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3 Die Bauten des Wilkhahn-Werkes

3.3 Fertigungspavillons und Lagerspange von Frei Otto 1985 bis 1988

3.3.3 Auswahl und Beauftragung von Frei Otto

Zentrallagers aufzugeben und auf dem Werksgelände nahe der Fertigung unterzu-bringen.522 Fritz Hahne gab sich mit einem Anbau einer Halle in Gestalt der Be-standshallen nicht zufrieden. Er wollte einen vorzeigbaren Bau, der den Gästen mit der erhofften Wirkung präsentiert werden könnte. Dafür war eine konventionelle Lagerhalle ungeeignet.523

dessen Haltung zum Bauen führten ihn zu Frei Otto.528 Hahne konnte ihn für sein Anliegen interessieren, mit der anstehenden Erweiterung der Möbelfabrik das Qua-litätsniveau seiner Produkte in der Werksarchitektur zum Ausdruck zu bringen. Es ist anzunehmen, dass beide Übereinstimmungen in grundlegenden Fragen festge-stellt haben, die die Bereitschaft Ottos zur Zusammenarbeit gefördert haben. Über-einstimmungen bestanden faktisch in der Mitgliedschaft im Deutschen Werkbund und in der Verbundenheit mit der ehemaligen Hochschule für Gestaltung in Ulm, in der Otto 1959 Gastdozent für ein Seminar mit dem Thema »Anpassungsfähig bauen« war.529 Auch hatte sich Otto auf dem Gebiet der Möbelgestaltung im Zusam-menhang mit der Ausstattung des deutschen Pavillons bei der Weltausstellung 1967 in Montreal betätigt.530 Schließlich dürfte das Renommee der Wilkhahn-Produkte ein Grund für Otto gewesen sein, zu einer ersten Besichtigung des Werksgeländes nach Eimbeckhausen zu kommen.

Otto hatte in seinen frühzeitigen Studien auch Skizzen für Dachtragwerke von Industriehallen zu Papier gebracht. In einem Forschungsprojekt hat er 1959 ein pneumatisch gestütztes, transluzentes Membrandach für eine Fabrik für Landwirt-schaftsmaschinen geplant (Abb. 78). Eine Fotomontage zeigt einen 200 Meter lan-gen Bau in der umgebenden Landschaft. Ein zweigeschossiger, massiver, quadrati-scher Gebäudeblock für Werkstätten und Büros umschließt einen Innenhof für die Montage, der mit einem luftgetragenen Membrandach überdeckt ist. Der Gebäude-block fungiert konstruktiv als Verankerung für das Membrandach. Zwei vorge-spannte Stahlseile teilen die Oberfläche des Daches in vier gleich große Kuppeln mit dem Effekt, dass die Gesamthöhe und der erforderliche Luftdruck begrenzt werden.

Als Membranmaterial waren transparentes Kunststoffgewebe oder mit Aluminium bedampfte Folie vorgesehen.531 Zu einem Industriebauauftrag an Otto war es bis zum Wilkhahn-Projekt nicht gekommen.

528 Wilkhahn hat mehr als 22 Zeitschriften abonniert, darunter die Titel Abitare, Architektur und Wohnen, Der Baumeister, Bauwelt und deutsche bauzeitung (Rudolf Schwarz: Zeitschriften in der Bibliothek, in: Wilkhahn aktuell 106, Dezember 1993, o. P., in: Archiv des Deutschen Stuhlmuse-ums Eimbeckhausen). Fritz Hahne dürfte sich im Hinblick auf die Auswahl einen umfassenden Überblick über die in den Fachzeitschriften gewürdigten Bauten und ihre Architekten verschafft haben.

529 Frei Otto: Anpassungsfähig bauen. Mitteilung 6 vom Juni 1959 der Entwicklungsstätte für den Leichtbau, Berlin 1959 (= Mitteilungen der Entwicklungsstätte für den Leichtbau), S. 6/48; vgl.

Conrad Roland: Frei Otto – Spannweiten. Ideen und Versuche zum Leichtbau. Mit einem Nachwort von Frei Otto, Berlin 1965, S. 163. Otto war seit dem 1.1.1974 Mitglied im Werkbund Baden-Würt-temberg.

530 Vgl. Karin Wilhelm/Frei Otto: Architekten heute: Portrait Frei Otto, Berlin 1985 (= Architekten heute, Band 2), Abb. S. 77.

