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Diplomarbeit. zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie. an der Karl-Franzens-Universität Graz.

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Österreichische Auswanderung in die USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Gernot H OFER

am Institut für Geschichte

Begutachterin:

Ao.Univ.-Prof. Dr.phil. Karin Maria Schmidlechner-Lienhart

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Seite | 2

D A N K S A G U N G

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Menschen bedanken, die mir über die gesamte Dauer meiner universitären Laufbahn

stets zur Seite gestanden haben.

Ein besonderer Dank gilt meiner Familie:

Liebe Mama, lieber Papa, liebe Kathi, ihr habt mir stets Zuversicht gegeben und mich insbesondere in turbulenten Zeiten oftmals vor vielen Lasten des Alltags bewahrt. Ebenso sei meiner

einzigartigen Freundin gedankt, die stets Verständnis aufzubringen und immer als Stütze zu fungieren vermochte.

Auch den Schwiegereltern in spe gilt ein besonderer Dank für ihre tatkräftige Unterstützung.

Allen FreundInnen und KollegInnen im Studium und im Beruf möchte ich danken, die den Weg mit zahlreichen

unvergesslichen Momenten und Erinnerungen gespickt haben.

Für die Betreuung bei der Erstellung dieser Diplomarbeit sowie für die überaus nette Zusammenarbeit im Zuge mehrerer Lehrveranstaltungen möchte ich mich herzlich bei Frau Professor

Schmidlechner bedanken. Es ist mir eine Ehre, meinem Studienabschluss nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung einer

wahren Koryphäe im Gebiet der Migrationsforschung einen würdevollen Rahmen zu verleihen.

(3)

Seite | 3

Eidesstaatliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Stainz, am ………… …….………..…..

Gernot Hofer

(4)

Seite | 4

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ... 6

1. Theoretischer Teil ... 8

1. 1 Allgemein ... 8

1.2 Typologien der Migration ... 12

1.3 Migrationsregime ... 16

1.4 Traditionelle Paradigmen und Moderne Zugänge ... 19

1.5 Klassische Migrationstheorien ... 22

1.5.1 Bevölkerungsgeographische Ansätze ... 22

1.5.2 Neoklassische Migrationstheorien ... 23

1.5.3 Die Push- und Pull-Faktoren: Österreich und die USA ... 25

1.5.4 Weltsystemtheorie ... 28

1.5.5 Theorie des dualen Arbeitsmarktes ... 28

1.5.6 Kritische Betrachtung ökonomischer Ansätze ... 29

1.6 Neue Ansätze der Migrationsforschung ... 30

1.6.1 Transnationalismus ... 30

1.6.2 Soziale Netzwerke ... 32

1.6.3 Soziales Kapital ... 33

1.6.4 Feminisierung der Migration ... 34

2. Österreichische Auswanderung in die USA ... 37

2.1 Auswanderungsland Österreich ... 37

2.2 Einwanderungsland USA ... 46

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Seite | 5

2.3 Rechtlicher Rahmen und Restriktionen ... 50

2.3.1 Österreich ... 50

2.3.2 Vereinigte Staaten von Amerika ... 53

2.3.3 Die Dillingham Commission ... 56

2.3 Die Amerikareise um 1900 ... 59

2.3.1 Agenten ... 63

2.4 Auswirkungen der Wanderung ... 66

2.5 Der Alltag in der neuen Heimat ... 68

2.5.1 The American Dream – Mythos oder Realität? ... 71

3. Fallbeispiel: Johann Hofer ... 75

3.2 Jahrzehnte der Suche ... 79

3.3 AuswanderInnenbriefe als Quelle ... 86

3.4 Der Briefverkehr ... 88

3.4.1 Brief Johann Hofers (1922) ... 89

3.4.2 Brief Johann Hofers (1929) ... 91

3.4.3 Antwort August Hofers (1930) ... 94

3.5 Interview mit Kris Hoffer ... 100

3.5.1 Das qualitative Interview... 100

3.5.2 Setting ... 101

3.5.3 Das Gespräch ... 102

Conclusio ... 106

Literaturverzeichnis ... 110

Onlineverzeichnis ... 117

Abbildungsverzeichnis ... 119

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Seite | 6

Einleitung

Migration bedeutet Menschheitsgeschichte. Heute wie damals ist der politische Diskurs hiervon geprägt. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Erschließung neuer Verkehrswege sowie neuen Reisemöglichkeiten beginnen erstmals Massenauswanderungen aus Europa nach Übersee. Beliebtestes Ziel solcher transkontinentalen Emigration stellten die Vereinigten Staaten von Amerika dar – das Land der (vermeintlich) unbegrenzten Möglichkeiten. Eine in den USA durchgeführte Volkszählung ergab, dass um 1910 sogar 8,7 Prozent der US-Bevölkerung im weiteren Sinne österreichischer Herkunft entstammen1 bzw.

österreichische Vorfahren aufweisen, deren ausgewanderte Nachkommen zumeist allerdings als Deutsche, Böhmen oder Slawen gehandelt wurden.

Ziel dieser Arbeit ist der Vergleich theoretischer Erkenntnisse der facettenreichen Migrationsforschung mit dem Fallbeispiel der Familie Hofer und allgemeine Erklärungsansätze hinsichtlich Motive und Lebensbedingungen auf der Makro-Ebene einem individuellen Einzelschicksal auf der Mikro-Ebene gegenüberzustellen. Ferner soll anhand des Fallbeispiels exemplifiziert werden, dass sich AuswanderInnen mehrheitlich äußerst schwierigen Lebensbedingungen – konträr zu Vorstellungen und Erwartungen vieler in Österreich bzw.

Europa – konfrontiert sahen und dass der American Dream sich in der Regel nicht wie angedacht – oftmals aufgrund übertrieben positiver Schilderung oder durch Bewerbung der Auswanderung seitens entsprechender Agenten – zu erfüllen vermochte.2 Es sind unter anderem ebenjene unrealistischen Erwartungen, weswegen Emigration in die Vereinigten Staaten vielfach scheiterte oder sich allgemeine Lebensbedingungen, wenn überhaupt, im Vergleich zu Österreich nur marginal verbesserten und es harter Arbeit bedurfte, um sich in der neuen Heimat eine Existenz zu sichern. Ferner wird sich im Interview mit Kris Hoffer der Frage gewidmet, weswegen – im Vergleich zu anderen Einwanderungsländern – sich trotz des Umstandes, dass

1 BEDNAR Kurt, Österreichische Auswanderung in die USA 1900 – 1930. Ungedr. phil. Diss. Wien 2012. S.

44.

2 Ebenda, S. 36–37 .

(7)

Seite | 7 Österreich vor allem zwischen 1900 und 1910 eines der bedeutsamsten Ursprungsländer darstellte,3 nie eine ausgeprägte, österreichische Identität in den USA entwickelte.

Thematisch wird die vorliegende Arbeit in drei Kapitel unterteilt: Im ersten Kapitel wird der Versuch unternommen, einen Überblick über zentrale Punkte der überaus komplexen Theorie, die Migrationsforschung zugrunde liegt, zu verschaffen, klassische Paradigmen mit modernen Ansätzen zu konfrontieren und der Thematik inhärente Problemstellungen zu eruieren. Im zweiten Kapitel werden allgemeine Grundlagen hinsichtlich der Motive für die vonstattengehende Massenbewegung, die Lebens-, Arbeits- und Überfahrtbedingungen sowie die Migrationsbewegungen unter dem Gesichtspunkt der österreichischen Auswanderung in die USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht, wobei Bezugnahmen zum 19. Jahrhundert unerlässlich sind. Zum Zwecke einer Analyse bezieht sich diese Arbeit im zweiten Abschnitt des Öfteren auf Angaben der Dillingham Reports.4 Dabei gilt zu beachten, dass über die in den Reports vorkommenden Statistiken durchaus Kontroversen herrschen; einerseits ob der enden wollenden Möglichkeiten der Überprüfbarkeit und andererseits aufgrund der politischen Intentionen, die freilich an jene Reports gekoppelt wurden. In der Forschung werden allerdings sämtliche verfügbaren Statistiken sowie die gesamte Datenlage der in dieser Phase stattfindenden US-Migration überaus kritisch beäugt und als unvollständig und ungenau erachtet, weswegen der Akkuratesse jener nicht das Hauptaugenmerk gilt, vielmehr aber deren politische Auswirkungen und öffentliche Wahrnehmung. Das letzte Kapitel stellt eine empirische Untersuchung auf der Mikro-Ebene anhand des vorliegenden Fallbeispiels dar.

