahrspuren für die Gabelstapler Hochregale für das zur Produktion benötigte Material vorgesehen. Als grundlegendes Modul für die Grundrisse der Produktionsbauten wählte Otto die Form eines dem Quadrat ange-näherten Oktogons mit Ausdehnungen zwischen 13 und 22 Metern. Zur Deckung des Flächenbedarfs sind an anderen Stellen auf dem Werksgelände weitere

Rosenthal AG verändert worden. Die ursprünglich geplante leichte Holzkonstruktion wurde durch Betonschirme ersetzt.

650 Bernhard Rose: Es bleibt dennoch ein außergewöhnliches Ding, in: Produktion 24 (1984), Heft 5, S. 2.

651 Ekkehard Fahr hat dem Verfasser im Telefonat am 11.1.2021 gesagt, dass Fritz Hahne ihn in München im Vorfeld der Beauftragung von Frei Otto, also Ende 1984 oder Anfang 1985 aufgesucht habe. Fahr wusste von der Aufsichtsratsfunktion von Fritz Hahne und dürfte auch das Projekt in Kronach angesprochen haben.

652 (a) Dem Schaumodell der Entwicklungsstudie gingen Arbeitsmodelle in gröberer Verarbeitung aus Styropor voraus, die auf dem Verfasser vorliegenden Kontaktabzügen abgebildet sind. (b) Die Erschließung der Modellsammlung Frei Ottos im SAAI hat Martin Kunz zu folgender Feststellung gebracht, die auch für das Wilkhahn-Projekt zutrifft: »Wie man hier nun sehen kann, sind für Frei Otto die Modelle nicht nur ein Teilbereich im Entwurfsprozess, für Frei Otto sind die Modelle der Entwurf. Er dreht hier den klassischen Entwurfsprozess um« (Martin Kunz: Die Erschließung der Modellsammlung Frei Otto, in: Materielle Kultur in universitären und außeruniversitären Samm-lungen, hg. v. Ernst Seidl/et al., Berlin 2017, S. 118–123 (120)).

Neubauten und Ergänzungen mit den dort vorzufindenden Bauformen vorgesehen.

Die bisherige Ausstellungshalle soll für Schulungen und Konferenzen genutzt wer-den und mit einer zum Bach orientierten Kantine ergänzt werwer-den. Der südliche Rand der Halle soll nach Ottos Konzept mit einem dreigeschossigen Bürogebäude überbaut werden, das dem Bau von Hirche nachempfunden ist. Weitere Büroflä-chen wollte Otto produktionsnah in an die Lagerstraße angebundenen Gebäuden westlich und östlich der Pavillons anordnen. Für die Kantellagerung wählte Otto ei-nen neuen, peripheren Standort im Nordwesten des Grundstücks. Dort sollte ein ovales, 70 Meter langes Buckelzelt entstehen. Die Gebäude nördlich des Baches wollte Otto erhalten sehen, Langholzlagerplatz und Sägereigebäude südlich des Ba-ches wollte er hingegen aufgeben.

Im Lageplan ist Ottos Konzept für die Freianlagen dargestellt (Abb. 86). Die in-ternen Erschließungsstraßen sind im Norden mit der Hauptstraße und im Südwes-ten mit der Straße Im Landerfeld verbunden. Die Parkplätze sind am westlichen Rand des Werksgeländes entlang der internen Straße konzentriert. Neues Land-schaftselement ist eine Gartenanlage westlich der Sheddachhalle, die mit einer Auf-weitung des Baches eine Wasserfläche als ihr Zentrum aufweist. Auf den gebäude-nahen Freiflächen hat Otto nur insgesamt sechs Bäume dargestellt. Gehölze auf den Grünflächen südlich und westlich der Zelt- und Kuppelbauten sollten offensichtlich den Blick auf die Bauten nicht beeinträchtigen.