531 Roland 1965, S. 91; vgl. Ludwig Glaeser: The work of Frei Otto and his teams 1955–1976, hg.

von: Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 1978 (= Mitteilungen des IL, Nr. 17), S. 119;

Die weltweit bekannten Bauten, wie der deutsche Expo-Pavillon in Montreal, die Dächer der Münchener Olympiabauten oder die Multihalle in Mannheim, an deren Planungen er beteiligt war, sind hinsichtlich Aufgabenstellungen und Größenord-nungen Sonderbauten, die als Referenz für die Erweiterungsbauten des Wilkhahn-Werkes nicht in Frage kamen. Ob seine Mitwirkung an einem Projekt für den Bau von Experimentiergebäuden für eine Möbeldesignschule auf einem Campus im Hooke Park bei Dorset, das auch eine Lehrwerkstatt für Möbelbau einschloss, im Hause Wilkhahn bekannt war, lässt sich nicht belegen.532 Frei Otto hatte 1980 die Gelegenheit erhalten, eine Wohnhausanlage für die Internationale Bauausstellung in Berlin 1984/1987 zu konzipieren, die den Gedanken des Prinzips »Natur und Bauen« verwirklichen sollte. Er legte zusammen mit mehr als dreißig Autoren und Autorinnen seiner Arbeitsgruppe eine vorbereitende Studie für das »Öko-Haus Ber-lin« vor.533 Mit dem Bauvorhaben sollten »konzeptionell ökologische Prinzipien im Wohnungsbau untersucht und deren Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit festge-stellt werden«.534 Otto konnte auf seine in den 1950er-Jahren begonnene, langjäh-rige Beschäftigung mit ökologischen Aspekten des Bauens verweisen, auf deren Er-gebnissen die im Mai 1985 vorgelegte Studie aufbaut.

Über Ottos Arbeiten und seine Haltung zum Leichtbau und zum ökologischen Bauen lag zum Zeitpunkt vor der Beauftragung eine umfangreiche Literatur vor. Ei-nen weiteren Hinweis auf seine planerischen AmbitioEi-nen gab der Bund Deutscher Architekten, der ihn 1982 mit dem Großen BDA-Preis auszeichnete. In der Verlei-hungsurkunde heißt es:

»Die umfangreichen – zunächst utopisch anmutenden – Studien Frei Ottos zu ökologischen und biologischen Problemstellungen bis zu Realisierung von Groß-hüllen für die Verbesserung des Mikroklimas in arktischen und tropischen Gebie-ten gewinnen immer mehr an Bedeutung und weisen weit über die vordergründige Diskussion um formale Aspekte der Architektur hinaus.«535

vgl. Irene Meissner/Eberhard Möller: Werkverzeichnis, in: Frei Otto/et al. (Hg.): Frei Otto – das Gesamtwerk: leicht bauen, natürlich gestalten, Basel/Berlin 2005, S. 169–355 (189); vgl. Philip Drew/Brigitte Weitbrecht: Frei Otto: Form und Konstruktion, Stuttgart 1976, S. 50, Abb. 194.

532 Vgl. Irene Meissner/Eberhard Möller: Frei Otto: forschen, bauen, inspirieren, München 2015 (=

Edition Detail), S. 114; vgl. Abbildungen in Wilhelm/Otto 1985, S. 111.

533 Frei Otto: Wohn-be-reiche im Garten. IBA Berlin 1987: Vorbereitende Studie für das Bauvorha-ben »Ökohaus« Berlin: ein Konzept vom Mai 1985, Stuttgart 1985; vgl. Anonym 1982: IBA ’84 ’87.

Projektübersicht Stadterneuerung und Stadtneubau. Stand Oktober ’82, hg. von: Internationale Bauausstellung GmbH, Berlin 1982, S. 136f.

534 Otto 1985a, S. 5.

535 Zit. n. Wolfgang Pehnt: Gespräch mit Frei Otto, in: AIT – Architektur, Innenarchitektur, Tech-nischer Ausbau 90 (1982), Heft 4, S.301–303 u. 342 (301).