Als Fallbeispiel fungiert Johann Hofer bzw. die eigene, ereignisreiche und überaus spannende Familiengeschichte des Verfassers, an welcher erstmals Grundlagenforschung betrieben und die unter Zuhilfenahme zahlreicher Originaldokumente analysiert und der Wanderungsverlauf rekonstruiert wird. Dabei stellen insbesondere Briefwechsel in Bezug auf ökonomische Aspekte sowie den Lebensbedingungen in Österreich und der neuen Heimat, den USA, eine überaus wertvolle Quelle dar. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einem Interview mit einem direkten Nachfahren Johann Hofers, Kris Hoffer, der über viele Jahre

3 NEYER Gerda, Auswanderung aus Österreich: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In:

Demographische Informationen (1995/96), S. 60–62.

4 Die vollständigen Reports sind im Online-Archiv der Harvard University abrufbar.

Harvard University Library Open Collection Programm. [online]

http://ocp.hul.harvard.edu/immigration/dillingham.html (abgerufen am 29. September 2016)

Die vorliegende Arbeit bezieht sich allen voran auf Untersuchungen der Reports von Kurt Bednar (2012) und Willi Paul Adams (2008).

(8)

Seite | 8 hinweg in der insgesamt jahrzehntelangen Ahnenforschung seines Vaters, Rodney Hoffer, involviert war und dem letztlich ein erfolgreicher Abschluss dieser Suche gelang.

1. Theoretischer Teil

Jedwede Untersuchung von Migrationsbewegungen fußt auf einem reichen Fundus an theoretischen Erkenntnissen der Migrationsforschung, die eine schier unbegrenzte Anzahl an verschiedenen Ansätzen und Perspektiven vor allem in den vergangenen Jahrzehnten eröffnet.5 Diesbezüglich stehen klassische modernen Betrachtungsweisen gegenüber; die Wissenschaft vollzog einen Schwenk hin zu vermehrten Untersuchungen auf der Mikro-Ebene, also die Analyse einzelner Schicksale oder Familien, um Annahmen, die sich aus der Gesamtheit von Wanderungsbewegungen, beispielsweise in Form von Statistiken, ergeben, zu hinterfragen oder zu bestätigen. Es bedarf die Verwendung vieler verschiedener Methoden, um jedwede Wanderung adäquat untersuchen zu können. Im Zuge dieser Arbeit soll insbesondere aufgezeigt werden, dass die Mikro-Ebene als Analysegrundlage, wie am Beispiel von Johann Hofer, eine ausgesprochen hohe Signifikanz aufweist, um Ursachen für bzw. wider eine Wanderung erklären zu können, die oftmals Ergebnisse auf der Makro-Ebene durchaus zu konterkarieren vermögen.

1. 1 Allgemein

Migration (lat. migrare = „den Ort wechseln“, „wegziehen“), also die räumliche Bevölkerungsbewegung sowohl über Staatsgrenzen hinweg als auch innerhalb solcher,6 liegt neben Flucht, Vertreibung oder Armut in der Regel die Absicht zu Grunde, eine Besserstellung der eigenen Lebensbedingungen herbeizuführen. Hinzu kommen individuelle und soziale Gründe wie Bildungsmöglichkeiten, persönliche Entfaltung und das Zusammenführen von

5 KALTER Frank, Theorien der Migration. In: Andreas Dieckmann / Ulrich Müller / Bernhad Jauk (Hgg.),

Handbuch der Demographie 1. Berlin et al. 2000. S. 438.

6 HOERDER Dirk, LUCASSEN Jan, LUCASSEN Leo, Terminologien und Konzepte in der

Migrationsforschung. In: Klaus Bade et al. (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa: vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn / Wien 2008. S. 36.

(9)

Seite | 9 Familien oder Paaren; Migration vermag demnach auch Ursache weiterer Migration zu sein.

Moderne Verkehrs- und Medienvernetzung stellen dabei heute einen begünstigenden Faktor dar. Schätzungen zufolge leben gegenwärtig mindestens 214 Millionen Menschen fernab ihres Herkunfs- bzw. Geburtslandes. Erwähnenswert erscheint der Umstand, dass sich seit den 1960er Jahren die Zahl internationaler MigrantInnen zwar verdoppelt hat, diese aber in Relation zur globalen Gesamtbevölkerung mit 3,1 Prozent dennoch eine Stagnation erfährt.7 Im Folgenden sollen anhand klassischer Migrationstheorie sowie neuen Ansätzen in der Migrationsforschung diesem Forschungsbereich inhärente Problemstellungen exemplifiziert werden.

Die noch als junge Disziplin geltende Migrationsforschung entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten, allen voran seit den 1980er Jahren, zu einem weitreichenden, ausdifferenzierten Forschungsfeld,8 das zuvor durch simplifizierte Vorstellungen dem komplexen Wanderungsprozess unzureichend Rechnung trug. Zahlreiche neue Konzepte, Ansätze, Fragestellungen, Definitionen, Formatierungen verschiedener Typologien und systematische Zusammenhänge, die Niederlassungs- und Integrationsprozesse auch dann in Analysen inkludieren, wenn es sich um temporäre Ansässigkeit im Zielland handelt und eine entsprechende Rückkehr stattfindet, sowie die Erstellung von Prognosen entstanden im Zuge einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung.9

Dabei sieht sich die Migrationsforschung mit der Problematik resultierend aus sich ständig wandelnden Bedeutungen, veränderter Konventionen der Verwaltung, der Erfassung und der Bezeichnung von Migrationsbewegungen konfrontiert, wodurch Analysen der immer komplexer gewordenen globalen Zusammenhänge von Migration und des oftmals an die Forschung gerichteten Wunsches nach Erstellung etwaiger Vorhersagen um ein Vielfaches erschwert werden.10 Angesichts der Thematik innewohnenden, überwältigenden Komplexität können Definitionen ohnehin nur temporäre Gültigkeit ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit erlangen. Versuche, die Erfassung von Migration zu standardisieren, werden

7 LUTZ Helma, Geschlechterverhältnisse und Migration. Einführung in den Stand der Diskussion. In: Anna Amelina, Helma Lutz (Hgg.), Gender. Migration. Transnationalisierung. Eine intersektionelle Einführung.

Bielefeld 2017. S. 30.

8 WADAUER Sigrid, Historische Migrationsforschung. Überlegungen zu Möglichkeiten und Hindernissen. In:

ÖZG 19 (2008) 1, 6.

9 Hoerder et al., S. 28.

10 Wadauer, S. 7.

(10)

Seite | 10 zudem von den divergierenden Praktiken der jeweiligen Nationalstaaten konterkariert.11 Eine gänzlich kohärente Migrationstheorie ist somit gleichermaßen wenig existent wie eine einheitliche Definition von Migration.12 Die Erforschung von Migration ermöglicht jedoch spezifische Erklärungen historischer Entwicklungen in modernen Gesellschaften und Staaten.13

Neben zahlreichen neuen Ansätzen und Konzepten ist es auch die räumliche Perspektive, die in der Forschung einem erheblichen Wandel unterlag. Die Untersuchung europäischer Migrationsgeschichte wird heute in der Regel in einen globalen Kontext gestellt, anstatt diese wie zuvor in separate, lokale, interne oder transatlantische Aspekte zu gliedern.14 Dabei gilt festzuhalten, dass Europa vor allem in puncto Mobilität Besonderheiten aufweist:

Durch starken Bevölkerungszuwachs sowie hoher Siedlungsdichte standen – im Gegensatz zu anderen Weltregionen wie Nord- und Südamerika oder Asien – im näheren Umfeld kaum weitreichende, unbesiedelte Flächen, die zu bewirtschaften hohen Profit in Aussicht gestellt hätten, zur Verfügung. So liegt europäischer Migrationsgeschichte traditionell nicht nur eine äußerst hohe innere räumliche Mobilität zugrunde, wie beispielsweise im Zuge der Wiederbesiedlung ganzer Regionen nach dem verlustreichen Dreißigjährigen Krieg, sondern im weiteren Verlauf ebenfalls eine hohe Mobilität hinsichtlich transkontinentaler Wanderung, insbesondere in jeweilige Kolonien sowie in Richtung Neue Welt. Zwischen 1820 und 1930 emigrierten in etwa 55 Millionen Menschen aus Europa. 15

Zur Erschließung neuer Transportwege ebenso wie für Verbesserungen in der Infrastruktur bedurfte es zumindest temporär einer enormen Anzahl an Arbeitskräften. Darüber hinaus erlaubte technologischer, industrieller Fortschritt die Unterteilung von Arbeit in immer kleinere Fertigungsschritte und erforderte in Folge die Beschäftigung massenhaft unqualifizierter Arbeitskräfte, wobei in vielen Industriezweigen auch Frauen eingesetzt wurden. Die in den Industriezentren des 19. Jahrhunderts entstandene hohe Nachfrage an Arbeitskräften wurde allen voran von MigrantInnen aus der Peripherie Europas gestillt. Das sich explosionsartig expandierende Schienennetzwerk – lag die Länge ebenjenes 1831 noch bei

11 DÜVELL Franck, Europäische und internationale Migration. Einführung in historische, soziologische und politische Analysen. Hamburg 2006. S. 6.

