• Keine Ergebnisse gefunden

5.2 Bern West: Stadtteil zwischen Auf- und Abwertung

5.3.3 Schulstandort B

5.3.3.5 Die Zusammenarbeit mit den Eltern

quartier-spezifische Funktion. Die Schule hat den Auftrag, den Kindern und Jugendlichen etwas bei-zubringen. Die Schulgemeinschaft, die Klassengemeinschaft ist heterogen gedacht, was ins-besondere im Anliegen zum Ausdruck kommt, die Kinder über die gesamte Volksschulzeit in derselben Klasse zu unterrichten und den Unterricht durch innere Differenzierung den Fähig-keiten und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen anzupassen. Eine Auftrennung durch Schullaufbahnentscheide wird möglichst vermieden.

Dieses Paradigma und die pädagogischen Zielsetzungen der Schule sind auch in den Leitsät-zen der Schule (s. Anhang 3) festgehalten. Sie behandeln die Themen Zusammenarbeit, Di-daktik, Mitsprache/Mitbestimmung, Beurteilung, Heilpädagogik, Konfliktfähigkeit und Ta-gesschule. Die Leitsätze sprechen die Eltern als mögliche Kundinnen und Kunden der Schule an. Da die Schule B ein Schulversuch ist, können Eltern auch von ausserhalb des Einzugsge-bietes beantragen, dass ihr Kind in die Schule aufgenommen wird. Umgekehrt können sie sich dafür einsetzen, dass ihr Kind an einem anderen Schulstandort eingeschult wird, da Eltern rechtlich nicht gezwungen werden können, ihr Kind in einem Schulversuch einschulen zu lassen (Lüscher 1997; Salm 1999). Im Zentrum des Leitbildes stehen Ziele und Massnahmen, die als Besonderheiten und Stärken der Schule und des Unterrichts hervorgehoben werden.

Die Schule vermittelt Leserinnen und Lesern auf diese Weise die Sicherheit, dass ihre Kinder in der Schule B optimal gefördert und gut aufgehoben sind. Im Unterschied zur Schule A wird im Leitbild nicht auf das Quartier und nicht auf Erwartungen gegenüber den Eltern eingegan-gen. Die hervorgehobenen Besonderheiten beziehen sich einzig auf die schulische Arbeit. In diese hat die Schule im Rahmen des Schulversuchs und der damit verbundenen Schulentwick-lung viel investiert – eine aktive, nicht eine reaktive SchulentwickSchulentwick-lung, wie die Schulleitung erläutert (vgl. Fiechter 2008: 174). Der Zusammenhalt, das Verständnis der Schule bezieht sich damit weniger auf einen lokalen Kontext als auf die Überzeugung mit Modellen der inne-ren Diffeinne-renzierung auf die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler und die unterschied-lichen Anliegen der Eltern gut vorbereitet zu sein.

Der Schulversuch wurde lanciert, um pädagogische Zielsetzungen in die bildungspolitische Debatte einzubringen und letztlich im gesamten Kanton Bern umzusetzen. Auf gesellschaftli-che Veränderungen gibt die Schule B eine pädagogisgesellschaftli-che und eine bildungspolitisgesellschaftli-che Antwort:

es braucht (weitere) grundlegende Reformen in der Volksschule – hin zu integrierenderen Modellen.

obligatori-schen Schulzeit zunehmend auf die Einschätzung der Lehrperson verlassen. Sie entlastet al-lerdings die Lehrpersonen davor, schwierige Selektionsentscheide begründen und vertreten zu müssen. In diesem Sinne wird sie als Korrektiv für diskriminierende Begründungen bei Selek-tionsentscheiden verstanden und wirkt einer Institutionellen Diskriminierung (Gomolla &

Radtke 2002; Gomolla 2010) entgegen (vgl. Oester 2008b). Die Mitsprache der Eltern hat in der Schule bereits eine längere Tradition und wird von der Schulleitung und der interviewten Lehrperson positiv beurteilt. Der Elternrat beteiligte sich auch am Engagement für die Weiter-führung des Schulversuchs im Jahr 2005.

Die Schulleitung sieht es heute vermehrt auch als Aufgabe der Schule, „mit den Eltern zu-sammen eine Lösung zu suchen, was nach der Schule läuft. Das schaue ich schon als zentra-len Punkt an. Je länger, je mehr, weil, gerade zum Teil fremdländische Eltern unsere Struktu-ren nicht kennen, also die ganze Berufsproblematik ist nicht einfach das Thema der Eltern, sondern ich denke, da müssen wir bei sehr vielen unterstützend wirken. [...] Und danach eben, das ist ein wichtiger Teil, welcher früher immer als negativ betrachtet wurde, wenn das nicht klappt sofort halt mit einer Gefährdungsmeldung das Kind irgendwo ‚anhängen’, wo es Un-terstützung hat, dass weiter geschaut wird“ (Schulleiter B, Z. 384-396). Dies tut die Schule im Interesse der Gesellschaft. Es gehört für die Schulleitung mit zu deren Bildungsauftrag.