IV. Bauphase 1

Für die Bauphase 1 schlug Otto an Stelle des bei der Bauherrin in Rede stehenden südlichen Anbaus einer Halle eine Gruppe aus vier 12,5 Meter hohen Pavillons mit Grundflächen von je rund 500 Quadratmetern vor. Sie sind in Ost-West-Richtung parallel zum Komplex der Bestandshallen aufgereiht und mit knapp 4 Meter breiten eingeschossigen Zwischentrakten miteinander verbunden. Der Raum zwischen den Pavillons und der 100 Meter langen Halle 4 wird von einem den Pavillons zugeord-neten internen Flur und der an die Halle angelehnten 6 Meter breiten und 7 Meter hohen Lagerstraße zur Erschließung der Flächen und zur Materiallagerung, ausge-füllt. Sein Dach hat die Form eines Tonnengewölbes, dessen Scheitel in ganzer Länge verglast ist. An seiner östlichen Seite reicht dieser Baukörper rund 25 Meter über die Flucht der Bestandshallen hinaus und endet vor dem Dach des Kantella-gers. Hier ist die Laderampe für die Materialzuführung von der im Norden am Werk vorbeiführenden Bundesstraße angeordnet. Das Problem der fertigungsnahen Ma-teriallagerung löste er mit der Anordnung der Lagerstraße als Kombination von Ver-kehrsfläche und Hochregallager (Abb. 87). Sie stellt mit ihrer Höhe eine optische Trennung zwischen Pavillons und Bestandshallen her. Die Nutzungen der einzelnen

Fertigungspavillons und ihre Ausstattungen hat Otto offengelassen. Ihre Festlegung blieb späteren Planungsphasen vorbehalten.

Die Fertigungspavillons haben nach den Darstellungen der Entwicklungsstudie Zeltdächer, deren Membranen jeweils an einem zentralen Hochpunkt hängen (Abb. 88 u. 89). Der Hochpunkt wird von einer außenliegenden Stahlkonstruktion aus zwei zueinander geneigten, zu einem Rahmen verbundenen Masten und dem von ihm abgehängten Zugring gebildet. In Höhe der Außenwände sind die Masten abgewinkelt, sodass sie dort vertikal, parallel zur Wandebene stehen. Am Hoch-punkt ist der Rahmen abgerundet (Abb. 90).653 Die Membranen werden oben vom abgehängten Zugring gehalten. Die Art der unteren Verspannungen der nen ist nicht offensichtlich. Äußere Abspannungen am unteren Rand der Membra-nen sind in keiner der Darstellungen zu erkenMembra-nen.

Zwei sich gegenseitig abstützende, mit Stahlseilen abgespannte Fachwerkmasten hat Larry Medlin beim Demonstrationszeltdach für die Ausstellung »The Work of Frei Otto« 1971 im Museum of Modern Art in New York realisiert (Abb. 91). Medlin hatte 1964 als Mitarbeiter von Otto das Modell für eine Kirche mit einem Zeltdach mit Schlaufe gebaut, das ebenfalls zwei sich gegenseitig abstützende Rohrmasten und deren Betonwiderlager zeigt.654 In der Entwicklungsstudie für das Wilkhahn-Werk sind Widerlager und Abspannungen der Masten an den Fußpunkten der Pa-villons in den Zeichnungen und im Modell außer Acht gelassen worden, oder das wegen der Aneinanderreihung nur schwer lösbar erscheinende Problem der Ab-spannung von Masten und Membranen wurde in dieser Planungsphase negiert.

Otto hat in der späteren Phase der Vorentwurfsplanung als Alternative einen hori-zontal auf den Außenwänden liegenden Rahmen zur Aufnahme von Zugkräften vor-geschlagen. Außer Acht gelassen hat Otto auch die Gestaltung der Außenwände. Die Zone zwischen dem Erdboden und den Dachtraufen bleibt in Ottos Skizzen gestal-terisch unbearbeitet (Abb. 88). Die senkrechte Schraffur der Wandflächen lässt eine Fassadenaufteilung in geschlossene und verglaste Flächen nicht erkennen.