12 Ebenda, S. 5.

13 ESCH Michael, PAUTRUS Patrice, Zeitgeschichte und Migrationsforschung. In: Zeithistorische Forschungen 2 (2005) 3, S. 338-344.

14 Hoerder et al., S. 28.

15 Ebenda, S. 29.

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Seite | 11 330 Kilometern, wuchs dieses bis 1876 auf etwa 300.000 Kilometer – vermochte Migration daher maßgeblich zu beeinflussen. Einerseits schuf die Schaffung selbst einen enormen Bedarf an ArbeitsmigrantInnen, andererseits begünstigte der Ausbau in hohem Maße die innereuropäische Mobilität und machte derartige Migrationsbewegungen häufig überhaupt erst möglich. Auch transkontinentale Wanderungen, insbesondere in die USA, erfuhren dadurch einen massiven Aufschwung, waren etwaige Abfahrtshafen in Folge naturgemäß um ein Vielfaches einfacher zu erreichen.16 Trotz der starken transatlantischen Auswanderung war die enorme Binnenwanderung allerdings stets von deutlich höherer Anzahl.17

Dennoch stellte Migration, allen voran Nationen überschreitende, ob etwaiger Barrieren in vielen Fällen zwar ein hinsichtlich Besserstellung der eigenen Lebensbedingungen vielversprechendes, aber durchaus auch risikobehaftetes Unterfangen dar. So vermochte staatliches Interesse an einer Regulierung der Auswanderung eine schwierige Gesetzeslage vor dem Hintergrund voranzutreiben, beispielsweise Abwanderung von Militärpflichtigen, potenziellen, oftmals dringend benötigten Arbeitskräften in Familienbetrieben oder eine Erhöhung von Soziallasten, die das Zurücklassen hilfsbedürftiger Angehöriger mit sich bringen könnte, zu verhindern bzw. einzuschränken. Ferner oblag Auswanderung häufig mitunter geschlechterspezifischen oder sozialen Einschränkungen wie beispielsweise einem Verbot für Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen. Darüber hinaus war es vielfach die angedachte Route selbst, die MigrantInnen vor zahlreiche Probleme stellen konnte. Die Bewältigung einer wochenlangen Reise in unbekannte Regionen, nicht selten verbunden mit vermuteten oder realen Gefahren, die zudem selbst bei Gebrauch billiger Transportmöglichkeiten durchaus sehr kostspielig war, ging naturgemäß mit einem vorübergehend Lohnentgang während der gesamten Dauer der Wanderung einher. Geldreserven, die eigentlich für die Etablierung einer neuen Existenz im Zielland beabsichtig waren, wurden daher häufig bereits während der Reise strapaziert oder gar weit über das eigentlichen Vorhaben hinaus aufgebraucht; viele wanderungswillige Menschen konnten hingegen solch erforderliche Reserven bereits im Vorfeld gar nicht erst aufbringen. In Anbetracht der daraus resultierenden monetären Hindernisse fanden Wanderungsprozesse folglich oftmals in Etappen statt – beispielsweise von einer größeren Stadt in die nächste, in der man durch Lohnarbeit die Kosten für weitere Schritte erwarb, bis schließlich das angedachte Wanderungsziel erreicht werden konnte. Anwerbung

16 Hoerder et al., S. 28–30.

17 HAHN Sylvia, Historische Migrationsforschung. Frankfurt / New York 2012. S. 22.

(12)

Seite | 12 von MigrantInnen ausgehend vom Zielland und die Entwicklung von Wanderungsketten und internationalen Migrationsnetzwerken förderte hingegen die Direktwanderung, die so dennoch – vor allem in Bezug auf transatlantische Migration – am gewichtigsten erscheint. Außerdem schufen vorausgewanderte Familienmitglieder in vielen Fällen eine gewisse existentielle Sicherheit im Zielland für die Nachkommenden. Wenig überraschend waren ebenjene daher in überwältigendem Ausmaß primäre Anlaufstelle: 94 Prozent aller um 1900 von Europa nach Nordamerika ausgewanderten Menschen wählten Verwandte oder Bekannte als Ziel ihrer Reise bzw. Etappe.18

1.2 Typologien der Migration

Als Pionier der Migrationsforschung gilt Ernst Ravenstein, der im Jahr 1885 mit seinem Werk Laws of migration versuchte, Wanderungstypologien zu erstellen. Dabei unterteilte er MigrantInnen nach zeitlichen und räumlichen Dimensionen in die folgenden fünf Gruppen:

• Regionale MigrantInnen

• KurzstreckenmigrantInnen

• LangstreckenmigrantInnen

• EtappenmigrantInnen

• Temporäre MigrantInnen19

Diese Kategorisierung findet bis heute in der Migrationsforschung Anwendung. Daneben klassifizierten Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie Migration ihrerseits in ältere Wanderung, die Staatsangelegenheit waren und deren neuere, in der Wanderung individuell und nicht mehr staatlich initiiert vonstattenging. Dabei wurde weiters zwischen innerer und äußerer Wanderung unterschieden, also zwischen Binnenmigration und solcher, in der Staatsgrenzen überschritten werden. Seitens der Soziologie wurde später durch Rudolf Heberle der Gesichtspunkt der (Un-)Freiwilligkeit inkludiert. Ihm zufolge beziehe sich Ravenstein lediglich auf freiwillige Wanderung und lässt unfreiwillige zur Gänze außen vor.

Heberle definierte neben freiwilliger und unfreiwilliger Migration auch halbfreiwillige

18 Hoerder et al., S. 34–38.

19 Hahn, S. 27.

(13)

Seite | 13 Wanderung und integrierte diese Begriffe in den Diskurs der Migrationsforschung. Demzufolge sei beispielsweise Arbeitsmigration freiwillig; neben Flucht, Massenumsiedlung und Vertreibung gelte aber auch jedwede politisch oder religiös motivierte Migration als unfreiwillig.20 Eine Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration ist jedoch in der Praxis schwer nachzuvollziehen, da Migration zumeist auf gewissen Zwängen basiere. Sehr wohl lässt sich allerdings differenzieren, ob MigrantInnen aus freiem Willen, beispielsweise ob beschränkter Möglichkeiten, migrieren oder aufgrund bevorstehender oder bereits existenter Gefahr, etwa durch Konflikte oder Verarmung, zur Abwanderung gezwungen werden. Innerhalb der unfreiwilligen Migration ist wiederum zwischen zwei Kategorien zu unterscheiden: solche, in der MigrantInnen das angestrebte Ziel selbst auswählen können wie Flüchtlinge, die Entscheidungsgewalt über Weg und Ziel haben oder Vertriebene, denen jedwede Entscheidungsmöglichkeit fehlt.21

Der deutsche Historiker Wolfgang Köllmann unterschied in den 1960er Jahren indes zwischen Motivation, Anlass, Form und Ziel. Wanderungsbewegungen seien Köllmann zufolge insbesondere ökonomischen und sozialen Aspekten im Auswanderungsland geschuldet, während MigrantInnen das Ziel betreffend insofern flexibler sind, als dass lediglich der jeweilige Kenntnisstand hinsichtlich der möglichen Besserstellung der eigenen Lebensbedingungen jenes bestimmt.22 Zu Beginn der 1990er Jahre war es schließlich der US- amerikanische Politologe, Historiker und Soziologe Charles Tilly, der die hohe Signifikanz von Migrationsnetzwerken in den Fokus rückte und wiederum fünf Migrationstypen wie folgt definierte: kolonialisierende Migration, erzwungene Migration, Migrationskreisläufe und Kettenmigration sowie Karrieremigration, wobei stets eine Überlappung verschiedener Typen naheliegt.23 Tilly unterscheidet zudem zwei Typen von Migrationsnetzwerken; einerseits solche, die den MigrantInnen bei der Ankunft hinsichtlich Beruf, Unterkunft und/oder sozialer Etablierung dienlich und als allgemein die Migration fördernd zu betrachten sind sowie andererseits Netzwerke, die in der Lage sind, soziale Ungleichheiten durch Ausbeutung innerhalb der MigrantInnen zu schaffen bzw. zu intensivieren, was auf der Annahme beruht, dass diese in der Regel davor zurückschrecken, Einheimische in der neuen Heimat auszubeuten

20 Hahn, S. 27–28.

21 Hoerder et al., S. 36.

22 Hahn, S. 28–29.

23 HAUG Sonja, Soziales Kapital und Kettenmigration. In: Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung 31 (2000), 22–49.