Fritz Hahne hat für die Entwicklung des Werks vorgegeben, dass bei künftigen Bau-ten ökologische, ökonomische, ästhetische und soziale Erfordernisse auf einem Nenner sein müssen.536 Ottos Kompetenz für die Einbeziehung ökologischer As-pekte in die Lösung einer Bauaufgabe dürfte für Fritz Hahne wichtig gewesen sein, hatte er doch diesen Aspekt explizit für die bei Wilkhahn anstehenden Bauaufgaben aufgerufen.537 Für die anstehende Erweiterung des Hallenkomplexes hat er Frei Otto als Architekten ausgewählt, obwohl das Fehlen einer Referenz auf dem Gebiet des Fabrikbaus ein hohes Risiko mit sich brachte, was offenbar nicht entscheidend war.538 Nicht nur die erwähnten prominenten Bauten, sondern auch die grundle-genden Auffassungen von Otto dürften Hahne bekannt gewesen sein. Seine Mitar-beiter Klaus Franck und Hans Peter Piehl hatten Otto als Lehrer oder Arbeitgeber und Entwerfer kennengelernt und könnten ihm über ihre Kenntnisse berichtet ha-ben.539 In der Beauftragung von Frei Otto als Architekten sah Hahne einen entschei-denden Schritt zur Gewinnung von Anerkennung. Mit einem eigenen Bau eines weltbekannten Architekten war ein Imagegewinn, zumindest in der Gruppe der Ar-chitekten und Architektinnen, zu erwarten. Nach dem Termin im Atelier in Warm-bronn und der Ortsbesichtigung in Bad Münder folgten ein Angebot von Otto und Anfang März 1985 der Auftrag zur Erstellung einer Entwicklungsstudie für das ge-samte Werksgelände. Otto hat bei seinem Besuch gezögert, den Auftrag anzuneh-men. Das Bürohaus von Hirche soll ihm so gut gefallen haben, dass er zunächst Hemmungen hatte, »dagegen anzubauen«.540 Andererseits habe er sich in Gesprä-chen mit der Geschäftsleitung und der Personalvertretung davon überzeugt, dass er eine Chance bekommen würde, »Arbeitsstätten besonderer Qualität zu schaffen«.541

536 Fritz Hahne: Architektur im Unternehmen, interner Vermerk v. 11.6.1985, in: Ordner SO2153 Dokumente 1979–1995, a. a. O.; vgl. Schwarz 2000, S. 166.

537 Ob für die Architektenwahl von Fritz Hahne die ökologische Kompetenz, die optische Attraktion der Körper- und Raumformen der Bauten oder sein Bekanntheitsgrad tatsächlich im Vordergrund gestanden hat, muss offenbleiben.

538 Eine Äußerung Ottos zur Anpassungsfähigkeit von Industriebauten lag knapp 30 Jahre zurück.

In der 1. Mitteilung der Entwicklungsstätte für den Leichtbau sind zwei Entwurfsarbeiten 1946–57 aufgeführt: Nr. 7 Anlage für die Schwerindustrie, Nr. 30 Große Industriehallenüberdachungen mit drei pneumatischen Kuppeln von je 200 m Durchmesser (Frei Otto: 1. Mitteilung der Entwick-lungsstätte für den Leichtbau vom Januar 1958. Das Programm der EntwickEntwick-lungsstätte für den Leichtbau, Berlin 1958, S. 1/15).

539 Fürsprecher könnte der Wilkhahn-Mitarbeiter Hans Peter Piehl gewesen sein, der als Innenar-chitekt zeitweise Mitarbeiter von Otto war (Wilkhahn (Hg.): Dokumente der Gestaltung, 3. Auflage, Bad Münder 1991, S. 26).

540 Frei Otto, zit. n. Anonym 1989f: Industriefertigung im Pavillon, in: Architektur + Natur, Bau-kultur morgen: Deubau ’87, hg. von: Bund Deutscher Architekten/et al., Bonn/Hamburg 1989, S. 86–88 (86f.).

541 Ebd.

Grundlage für die Entscheidung von Wilkhahn für ein Projekt dieser Größenord-nung war die langfristige Umsatzerwartung, die durch den Erfolg des Büromöbel-programms FS-Linie fundiert wurde. Im Bericht über das Geschäftsjahr 1984 heißt es:

»[...] wir [sehen] uns vor einem neuen Abschnitt unserer Entwicklung und damit vor der Notwendigkeit, auch die technischen Kapazitäten den künftigen Erforder-nissen anzupassen. Zu diesem Zweck soll in den nächsten 3 bis 5 Jahren ein zu-sätzliches Investitionsprogramm für Neubauten und Anlagenerweiterungen stu-fenweise realisiert werden. Dabei wollen wir ein Zeitzeugnis der modernen Indust-riearchitektur schaffen. Für die Generalplanung wurde Professor Frei Otto (Stutt-gart) gewonnen. [...] Soziale und ökologische Aspekte sollen neben den betriebs-wirtschaftlichen Erfordernissen gleichrangig Eingang in die Planung finden.«542