Um den Bedarf an zusätzlichen Flächen für die Produktausstellung zu decken, schlug Otto eine Gruppe aus vier oktogonalen Pavillons mit gewölbten Dächern vor, die mit einem Verbindungsgang an den bestehenden Windfang zwischen Büroge-bäude und Ausstellungshalle angeschlossen ist. Die Pavillons haben jeweils eine Flä-che von rund 100 Quadratmetern. ZwisFlä-chen den Ausstellungspavillons und dem

653 Abweichungen zwischen den zeichnerischen Darstellungen und dem in der Abbildung 90 ge-zeigten Modell sowie weiteren Arbeitsmodellen sind Beleg für die Arbeitsmethode von Otto. Festle-gungen wurden erst nach Prüfung aller maßgeblichen Parameter und nach einem Prozess der Formfindung am Modell getroffen. Auch in seinen Zeichnungen sind die Planungsschritte nachvoll-ziehbar.

654 Eine Abbildung des Modells ist abgedruckt in: Otto/Schleyer 1966, S. 72.

Bürogebäude von Herbert Hirche ist ein dem neuen Haupteingang vorgelagerter Platz angeordnet. Für die Bauphase 1 ist ein erster Ausstellungspavillon vorgesehen.

V. Bauphase 2

In der Bauphase 2 soll nach dem Konzept von Otto im Westen, in der verlängerten Achse der Lagerstraße ein annähernd quadratischer Gebäudekomplex mit neun ver-schnittenen Kuppeln entstehen (Abb. 86, 92 u. 93). Der Lageplan zeigt eine Addition von fünf oktogonalen Flächen, die die gleichen Größen und Grundrissformen wie die der Fertigungspavillons haben. In der Mitte der vier Kanten des Quadrats ist jeweils ein Zwischenglied mit einer kleineren Kuppel eingefügt. Das Foto eines Ar-beitsmodells macht deutlich, dass der Komplex aus ineinandergreifenden Gitter-schalen bestehen soll, die auf einem umlaufenden Rähm auf Stützen aufliegen (Abb. 92).655 In der Zeichnung »Schnitt durch Polsterei« sind die Verschneidungen der Kuppeln, die Höhenverhältnisse im Gebäudekomplex und der Anschluss der La-gerstraße erkennbar (Abb. 93). Über dem Scheitelpunkt der mittleren Kuppel erhe-ben sich drei unterschiedlich hohe zylinderförmige »Windtürme« für die Zu- und Abluftführung (Abb. 84 u. 94).656 Wie die natürliche Belichtung erreicht werden sollte, ist nicht erkennbar. Eine transluzente Membran hätte dazu nicht ausgereicht.

Besondere transparente Elemente in den Kuppeln sind nicht dargestellt.

In dem zum Teil zweigeschossigen Komplex mit Ausdehnungen von 60 mal 60 Metern empfiehlt Otto die Unterbringung der Betriebsstelle Polsterei. Zwischen dem Komplex und dem Fertigungspavillon 4 ordnete Otto südlich der Lagerstraße ein sechseckiges, dreigeschossiges Bürogebäude für fertigungsnahe Verwaltungstä-tigkeiten an, als »Betriebsbüro 2« bezeichnet. Grundriss- und Schnittzeichnungen für dieses Gebäude liegen nicht vor. Vermutlich sollte der Baukörper ein begrüntes Flachdach erhalten.657 Nördlich der Lagerstraße zwischen Bestandshalle 4 und der neuen Polsterei ist eine Verkehrsfläche mit Ladebrücken für die Materialanlieferung dargestellt. Sie ist verbunden mit der Werkstraße am westlichen Rand des Grund-stücks, die die Verbindung zu den öffentlichen Straßen im Norden und Süden

655 Gitterkuppeln aus im Raster angeordneten Holzlatten realisierte Otto 1962 für einen 5 Meter hohen Versuchsbau auf der Deutschen Bauausstellung in Essen und 1967 innerhalb des Montreal-Pavillons zur Einhausung des Vortragssaales. Später folgte das Dach der Multihalle in Mannheim.