(14)

Seite | 14 und daher andere MigrantInnen als diesbezügliches Ziel präferieren. Tillys Theorie der Migrationsnetzwerke weist in der Migrationsforschung seit den 1980er Jahren eine starke Präsenz auf und hat sich in zahlreichen Studien empirisch bewährt.24

In der renommierten „Enzyklopädie Migration in Europa“ (Bade, 2008), hinsichtlich Migrationsforschung als Standardnachschlagewerk geltend und auch für dieses Kapitel in vielfacher Hinsicht Grundlage, werden Typologien der Migration wie folgt differenziert:

• Nach dem Motiv: unterschieden wird in diesem Zusammenhang zwischen erzwungener Migration, und Migration resultierend aus wirtschaftlichen oder kulturellen Gründen

• Nach der Distanz: lokale, regionale und internationale Migration

• Nach der Richtung: Unterscheidung zwischen einfacher oder mehrfacher Hin- und Rückwanderung

• Nach der Dauer: saisonal, mehrjährig oder dauerhaft

• Nach dem sozio-ökonomischen Raum: Stadt, Land und Kolonie

• Nach dem Wirtschaftssektor: primärer (Landwirtschaft), sekundärer (Produktion), tertiärer Wirtschaftssektor (Dienstleistung) sowie Elite 25

Migration im europäischen Kontext ist einerseits von innereuropäischer Arbeitsmigration, andererseits von Vertreibung und Flucht sowie transatlantischen Massenauswanderungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Kolonien sowie in die Neue Welt geprägt. Während in der jüngeren Vergangenheit Europa zunehmend als Ziel von Wanderungsbewegungen erfahren wird, seien Schätzungen zufolge zwischen der Mitte des 19. und dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts etwa 50 bis 60 Millionen Menschen aus Europa emigriert, wovon nur etwa 25 Prozent wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrten.26 Migration ist jedoch in keiner Weise lediglich als Phänomen der Moderne wahrzunehmen; vielmehr sei Migration als Teil einer conditio humana zu verstehen, die den Homo sapiens seit jeher begleitet und gar charakterisiert.

Menschheitsgeschichte ist demnach stets sehr eng mit Migrationsgeschichte verflochten.27

24 Hahn, S. 28–29.

25 Hoerder et al., S. 37.

26 PROKLA-Redaktion, Editorial: Migration. In: Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 35 (2005) 140/3, 320.

27 Wadauer, S. 9.

(15)

Seite | 15 Auch ist Migration keineswegs lediglich auf Hochlohnstaaten beschränkt, sondern folgt oftmals eigenen Dynamiken.28 Der Prozess einer solchen Wanderung kann zudem mitunter ein langwieriger, über Jahre dauernder sein. Die „Enzyklopädie Migration in Europa“ definiert dabei drei Phasen:

1. Die erste Phase bezieht sich auf eine gewisse Bereitschaft zur Auswanderung, die letztlich in einem konkreten Beschluss hierfür resultiert.

2. Die zweite Phase umfasst die Reise der EmigrantInnen vom Ausgangsort zum Zielland.

3. In der dritten und letzten Phase steht die Integration in eine neue Gesellschaft im Mittelpunkt.29

In den USA bildeten europäische MigrantInnen – trotz bereits früher Aufmerksamkeit für ebenjene – kein eigenes Forschungsthema.30 Heute wird Migration hingegen von einem breiten Spektrum unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen große Bedeutung beigemessen.

Während sich die Ethnologie, Sozialpsychologie und die qualitative Soziologie vordergründig den Analysen „der Wirkungen von Migration auf soziale Strukturen von Gesellschaft, kulturelle[r] Phänomene und individuelle[r] Biographien“31 widmet und folglich Untersuchungen von Migrationsphänomenen aus der Mikroperspektive vorantreiben, beschäftigen sich Wirtschafts-, Rechtswissenschaften und Demographie „aus der quantitativen und Makro-Perspektive mit Fragen der Ursachen und Folgen menschlicher Mobilität bezüglich Ökonomie, Gesellschaft und Nation“.32 Die Migrationsforschung differenziert hierbei zwischen drei Ebenen, in welche Migrationsbewegungen bzw. die Perspektive auf solche klassifiziert werden:

1. Mikro-Ebene (z.B. Einzelschicksale, Gemeinde, Familie)

28 Düvell, S. 144.

29 Hoerder et al., S. 32.

30 DARIEVA Tsypylma, Migrationsforschung in der Ethnologie. S. 72. [online]

http://www.academia.edu/6748340/Ethnologie_und_Migrationsforschung_2007 (abgerufen am 06.09.2016)

31 Ebenda, S. 73.

32 Ebenda.

(16)

Seite | 16 2. Meso-Ebene (z.B. kulturelle, soziale und wirtschaftliche Räume)

3. Makro-Ebene (z.B. Gesetze, Generation, Altersgruppe, Geschlecht, Wirtschaftswachstum, Lohnniveau)33

Wenngleich der Blick häufig auf das große Ganze zielt und diesem die meiste Aufmerksamkeit zuteilwird, so ist es Forschung auf der Mikro-Ebene, die lange stiefmütterlich vernachlässigt wurde, aber allergrößte Signifikanz aufweist und als essenzieller Bestandteil der Migrationsforschung zu werten ist. Denn es obliegt der Mikro-Forschung, deren Ergebnisse problemlos auf der Makro-Ebene integriert und in einen globalen Kontext gestellt werden können, einerseits zahlreiche Aspekte wie geschlechterspezifische, regionale, soziale oder erwerbsmäßige Differenzierungen sichtbar zu machen, und andererseits den Forschungsstand der Makro-Ebene laufend zu hinterfragen, zu erweitern und zu umrahmen. Gegebenheiten der Makro-Ebene, zum Beispiel die Gesetzeslage, sowie deren Wahrnehmung und Auswirkung lassen sich anhand Untersuchungen von Einzelschicksalen konkretisieren und entsprechend thematisieren. Es bedarf daher einer ständigen Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Ebenen, Ansätzen und Perspektiven.34

1.3 Migrationsregime

Ob oder in welchem Ausmaß Gesellschaften vom jeweiligen Staat bzw. der jeweiligen Obrigkeit hinsichtlich räumlicher Mobilität gefördert oder behindert werden, ist stark von den dominierenden gesellschaftlichen Regeln, Normen und Wertesystemen abhängig, die „Umfang, Richtung und Form der geographischen Mobilität“35 dirigieren. Grundsätzlich gilt, dass sich feudale Gesellschaftstypen aufgrund der engen Bindungen negativ auf Migration auswirken, während liberale oder kapitalistische Gesellschaften räumliche Mobilität positiv beeinflussen oder gar erzwingen.36 Als Migrationsregime wird demnach ein „integriertes Handlungs- und Gestaltungsfeld“37 bezeichnet, das Migration betreffend maßgeblichen Einfluss auf die

33 Bednar, S. 100–101.

34 Hahn, S. 22.

35 Hoerder et al., S. 39.

36 Ebenda.

37 GRÜNDLER Jens, Migrationsregime vor Ort – lokale Migrationsregime. S. 1. [online]

https://www.h-net.org/reviews/showpdf.php?id=40814 (abgerufen am 13.02.2019)

(17)

Seite | 17 jeweilige Gesellschaft nimmt. Die Historische Migrationsforschung begann damit, solche Migrationsregime unter Berücksichtigung des lokalen Zusammenspiels zahlreicher Akteure, komplexer Strukturen und Handlungen, das dem Migrationsprozess inhärent ist, zu untersuchen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist zudem ohnehin geprägt von staatlichen Erfassungen räumlicher Bewegungen, liefern diesbezügliche Behörden und Institutionen oftmals erst die Basis in Form einer Datengrundlage für die Forschung. Zu beachten ist hierbei, wie im nachfolgenden Abschnitt anhand der Dillingham Reports sichtbar wird, dass die allgemeine, staatlich gerahmte Wahrnehmung38 von Migration und deren entsprechende Aufarbeitung fernab jeglicher migratorischer Realität zu sein und – heute wie damals – in vielfacher Hinsicht politischen Intentionen zu dienen vermag, und in weiterer Folge nicht selten das kollektive Bewusstsein Migration betreffend nachhaltig prägt. Trotz der Eigendynamik, die Wanderungsbewegungen charakterisieren und wie allen voran durch Forschung auf der Mikro- und Mesoebene sichtbar wird, dient die genauere Betrachtung der Migrationsregime dem Zweck, ebenjene Autonomie bzw. dessen Ausmaß zu präzisieren und zwischen spezifischen Migrationsformen, die im Kontext der jeweiligen Regime entspringen, unterscheiden zu können.39