Hahne hat ausdrücklich keine eigene gestalterische Vorstellung für die Erweiterung entwickelt, aber den Entschluss gefasst, den ästhetisch anspruchslosen Hallen der 1960er-Jahre eine vorzeigbare Architektur entgegenzusetzen. In Frei Otto sah er den Garanten für die Erfüllung dieser Ansprüche.

Philip Drew hat Otto als »technologischen Grenzgänger«, als eine »Mischung von Architekt, Ingenieur und technischem Erfinder« charakterisiert.543 Er sah ihn als einen der Vertreter der dritten Generation der Architekten der Moderne des 20. Jahrhunderts an, die die rein mechanische Interpretation des Funktionalismus und seine ästhetische Reduzierung überwunden hat.544 Drew meinte, Otto gehe in seiner Suche nach »strukturaler Wirtschaftlichkeit« oder der optimalen Form eines Bauwerkes davon aus, dass die Funktion oder der Nutzungszweck die Form nicht determiniere.545 Die Formen seiner hängenden Konstruktionen und gespannten Häute hat er in Kenntnis der Flächenspannungen und des Kräfteverlaufs in den stützenden und zugbeanspruchten Bauteilen an Modellen gesucht. Drew betont, dass Frei Otto in den Gesprächen mit ihm wiederholt auf seine Formensuche

542 Wilkhahn: Bericht über das Geschäftsjahr 1984, Beilage zu: Der Wilkhahn 3, Mai 1985, o. P.

Zum Zeitpunkt des Erscheinens lag die Entwicklungsstudie von Frei Otto noch nicht vor.

543 Drew 1972, S. 114; vgl. Otto 1984, S. 61.

544 Drew 1972, S. 34f. (a) Siegfried Giedion hat den Begriff »dritte Generation« 1965 in der 3. Auf-lage seines Standardwerkes »Raum, Zeit, Architektur« eingeführt und ihn mit verschiedenen Symptomen verknüpft, u. a. der Beachtung einer gegebenen Situation und einer Verstärkung plasti-scher Tendenzen (vgl. Siegfried Giedion: Raum, Zeit, Architektur: die Entstehung einer neuen Tra-dition, (engl. Originalausgabe 1941), Zürich 1976 (= Studio-Paperback)). (b) Joedicke spricht nicht von einer dritten Generation, sondern stellt unterschiedliche Tendenzen und Strömungen in der Architektur nach 1950 dar, die sich von der Moderne absetzen (Jürgen Joedicke: Architektur im Umbruch: Geschichte, Entwicklung, Ausblick, überarb. Neuaufl., Stuttgart 1980 (= Archpaper – Edition Krämer)).

545 Drew 1972, S. 39; vgl. ebd., S. 34.

hingewiesen habe. Ihn habe das Entstehen von Formen hängender Konstruktionen fasziniert, die mit einem Minimum an Material von »großer Klarheit und bestechen-der Schönheit« geprägt sind.546 Drew bestätigt die hohe Anmut vieler seiner Bau-werke, die deren Komplexität verberge und zu beweisen scheine, dass Spannung schön ist.547 Eine Zuordnung seines Werkes zur Nachkriegsmoderne in der Nach-folge der Protagonisten des Neuen Bauens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbietet sich, sieht man von Ausnahmen wie seinen Wohnungsbauprojekten in den 1950er-Jahren ab.548 Otto ist ein Vorreiter des Leichtbaus und des ökologischen Bauens. Die Bezeichnung seiner Bauten als biomorph und ihre Vereinnahmung als Beispiele der Bionik sind irreführend. Er selbst hat diese Begriffe nicht in Anspruch genommen und sich vom Prinzip der Übernahme von biologischen Strukturen in der Technik distanziert. Otto erklärte in einem Interview mit Rudolf Finsterwalder:

»Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass sich zwar bei manchen meiner Leichtbauten formale Analogien zu Objekten der lebenden Natur aufdrängen, dass sie aber ohne Vorbild entwickelt und Ähnlichkeiten in der Natur erst nachträglich festgestellt wurden.«549