Das nicht realisierte Konzept für ein Regenschutzdach für den Volkspark Rehberge in Berlin von 1968 sah eine Gitterkuppel auf »Dreifüßen« vor (Drew/Weitbrecht 1976, S. 47, Abb. 177 u. 178).

Sechs verschnittene Gitterkuppeln plante Otto 1966 für die Überdachung des Schwimmbades in Borkum (Drew/Weitbrecht 1976, S. 46, Abb. 174).

656 Aus dem Scheitel einer Kuppel »wachsende Windtürme« sind im Wettbewerbsentwurf für den Diplomatischen Klub in Riad (Saudi-Arabien), an dem Otto 1980 als Berater mitgewirkt hat, vorge-sehen gewesen (Otto 1982, S. 53, Abb. 4 u. 5; vgl. Meissner/Möller 2005, S. 312).

657 Die Darstellung in der Skizze der perspektivischen Dachaufsicht lässt diese Interpretation zu.

herstellt. Um die Ausstellungfläche in Korrelation zur Erweiterung der Produktions-kapazitäten zu erweitern, schlug Otto für die Bauphase 2 einen zweiten Ausstel-lungspavillon westlich des ersten an der Straße Im Landerfeld vor.

VI. Bauphasen 3 und 4

Für den Abschluss der baulichen Entwicklung sind zwei weitere Bauphasen vorge-sehen. Die Informationen über die in den Phasen 3 und 4 geplanten Gebäude sind dem Lageplan, der perspektivischen Skizze und dem Modell zu entnehmen (Abb. 84–86). Darüber hinaus gehende Darstellungen in Form von Skizzen oder Ar-beitsmodellen liegen für diese beiden zuletzt zu realisierenden Bauphasen nicht vor.

Das Konzept für die Bauphase 3 beinhaltet ein weiteres Gebäudeensemble für die Fertigung. Der nördlich der Polsterei gelegene, eingeschossige Komplex hat in etwa die Ausdehnungen von 60 Metern in Ost-West-Richtung und gut 50 Metern in Nord-Süd-Richtung. In ihm ist die Unterbringung der Betriebsstelle Oberflä-che/Beschichtung vorgesehen. Seine Dachlandschaft besteht aus unterschiedlichen Formen. Gliederndes Element ist die in Ost-West-Richtung verlaufende Lager-straße, die den Komplex teilt. Die Bauform der Lagerstraße entspricht in Breite und Höhe sowie in der Dachkonstruktion der der ersten Bauphasen zwischen Polsterei, Fertigungspavillons und Bestandshalle 4. Auch der Lagerstraße in der Betriebsstelle Oberfläche/Beschichtung sind Ladebrücken und eine südlich vorgelagerte Ver-kehrsfläche für die Materialanlieferung zugeordnet. Zur Verbindung der Lagerstra-ßen ist, angelehnt an die Westseiten der Bestandshallen, ein Flur für den fußläufigen Verkehr vorgesehen.