In der historischen Betrachtung war Europa durch divergierende Migrationsregime gekennzeichnet. Die kleinen Republiken – beispielsweise Venedig oder die Niederlande – unterhielten liberale Migrationsregime; die stark urbanisierten Regionen stellten EinwandererInnen de facto keine Hindernisse in den Weg. Venedig bediente sich darüber hinaus vor allem in der Schiffsfahrt auch an Sklavenarbeit. Die fürstlichen Territorialstaaten wiesen dagegen massive Einschränkungen in deren Migrationspolitik auf, wurde die eigene Bevölkerung als wichtiger Wirtschaftsfaktor betrachtet. Europäische Großmächte wie die Habsburgermonarchie forcierten eine hohe innere Mobilität, um entsprechend Siedlungspolitik in speziellen Teilen deren Länder zu betreiben, in denen beispielsweise ein hoher Bedarf an Arbeitskräften bestand oder solchen Regionen, die es zu entwickeln galt. Selbiges trifft auf das Osmanische Reich zu, das zur wirtschaftlichen Entwicklung und Besiedlung weiter Teile des Reichs auch auf Zwangsmigration setzte, die durch Privilegierung dort, wo entsprechender

38 OLTMER Jochen, Migrationsregime vor Ort und lokales Aushandeln von Migration. Wiesbaden 2018. S. 2.

39 Hoerder et al., S. 40.

(18)

Seite | 18 Zuwachs äußerst erwünscht war, im weiteren Verlauf freiwillige Folgemigration initiieren sollte.40

Das 19. Jahrhundert war zwar von Nationalstaatenbildung geprägt, Diversität und hohe Mobilität, allen voran unter den Eliten, blieb jedoch de facto zur Gänze erhalten. Anstelle der Konfession als wichtigstes Merkmal, das zur Migration bewegt oder gar zwingt, trat nun allerdings die politische Überzeugung, wenngleich Religion hinsichtlich Identität und Gruppenbildung weiterhin eine dominante Rolle spielte. Bewegungen zur Demokratisierung auf der einen Seite und aristokratische Regime und reaktionäre Regierungen auf der anderen schufen ein angespanntes politisches, oftmals revolutionäres Klima, das politische Flucht, Zwang ins Exil, Ausschluss oder Zugehörigkeit bestimmte. Trotz des Entstehens von Nationalstaatsideologien sowie der Diskriminierung von Minderheiten bzw. der wirtschaftlichen und kulturellen Unterdrückung solcher herrschte zwischen 1850 und 1914 in der Regel relative Migrationsfreiheit.41

Im 20. Jahrhundert bedeuteten die beiden Weltkriege naturgemäß ein abruptes Ende (freiwilliger) grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen; dies gilt insbesondere für jedwede Überseemigration. Neben dem Zusammenbruch großer Imperien und der damit verbundenen Entstehung weiterer kleinerer Nationalstaaten, was vormalige Binnenwanderung nun in transnationale Migration verwandelte, ist das 20. Jahrhundert vor allem aufgrund einer stark steigenden staatlichen Lenkung und Regulierung der Migration von vorangegangenen Jahrhunderten zu unterscheiden. Die Entwicklung des Wohlfahrtstaates ging mit weitreichenden staatlichen Eingriffen in Wirtschaft, Arbeitsmarkt, sozialen Bereichen und Migration einher. Dies bedeutete in der Regel eine Einschränkung der Einwanderungsberechtigten, wobei sich zumeist an der jeweiligen Nationalität orientiert wurde, ob und in welchem Ausmaß Einwanderung toleriert wurde. Generell wurde Zuwanderung vor dem Hintergrund angezweifelter Assimilationsfähigkeit diverser Migrationsgruppen sowie des wirtschaftlichen Faktors des nationalen Wohlfahrtsstaates weitaus kritischer beäugt, als dies in den Epochen zuvor der Fall war. Mit den internationalen Flüchtlingskonventionen, beispielsweise der Genfer Konvention im Jahre 1951, die den Flüchtlingen mehr Schutz bot

40 Ebenda, S. 40–42.

41 Hoerder et al., S. 40–43.

(19)

Seite | 19 sowie der „Ausweitung des in sozialstaatliches Denken eingebetteten Gleichheitsprinzips“42 wurde staatliche Migrationssteuerung wiederum eingeschränkt.43

1.4 Traditionelle Paradigmen und Moderne Zugänge

Klassische Migrationstheorien beziehen sich bei der Behandlung von Migrationsbewegungen auf der Makroebene oder Migrationsentscheidungen auf der Mikro- Ebene überwiegend auf ökonomische Faktoren. Neuere Ansätze der Migrationsforschung stützen sich hingegen auf eine Vielzahl an Aspekten wie soziale Netzwerke, soziales Kapital oder kumulative Verursachung von Migration.44 Die zu den klassischen Theorien zählende makroökonomischen Ansätze orientiert sich an Merkmalen wie dem allgemeinen Wirtschaftswachstum oder Ungleichheiten zwischen Produktionsorten und Arbeitsmärkten.

Die makroökonomischen Theorien besagen, dass internationale Migration allen voran durch unterschiedliches Lohnniveau zwischen Staaten verursacht wird, Wanderungsbewegungen dieses jedoch wieder auszugleichen vermögen und sich infolgedessen Migration wieder verringert. Arbeitsmärkte zeichnen traditionellen Erklärungsmodellen zufolge primär für internationale Wanderungen verantwortlich und können durch Regulierungen ebenjener durch Staaten beeinflusst werden.45

Weitere Aspekte makroökonomischer Theorien sind Bodenpreise, Sozialstatus von Wohngebieten, Wohnungsnachfrage und -angebot. Die neoklassische mikroökonomische Theorie legt den Fokus hingegen auf das Individuum und dem Streben nach Maximierung des ökonomischen Nutzens. Der wesentliche Unterschied zur makroökonomischen Theorie liegt folglich in der Perspektive: Während bei makroökonomischen Theorien der Blick auf ökonomische Gegebenheiten in deren Gesamtheit forciert wird, stellen bei mikroökonomischen Theorien individuelle Einkünfte und die Ausstattung einzelner Personen mit Humankapital die Analyseeinheit dar.46

42 Ebenda, S. 44.

43 Ebenda, S. 43–44.

44 HAUG Sonja, Migrationstheorien und Migrationsforschung. Soziales Kapital und Kettenmigration.

Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung 31. Wiesbaden 2000. S. 22–49.

45 Ebenda, S. 27.

46 Ebenda, S. 28–30.

(20)

Seite | 20 Migration kann jedoch selten monokausal erklärt werden. Die vielseitigen Gründe für eine Wanderung sind häufig miteinander verflochten, sodass mitunter selbst eine klare Trennung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration, die in der Regel zudem einen breiten zeitlichen Rahmen umfasst, nicht zur Gänze möglich erscheint.47 Beschränkt sich die Ursachenforschung von Migration im Wesentlichen jedoch auf wirtschaftliche Faktoren bzw.

auf makroökonomische Erklärungsmodelle, wie es bei klassischen Ansätzen in der Regel der Fall ist, so wirft die Diskrepanz zwischen migrierender und Milliarden nicht-migrierender Menschen mit ähnlichen oder identen Lebensumständen Fragen auf. Es bedarf demnach eines breiten theoretischen Fundaments und einer komplexen Betrachtung, um die Frage nachzugehen, warum Menschen tatsächlich migrieren – und warum nicht. Der Trend führt daher weitestgehend zu einer Abwendung von traditionellen, undifferenzierten Push- und Pull- Modellen als alleinige Grundlage zur Erklärung von Migrationsprozessen und -entwicklungen, hin zu neuen disziplinären Perspektiven sowie der Forderung nach multi-, inter- und transdisziplinärer Methodik. Darüber hinaus gewinnt der zuvor sträflich vernachlässigte Aspekt Gender zunehmend an Signifikanz.48

Dasselbe trifft auf temporäre Migration zu, die in der Forschung lange Zeit ebenfalls kaum Beachtung fand. Es gilt jedoch zu beachten, dass Wanderungsabsichten und Wanderungsergebnisse mitunter stark divergieren. Einerseits konnten sich Intentionen von EmigrantInnen im Zuge des Migrationsprozesses von deren ursprünglichen deutlich unterscheiden und angedachte temporäre Migration zu dauerhafter Niederlassung führen. Auch ein vorzeitiges Ableben vermochte naturgemäß eine geplante Rückkehr zu verhindern;

insbesondere tropische Krankheiten in Kolonien zeichneten hierfür oftmals verantwortlich.

Andererseits scheiterte beabsichtigte permanente Auswanderung häufig und resultierte folglich wiederum in ungeplanter Rückwanderung. Diese dynamischen Wanderungsverläufe stellt die Migrationsforschung durchaus vor Schwierigkeiten, sind diese nämlich vor allem auf der Makro-Ebene kaum zu rekonstruieren.49

Neuere Ansätze in der Migrationsforschung unternehmen daher den Versuch, die sich wandelnden Gegebenheiten internationaler Migration, denen klassische Migrationstheorien häufig nur unzureichend Rechnung tragen, adäquat einzubeziehen. So sei vor allem

47 HAN Petrus, Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle – Fakten – Politische Konsequenzen – Perspektiven. 2. Erweiterte Aufl. Stuttgart 2005. S. 8

48 KRALER Albert, PARNREITER Christof, Migration theoretisieren. In: PROKLA (2005) 140/3, 327–328.

49 Hoerder et al., S. 38.

(21)

Seite | 21 transnationale Migration im Verlauf des 20. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht von früherer Migration zu unterscheiden. Dominierte – zumindest in der Forschung – zuvor noch eine unidirektionale internationale Migration, die häufig mit einem einmaligen Wohnortswechsel einherging, haben sich vielfältige Formen transnationaler Migration entwickelt, die auch in der theoretischen Auseinandersetzung Berücksichtigung erfuhren. Ein entscheidendes Merkmal hierbei stellen verschiedene Verbindungen zwischen der Herkunftsgesellschaft und Einreisegesellschaft dar, die durch sogenannte TransmigrantInnen erzeugt werden, die häufig zwischen mehreren Wohnorten pendeln50 und entgegen traditioneller Assoziationen eine zirkulierende Migration schaffen – also weder permanente noch temporäre MigrantInnen im eigentlichen Sinn darstellen.51

Neue Ansätze der transnationalen Migration besagen daher, „dass eine Entkoppelung von geographischem und sozialem Raum stattfindet, die zur Entstehung von transnationalen sozialen Räumen (häufig auch als transnationale communities bezeichnet) führt bzw.

beiträgt“.52 Ferner bilde ein reger Austausch von Informationen, Waren, Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen zwischen Staaten ein die Dynamik von Migrationsprozesse beeinflussendes Migrationssystem, das Ursprungs- und Zielnation verbindet, die es neben politischen, sozialen und demographischen Faktoren ebenfalls zu berücksichtigen gilt. Migration wird als dynamischer Prozess betrachtet, wobei geographische Distanz ob der voranschreitenden Mobilität seit dem 20. Jahrhundert eine immer geringere Bedeutung aufweist. Soziale Netzwerke auf der Meso-Ebene, ein wesentlicher Aspekt der Migrationssystemanalyse, vermögen eine Verbindung zwischen Makro- und Mikro-Ebene sowie zu den Ländern des Migrationssystems herzustellen. Persönliche Beziehungen zwischen MigrantInnen und Personen des Ursprungslandes können die Wahrscheinlichkeit weiterer internationaler Arbeitsmigration erhöhen und Migrationsflüsse aufrechterhalten, wenngleich einige Studien zu dem Ergebnis kamen, dass soziale Beziehungen nur selten das dominierende Motiv darstellen. Soziales Kapital sollte dennoch neben ökonomischem und kulturellem Kapital als wichtiger Aspekt für Migrationsentscheidungen wahrgenommen werden.53

50 Haug, S. 38–39.

51 BASCH Linda, GLICK SCHILLER Nina, SZANTON BLANC Cristina, Theorien zum Transnationalismus und zu Transmigranten. In: Petrus Han (Hg.), Theorien zur internationalen Migration. Stuttgart 2006. S. 150.

52 Haug, S. 41.

53 Ebenda, S. 41–46.

(22)

Seite | 22 Existierende Migrationstheorien sind überwiegend das Produkt unzähliger Ergebnisse der Migrationsforschung, die allen voran in den USA, dem Einwanderungsland par excellence, betrieben wurde. Es findet sich jedoch de facto keine Literatur, die einen adäquaten Überblick über Migrationstheorien bietet. Vielmehr sind es in Publikationen einzelne Theorieansätze, die jeweils im Fokus stehen.54 Der dem Thema zugrunde liegende Literaturbestand erweist sich daher als undurchschaubar.55 Zu divergent, umfangreich und ebenso unklar hinsichtlich Terminologie gestalten sich verschiedene Ansätze, um je Vollständigkeit gewährleisten zu können. Im Nachfolgenden sei daher eine zusammenfassende, eingeschränkte Auswahl prominenter Ansätze sowohl für klassische als auch für moderne Theorien getroffen.

1.5 Klassische Migrationstheorien 1.5.1 Bevölkerungsgeographische Ansätze

Basierend auf Ernst Ravensteins als erstes Erklärungsmodell auf der Makro-Ebene fungierendes Werk, Laws of migration, wird sich auf dessen Ergebnisse in Form von Gesetzen, resultierend aus statistischen Regelmäßigkeiten, bezogen. Ravensteins Wanderungsgesetze waren Grundlage für eine lange Tradition von Wanderungsmodellen. Die Laws of migration besagen:

• Ein Großteil der Migration geschieht vordergründig über kurze Distanzen

• Es findet ein Absorptionsprozess in Richtung Stadt und ein entgegengesetzter Dispersionsprozess statt

• Hauptwanderungsströme gehen mit einer entsprechenden Gegenströmung einher

• Industriezentren sind vordergründiges Ziel von Wanderung

• Ländliche Bevölkerung ist mobiler als Stadtbewohner

• Frauen sind mobiler als Männer56

In weiterer Folge wurde Ravensteins Ansatz im Rahmen der Gravitationsmodelle – in Anspielung auf physikalische Anziehungskraft – weiterentwickelt, mithilfe derer unter Berücksichtigung des Bevölkerungsvolumen sowie der Distanz zwischen zweier Regionen

54 HAN Petrus, Theorien zur internationalen Migration. Stuttgart 2006. S. 2.

55 KALTER Frank, Theorien der Migration. In: Andreas Dieckmann / Ulrich Müller / Bernhad Jauk (Hgg.), Handbuch der Demographie 1. Berlin et al. 2000. S. 438.

56 Haug, S. 22.

(23)

Seite | 23 Wanderungsbewegung und deren Dimension prognostiziert werden sollen. Erweitert wurde dieser Ansatz in Folge durch die Integration zusätzlicher Faktoren wie das Aktivitätsniveau pro Kopf, Opportunitäten – beispielsweise Beschäftigung oder Wohnraum – sowie etwaige um ebenjene Opportunitäten konkurrierenden MigrantInnen aus anderen Regionen mit einer ähnlichen Distanz. Wenngleich bevölkerungsgeographische Ansätze empirische Untersuchungen auf der Makro-Ebene in der Regel einigermaßen standhalten, so sollte dieser bestenfalls als statistische Beobachtung betrachtet werden, der jedweden Tiefgang und Akkuratesse auf der Mikro-Ebene vermissen lässt.57

1.5.2 Neoklassische Migrationstheorien

Neoklassische Migrationstheorien stellen nach Ravensteins Gesetzen die ältesten Erklärungsmodelle für Wanderungsbewegungen dar. Auf der Makro-Ebene zeichnen demnach Angebot und Nachfrage für Arbeitskräfte und das daraus resultierende ungleiche Lohnniveau für Migration verantwortlich. Ist die Nachfrage hoch, so steigt das Lohnniveau dem ökonomischen Grundprinzip folgend naturgemäß ebenso, was Menschen wiederum zur Migration veranlasst, die folglich nicht nur der Besserstellung der Lebensbedingungen von MigrantInnen dient, sondern gleichermaßen einen Ausgleich sowohl für die Nachfrage als auch hinsichtlich Löhne zwischen Herkunfts- und Zielnation mit sich bringt.58 Staatliche Eingriffe hinsichtlich Regulierung der Arbeitsmärkte können solche Wanderungsbewegungen wiederum beeinflussen. Zudem können Migrationsmuster von hochqualifizierten Arbeitskräften ob unterschiedlicher Erträge aus dem Humankapital mitunter in die entgegengesetzte Richtung verlaufen.59 Auf der Mikro-Ebene wird sich hingegen auf die Annahme beruht, das Individuum, als Homo Oeconomicus agierend, handle streng rational, um – ohne weitere Einflussfaktoren zu berücksichtigen – eine wirtschaftliche Gewinnmaximierung zu erzielen.60