Die Dachabschnitte des Ensembles sind unterschiedlich gestaltet. Zu sehen sind auf der Südseite der Lagerstraße ein an äußeren, schrägen Masten hängendes Zelt-dach über gerundetem Unterbau und ein BuckelzeltZelt-dach über einem länglichen, ebenfalls gerundeten Unterbau. Seine Membran wird von zwei inneren Buckelstüt-zen getragen, die die Hochpunkte der Dachhaut bilden. Ein an die Lagerstraße an-gelehnter Zwischenbau verbindet die beiden Zeltbauten. Die Dachmembran über dem Zwischenbau geht fließend in die beiden Zeltdächer über. Das Dach des nörd-lichen Gebäudeteiles überdeckt einen Unterbau, der im Lageplan in drei gleich große achteckige Abschnitte gegliedert dargestellt ist. Im Modell ist ein Membran-dach mit flachen Buckeln zu erkennen. Das ZeltMembran-dach wird von acht regelmäßig ver-teilten, zylinderförmigen Windtürmen mit Durchmessern von ungefähr 4 Metern durchstoßen (Abb. 85). Sie überragen die Dachfläche um 5 Meter. Davon abwei-chend erscheinen in der perspektivischen Skizze 15 Windtürme über der Dachflä-che. Auch die im Modell dargestellten Dächer südlich der Lagerstraße sind in der Skizze mit anderen Formen dargestellt. Nicht Zeltdächer lassen sich erkennen,

sondern es ist ein flaches Dach dargestellt. Über dem Zwischenbau erheben sich vier Masten.

Die Vision des Wilkhahn-Werks der Zukunft erschöpft sich nicht in der Idee eines Produktionsdorfes entlang der Straße Im Landerfeld und auf den westlichen Grund-stücksflächen, sondern beinhaltet auch eine geänderte Anordnung von Betriebsstel-len und Erweiterungen verschiedener Bestandsbauten (Abb. 96). Die alten Hal-len 1, 3 und 4 sollten jeweils drei runde Oberlichter erhalten. Mit Ausnahme des Ge-bäudes der Sägerei sollten nach den Vorstellungen von Otto alle Bestandsbauten erhalten bleiben.658 Das Dach von Leowald über dem Lagerplatz der Kanteln sollte in den Neubau eines Fertigungsgebäudes integriert werden. Als Ersatz sollte am nordwestlichen Rand des Grundstücks ein Buckelzelt über länglichem, sichelförmi-gem Grundriss für das »Kantellager oder anderes« gebaut werden. Die Modelldar-stellung der Überdachung für das neue Kantellager erinnert formal an das Buckel-zelt, mit dem die temporäre Tribüne des Schwimmstadions im Olympiapark in München 1972 überdeckt war (Abb. 90 u. 96).659 Für zusätzliche Büros, Schulungs-räume und eine Kantinewaren punktuelle Erweiterungen in dem Bestand angepass-ten Bauformen vorgesehen. Der Neubau der Ausstellung sollte mit insgesamt vier Pavillons entlang der Straße in der Bauphase 4 abgeschlossen werden. Das beste-hende Foyer sollte geringfügig erweitert werden, so dass es von der Straße aus sicht-bar ist. Es ist dem dreigeschossigen Ergänzungsbau für die Verwaltung über dem Seminarbereich vorgelagert. Die alte Fabrik auf dem nördlichen Werksgelände sollte erhalten bleiben und einer Büronutzung zugeführt werden.

VII. Bewertung der Entwicklungsstudie

Frei Ottos Konzept für die Gestalt und Struktur des künftigen Wilkhahn-Werkes kann als Beispiel für eine dem Architekten von Karin Wilhelm zugeschriebene Be-sonderheit einiger seiner Arbeiten angesehen werden, in denen die Grenze zwischen Utopie und Realisierbarkeit verwischt erscheint.660 Wie sich im Zuge der Realisie-rung der vier Fertigungspavillons gezeigt hat, sind Ottos Aussagen zur Gebäudege-stalt im Modell und in Skizzen keine endgültigen Festlegungen der Form, sondern Zeugnis eines bestimmten Arbeitsstandes. Denkbar ist demnach, dass im Zuge der Planungen für die Bauten der Phasen 2 bis 4 auch pneumatische Membrandächer, wie sie Otto 1959 für einen Industriebau vorgeschlagen hatte, von ihm untersucht worden wären (Abb. 95). Die Darstellungen belegen eine weitere Charakterisierung