Die Identifizierung von Push- und Pull-Faktoren, also jene Aspekte, die Menschen

„wegdrücken, wegstoßen“ (push) und folglich zur Emigration bewegen und solche, die wiederum Menschen „anziehen“ (pull) und Immigration begünstigen, zählte weitestgehend zu

57 Ebenda S. 22–23, 30.

58 KRALER Albert, PARNREITER Christof, Migration theoretisieren. In: PROKLA (2005) 140/3, 332.

59 Haug, S. 23.

60 Kraler, Parnreiter, S. 332.

(24)

Seite | 24 den am häufigsten angewandten Methoden, um Wanderungsbewegungen simpel zu erklären sowie die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß solcher zu prognostizieren.61 Die Push- und Pull-Faktoren orientieren sich dabei in der Regel zumeist an ökonomischen Aspekten wie Lohnniveau oder Arbeitslosenquote, aber beispielsweise ebenso an Sicherheit, Sozialstrukturen, Umweltfaktoren, Konflikte oder Bildungsmöglichkeiten. Bezugnehmend auf die Gravitationsmodelle wird bei diesem Ansatz der Versuch unternommen, den komplexen Migrationsprozess auf zwei Kategorien zu reduzieren, indem deren eine anziehend und deren andere abstoßend wirkt. Zwar ist dieser klassische Ansatz als eher primitives Erklärungsmodell zu betrachten, durch die globale Vernetzung und aufgrund mannigfaltiger Kommunikationsmöglichkeiten scheinen Push- und Pull-Faktoren dennoch sogar an Bedeutung zu gewinnen, ist es immerhin ein Leichtes geworden, über jedwede Entwicklung an de facto jedem Ort der Welt informiert zu werden. Der Kenntnisstand über Pull-Faktoren – auch in weit entfernten Ländern – ist demnach in der jüngeren Vergangenheit ein kaum enden wollender.

Darüber hinaus haben moderne und zum Teil günstige Transportmöglichkeiten auch Menschen unter der Armutsgrenze in die Lage versetzt, weite Entfernungen zu überbrücken, die ob des besagten Kenntnisstandes über Pull-Faktoren zu einer möglichen Auswanderung animiert werden können.62

Die Neue Migrationsökonomie (New Economics of Migration) stellt wiederum statt des Individuums die Familie bzw. den Haushalt in den Fokus. Demnach ziele Migration auf die Gewinnmaximierung eines solchen Haushalts, wobei eine individuelle ökonomische Schlechterstellung in Kauf genommen werden kann, sofern der Mehrwert für den Gesamthaushalt etwaige Verluste übersteigt. Die Familie trifft demzufolge gemeinschaftlich Migrationsentscheidungen auf Grundlage einer kollektiven, kalkulierten ökonomischen Verbesserung und fungiert als Untersuchungsgegenstand und Analyseeinheit zur Erklärung von Wanderungen. Im Gegensatz zu neoklassischen Theorien betrachtet die Neue Migrationsökonomie das Lohnniveau nicht als essenziellsten Aspekt, der über Wanderungsbewegungen entscheide. Vielmehr seien Gründe wie die Abkehr von

61 BEAN Frank, BROWN Susan, Demographic Analyses of Immigration. In: Caroline Brettel / James Hollifield (Hgg.), Migration Theory. Talking across Disciplines. New York 2015. S. 69.

62 HAN Petrus, Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle – Fakten – Politische Konsequenzen – Perspektiven. 2. Erweiterte Aufl. Stuttgart 2005. S. 14–16.

(25)

Seite | 25 Monostrukturen hin zu Diversifizierung, Einkommenspooling, Risikoverminderung oder relative Verarmung ebenfalls gewichtige Faktoren.63

1.5.3 Die Push- und Pull-Faktoren: Österreich und die USA

Während Ungarn seit 1903 ein eigenes Auswanderungsgesetz hatte, suchte man selbiges in Österreich vergeblich. Zwar war man auch in Österreich durchaus bemüht, der Auswanderung entgegenzuwirken, blieb hierbei jedoch weitestgehend erfolglos. Aufgrund des starken Lohngefälles zugunsten der USA gelten ökonomische Gründe als absolut dominierend hinsichtlich Emigration. Der Dillingham Report enthält ebenfalls Berichte zur wirtschaftlichen Lage Österreichs bzw. Österreich-Ungarns. Besonders signifikant erscheint hierbei der industrielle Rückstand Österreichs auf die USA. Die Industrie konnte die im Zuge der Industrialisierung vonstattengehende Umkehr innerhalb der Wirtschaftssektoren und den damit verbundenen Schwenk der Arbeiterschaft von der Landwirtschaft hin zur industriellen Produktion nur unzureichend auffangen. Aber auch in der Landwirtschaft geriet Österreich im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ins Hintertreffen: Landwirtschaftlich nutzbarer Boden ist in Österreich beschränkt, kleine Flächen waren daher häufig bereits wenig rentabel, wohingegen in den USA riesige unbewirtschaftete Flächen und Rohstoffreichtum lockten.

Darüber hinaus ist in Österreich von einem Mangel an Düngemittel, veralteten Methoden und unvorteilhaften Witterungsverhältnissen die Rede. Auch werden Bauern in Österreich vor allem dort, wo deren Besitz durch Realteilung von Generation zu Generation kleiner wurde, immer weniger wettbewerbsfähig.64 Reger Postverkehr zwischen EmigrantInnen und der Heimat, der zumeist realistische Einschätzungen der wirtschaftlichen Lage enthält, oftmals jedoch ebenso Beschönigungen, führte in Anbetracht solch (mitunter übertrieben) positiver Schilderungen zudem häufig zu Folgewanderung.65

Wirtschaftliche Not vor allem in ländlichen Gebieten gilt als größter Pull-Faktor; die ohnehin geringen Löhne ungelernter ArbeiterInnen sanken im Zuge der Industrialisierung weiter, wohingegen in den USA ein Arbeitskräftemangel vorherrschte. Zudem sorgte die

63 Haug, S. 27–28.

64 Faßmann, S. 47.

65 Bednar, S. 36–37.

(26)

Seite | 26 Massenproduktion für Preisverfälle vieler Produkte, was wiederum die Existenz von vormaligen ErzeugerInnen massiv gefährdete.66 Im Vergleich zu Österreich wurde MigrantInnen daher ein ansprechender Lohn in Aussicht gestellt, der das bis zu Dreifache der Verdienste in der Heimat bedeuten konnte, was somit den schwerwiegendsten Push-Faktor darstellte, der zwischen 1908 und 1911 allerdings aufgrund der ins Stocken geratenen Wirtschaft in den USA signifikant an Bedeutung verlor und zu einem Einbruch des Stellenmarktes in dieser Zeit führte.67

Ein Abbau der staatlichen Kontrolle hinsichtlich der Rahmenbedingungen der Auswanderung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedarf in diesem Zusammenhang ebenfalls einer Erwähnung.68 Zwar gelten ökonomische Faktoren als am gewichtigsten hinsichtlich Auswanderung, dass diese jedoch nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage fungieren, verdeutlicht eine umfangreiche Briefsammlung burgenländischer AuswanderInnen von Doris Knasar. Demnach seien individualpsychologische Motive, die Rede ist in etwa von Abenteuerlust, ebenfalls von hoher Signifikanz.69 Zudem vermochte auch das Klima eine Rolle zu spielen: Die Zahl der ImigrantInnen in den Vereinigten Staaten weist in feuchter Perioden einen höheren Wert auf als in trockeneren.70 Außerdem sei ebenfalls die PartnerInnensuche als Faktor genannt, der Anlass oder zumindest mitentscheidendes Kriterium zugunsten einer Emigration darstellen kann. In einer Vielzahl an Briefen werden die ausgesprochen guten Heiratschancen vor allem für Frauen aus Mitteleuropa in den USA beschrieben.71

Es lässt sich festhalten, dass eine gewisse Perspektivenlosigkeit als wesentlicher Push- Faktor gilt, der eine schwache Industrie sowie ein Mangel an landwirtschaftlich nutzbarem Boden zu Grunde liegt. Die USA schienen hingegen dank riesiger potenzieller Acker- und Weideflächen sowie einer fortschrittlicheren, blühenden Industrie als attraktives Ziel einer

66 BÖHM Silvia, Go West! – Eine Analyse der österreichischen Emigration nach Nordamerika im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Umstände. Ungedr. Dipl.- Arb. Graz 2000. S. 12.

67 Asyl & Migration. Einwanderung ab 1867. In: FDZ Geschichte [online].

http://www.didactics.eu/index.php?id=2839 (abgerufen am 12.09.2016)

68 Bauböck, S. 2–3.

69 FANK Martina, Zwischen Alter und neuer Heimat? Österreichische Auswandeurng in die USA, das Leben der Auswanderer, deren Vereine und damit verbundene Organisationen – unter spezieller Berücksichtigung des Burgenlandes. Ungedr. Dipl.-Arb. Graz 2000. S. 20.

70 Böhm, S. 12–13.

71 FISCHER-NEBMAIER Wladimir, STEIDL Annemarie, Transatlantischer Heiratsmarkt und Heiratspolitik

von MigrantInnen aus Österreich-Ungarn in den USA, 1870–1930. In: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 25 (2014) 1, 51–68.

(27)

Seite | 27 Auswanderung; zudem warben Schifffahrtsgesellschaft erfolgreich für Überfahrten. Darüber hinaus mussten Männer in den Vereinigten Staaten im Gegensatz zu Österreich keinen Wehrdienst leisten, was einen überaus signifikanten Aspekt darstellt. Für junge Österreicher ist dies vielfach gar der gewichtigste Push-Faktor. Zwar mussten freilich nicht alle jungen Männer einrücken, doch durch ein Losungssystem war letztlich dennoch jeder bedroht, einen mehrjährigen, ungeliebten Militärdienst zu leisten. Insbesondere zwischen 1845 und 1865 verließen die meisten jungen Männer aufgrund drohenden Wehrdienstes das Land. Um behördliche Verfolgung zu verhindern, änderten viele davon sogar ihre Namen.72 73 Dieser Umstand sowie individualpsychologische Motive,74 beispielsweise ein angestrebter Neustart oder der Wunsch, alles hinter sich zu lassen, können als Erklärungsansätze in Bezug auf eine sich nicht entwickelte österreichische Identität in den USA Verwendung finden.

Meinrad Pichler, der vorarlbergerische Auswanderung in die USA untersuchte, weist beispielsweise darauf hin, dass in Dornbirn von den Stellungsjahrgängen 1850 und 1851 bereits 25 Prozent der jungen Männer bei der Losung bereits in die USA ausgewandert waren; in anderen Gemeinden, wie beispielsweise in Hohenems, ist bereits von mehr als die Hälfte aller 19- bis 36-Jährigen die Rede, die bereits im Ausland verweilten, davon wiederum der Großteil in den USA.75 Zu erwähnen ist ebenfalls ein durchaus positives Amerika-Bild in Europa, das vor allem von der Annahme diverser Vorzüge wie Optimismus, Gerechtigkeit, Freiheit und Dynamik geprägt war und sich erst durch den Ersten Weltkrieg innerhalb Österreichs wieder zu ändern vermochte.76 Darüber hinaus nennt Heinz Faßmann eine „gesellschaftlich-normative Komponente, die Massenmigration als Lösung für soziale und ökonomische Probleme

‚gesellschaftsfähig‘ machte“.77

72 Ebenda, S. 13.

73 PICHLER Meinrad, Die Vorarlberger Amerikawanderung bis 1938. In: Traude Horvath / Gerda Neyer (Hgg.), Auswanderung aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Wien / Köln / Weimar 1996. S. 66–67.

74 Fank, S. 20.

75 Ebenda, S. 67.

76 Bednar, S. 187.

77 Faßmann, S. 48.

(28)

Seite | 28

1.5.4 Weltsystemtheorie

Die Weltsystemtheorie geht von einem globalen Arbeitsmarkt aus, in welchen Wanderungsbewegungen in den Kontext von Waren- und Kapitalströmen gestellt werden.78 Diese theoretische Betrachtungsweise impliziert, dass – im Gegensatz zum neoklassischen Ansatz, der einen den Arbeitsmarkt ausgleichenden Effekt postuliert – Migration und Ungleichheit in einer solchen Beziehung zueinanderstehen, in der Migration eine Verstärkung der beiden Prozesse nach sich zieht. Im Fokus steht dabei insbesondere die internationale Arbeitsteilung zwischen großen Zentren, die als Anziehungspunkt für Migrationsströme fungieren, und semi-peripheren sowie peripheren Regionen, die dieser Theorie folgend in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den MigrantInnen aufnehmenden Regionen geraten. Demnach liegt es nahe, dass Ungleichheiten und negative Auswirkungen der Abwanderung in ebenjenen Gebieten durch internationale Migration und dem damit einhergehenden Arbeitskräfteschwund der Entsenderegionen zusätzlich begünstigt wird.79 Internationale Migration habe demnach nur bedingt mit Lohnniveau oder Arbeitslosenquote zu tun; vielmehr folge diese der Dynamik globaler Ökonomie sowie dem Fluss von Gütern und Kapital in umgekehrte Richtung.80

1.5.5 Theorie des dualen Arbeitsmarktes

Die vom US-Ökonom Michael J. Piore im Jahr 1979 konstruierte Theorie des dualen Arbeitsmarktes unterscheidet sich von den vorangegangenen insofern, als dass diese eine nachfrageseitige Erklärung für Zuwanderung bietet.81 Dieser Ansatz findet allen voran in Bezug auf internationale Migration und Arbeitsmarktforschung Anwendung. Messen vorangegangene Ansätze Migration die Bedeutung zu, den Arbeitsmarkt sowie das Lohnniveau in Folge der Wanderung auszugleichen, widerspricht die Theorie des dualen Arbeitsmarktes dieser Annahme grundlegend. Piore kategorisierte den internationalen Arbeitsmarkt in zwei

78 Haug, S. 25.

79 AMELINA Anna, Migration und Geschlecht. Der Forschungsstand zur Analyse der Migrationsprozesse im nationalen, globalen und transnationalen Bezugsrahmen. In: Anna Amelina, Helma Lutz (Hgg.), Gender.

Migration. Transnationalisierung. Eine intersektionelle Einführung. Bielefeld 2017. S. 53.

80 Haug, S. 25.

81 Kraler, Parnreiter, S 332.

(29)

Seite | 29 Segmente: den primären, also den sicheren, sowie den flexiblen sekundären Arbeitsmarkt, welchem instabile, unsichere und solche Jobs mit geringen Löhnen angehören. Insbesondere hochentwickelte Industrieländer weisen dabei diesen Ansatz folgend in letzterem Arbeitsmarkt, der von Einheimischen in der Regel gemieden wird, ständig einen hohen Bedarf an billigen, unqualifizierten Arbeitskräften auf, der von MigrantInnen zumeist mit der Intention, sogenannte dead-end-jobs, also solche Berufe, bei denen keinerlei Aufstiegs- oder Verbesserungsmöglichkeiten bestehen, nur vorübergehend als Mittel zum Zweck anzunehmen.

Steigende Löhne sind dabei selbst bei steigender Nachfrage ebenso wenig zu erwarten: Durch staatliche und institutionelle Mechanismen82 wird das Lohnniveau niedrig gehalten. Aufgrund des in hochentwickelten Volkswirtschaften ständig hohen Bedarfs im sekundären Arbeitsmarkt, lässt sich diese Art der internationalen Migration Piore zufolge auch durch etwaige Regulierungsversuche nicht verhindern. Vielmehr seien es die Unternehmen selbst, die als Initiatoren der Arbeitsmigration agieren. In diesem Zusammenhang hebt Piore die essentielle Rolle von Anwerbungen der MigrantInnen hervor, die Wanderungsbewegungen auszulösen vermögen.Aufgrund der geradezu willkürlichen Trennung in zwei Arbeitsmarkt-Segmente ist die Theorie des dualen Arbeitsmarktes in der Praxis jedoch kaum zu bestätigen bzw. adäquat zu testen. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt jedoch im Umstand, dass durch den dualen Arbeitsmarkt Arbeitsmigration trotz beispielsweise hoher Arbeitslosenquoten im primären Sektor des Ziellands zu erklären ist. 8384

1.5.6 Kritische Betrachtung ökonomischer Ansätze

Klassischen ökonomischen Ansätzen liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch als Homo oeconomicus rational handle, um seinen eigenen Nutzen zu maximieren, dass dieser auf Restriktionen und Umweltbedingungen reagiere, Präferenzen habe und Entscheidungen auf Grundlage eines korrekten Kenntnisstandes trifft. Tatsächlich ist die Aussagekraft solcher theoretischen Ansätze weitestgehend zu hinterfragen, handeln MigrantInnen in der Praxis

82 Haug, S. 24.

83 Ebenda, S. 24, 32.

84 Kraler, Parnreiter, S. 34–36.

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