658 Mittelfristig wollte die Geschäftsleitung die eigene Langholzbearbeitung aufgeben.

659 Vgl. Wilhelm/Otto 1985, Abb. S. 26.

660 Vgl. ebd., S. 81.

von Wilhelm: »Wie die Arbeit Ottos beständig zwischen Wissenschaft und Kunst hin und her pendelt, so auch die Zeichnungen, die einmal sachlich genaue Explika-tionen sind, ein andermal künstlerische ArtikulaExplika-tionen – oft sind sie von beidem geprägt.«661 Das scheint auch auf die Anordnung der Windtürme zuzutreffen, die gestalterisch wirksam sind, jedoch konstruktiv als Durchstoßungen der Gitterkup-peln oder Zeltmembranen fragwürdig erscheinen.

Als ein Rückgrat der Neubauten auf den südlichen und westlichen Grundstücks-flächen fungiert die in der Bauphase 1 angelegte und schrittweise ergänzte Lager-straße, die in der Phase 4 eine Länge von 220 Metern zwischen Hirches Büroge-bäude und neuer Polsterei erreicht. Ottos Idee der Kombination von befahrbarem Flur und Hochregalstellplätzen für die produktionsnahe Zwischenlagerung von Ma-terialien kann im Vergleich mit den Vorschlägen von Volker und von der Planungs-gruppe Gestering als innovativ beurteilt werden, auch wenn sie das Problem der Trennung von zentralem Lager am Außenstandort und Produktion nicht umfassend löst.

Die Gestaltung der Freiflächen des Werkes kann man als architekturfreundlich bezeichnen, soweit sie Otto dargestellt hat. Im Lageplan sind nur wenige die Ansich-ten der Gebäude verstellende Bäume zu erkennen. Die zentrale GarAnsich-tenanlage am Bach und die Gruppe der »Vesperpavillons« auf der nordwestlichen Grünfläche sind die einzigen nennenswerten Gestaltungselemente in den Freianlagen. Die de-zentrale Anordnung der Parkplätze an der westlichen und südlichen Grundstück-grenze ist ungünstig. Soweit sie den Bürogebäuden zugeordnet sind, reicht ihre An-zahl nicht aus. Für die in der Produktion beschäftigten Personen ergeben sich lange Wege zu zentralen Ein- und Ausgängen.

Eine schriftliche funktionale und gestalterische Bewertung der Entwicklungsstu-die und der einzelnen Gebäudeentwürfe und ein Vergleich mit der StuEntwicklungsstu-die der Pla-nungsgruppe Gestering sind in den Bauakten nicht zu finden, sieht man von punk-tuellen Anmerkungen in Gesprächsnotizen ab.662 Ob Fritz Hahne und die drei-köpfige Geschäftsführung vor Erteilung des Planungsauftrages Ende Juli Einver-nehmen hatten, die Fertigungspavillons als Erweiterung der Bestandshallen zu bauen, kann bezweifelt werden. Die für die Produktionsplanung Verantwortlichen hätten es lieber gesehen, eine fünfte Halle in der Bauart der vier bestehenden Hallen

661 Ebd., S. 7.

662 Vgl. Theodor Diener: TOP 4: Neubauplanung. Vorschlag für den stufenweisen Ausbau, Vorlage v. 17.9.1985 für die Sitzung des Verwaltungsrates am 26.9.1985, S. 3, in: Wilkhahn-Bauakte Nr. 55, a. a. O. Theodor Diener spricht sich u. a. für den Vorschlag von Otto für die Platzierung der Ausstel-lung in der Nähe des Bürogebäudes und gegen den von der PG Gestering vorgeschlagenen Standort am bzw. über dem Eimbeckhäuser Bach aus und lobt die »architektonisch reizvolle« Bezugnahme auf die Fertigungspavillons und das »einheitliche Bild« von Süden.