Von Seiten der Eltern wird auch Druck auf die Schule ausgeübt. So formuliert die Schullei-tung: „Auf der Ebene mit den Eltern ist halt der Druck von ihnen fast freie Schulwahl, sei das nun hierher kommen oder weg, dass ich dort spüre, ja, dass halt die Schule immer mehr ein Glashaus wird und Erwartungen kommen. Dann muss ich auch Grenzen setzen. Bezüglich Schulkommission ist es so, dass ich merke, es gibt partielle Interessen wie beim Elternrat. Ich muss immer wieder sagen: ‚wir haben auch Gesamtinteressen, dass es eben freie Schulwahl oder irgend so etwas, dass es das halt leider nicht gibt, das wäre ja vielleicht schön, aber dann müsste es auf beiden Seiten laufen, dann müsste ich auf freie SchülerInnenwahl und freie El-ternwahl oder so plädieren’. Das sind so die Sachen, die belasten, wo man merkt, da sind un-terschiedliche Haltungen, vielleicht auch Ängste, die ganze Sache ‚wie geht es meinem Kind?’“ (Schulleiter B, Z: 412-422).

Bei Schullaufbahnentscheiden wie Repetieren eines Schuljahres, Einweisung in die Klein-klasse und im Fall der Schule B auch bei der Einteilung in das Niveau der Sekundarstufe 1 muss die Lehrperson das Einverständnis der Eltern einholen. Lehrperson B unterrichtet 3. und 4. Schuljahr, muss also keine Selektionsentscheide für die Sekundarstufe 1 fällen. Gelegent-lich sucht sie jedoch den Kontakt zu den Eltern, wenn es aus ihrer Sicht für die Entwicklung des Kindes hilfreich wäre, dieses in die Kleinklasse einweisen oder aber ein Schuljahr

repetie-ren zu lassen. Eine wichtige Unterstützung bei der Durchsetzung dieses Anliegens ist die Er-ziehungsberatung. Die Fachleute der Erziehungsberatung sieht Lehrperson B als Unterstüt-zungs- und Beratungsgremium bei der Einschätzung der Fähigkeiten von Kindern und Ju-gendlichen und bei der Diskussion mit den Eltern über geeignete Fördermassnahmen für ihr Kind. Sie hat Verständnis dafür, wenn sich Eltern gegen Schullaufbahnentscheide wehren.

„Es ist einfach, wenn du dich in die Situation von den Eltern hineinversetzt, habe mal selber ein Kind, von dem die Lehrerin sagt, es reicht ihm nicht, es muss wiederholen. Es ist klar, dass sie sich schlecht damit abfinden können, das ist ein Hammer“ (Lehrperson B, Z. 348-440). In solchen Fällen sollte die Lehrperson nicht stur sein. „Ich musste auch schon warten und sagen, gut, also, dann hüte ich das Kind noch ein Jahr lang und schaue zu ihm [...] dann haben die Eltern mit der Zeit selber gesehen, nein, das bringt ja wirklich nichts [...] dann musst du einfach auch zusammen reden“ (Lehrperson B: Z. 443-447). Die Eltern lassen sich letztlich von Fachverständigen überzeugen, sei es die Lehrperson oder die Erziehungsbera-tung, so Lehrperson Bs Erfahrung.

Wie erklärt sich Lehrperson B, dass überproportional viele Ausländerkinder in Kleinklassen eingewiesen werden? „Ich denke, dass ganz viel mit dem Fördern und dem Selbstvertrauen von zu Hause zu tun hat. [...] Ja, in einer Familie, wo keine Bücher herumstehen, ist es unter Umständen für ein Kind hundertmal schwieriger, den Weg zu der Schulbildung zu finden, als für ein Kind, dessen Papi selber Lehrer ist oder die Mami. Und nachher gibt es auch noch den Weg, dass ganz viele Leute sagen, ja was? Also Leute, die vielleicht nicht anderssprachig sind oder die aus unserer Mittel- oder Oberschicht kommen und sagen, ja, das ist in Ordnung. Also mein Kind kommt nicht in die Sek oder ins bessere Niveau? Also, dann geht es in eine Privat-schule. Und dadurch summieren sich natürlich die Kinder, die die finanziellen Möglichkeiten nicht haben. Ich erkläre mir das so. Für mich sind diese Kinder nicht dümmer“ (Lehrperson B, Z. 461-473).

Sie spricht damit einerseits ein mangelndes Selbstvertrauen von Kindern an, die aus weniger gebildeten Familien stammen. Ihnen fehlen der gewohnte Umgang mit Büchern, die Selbst-verständlichkeiten, die Kinder aus gebildeteren Milieus haben und die dazu führen, dass sie mehr leisten müssen, um auf dieselben Leistungsstandards zu kommen, wie Kinder, die mit kulturellem Kapital (Bourdieu 2001a) bereits von zuhause ausgestattet sind. Dazu kommt, dass Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder auf eine Privatschule schicken oder um-ziehen, wenn sie mit der Staatsschule nicht zufrieden sind.

Für Lehrperson B ist die Auseinandersetzung mit den Eltern wichtig. Diese muss in Gesprä-chen stattfinden. Dafür gilt es auch die verschiedensten Instanzen und Institutionen möglichst

zu nutzen. Dies kann die HSK-Lehrperson des Kindes sein, auf die Eltern manchmal besser hören als auf die Lehrperson. Im Austausch mit den Eltern können Kompromisse ausgehan-delt werden. Darauf angesprochen, wie sie auf ein Kind reagieren würde, das mit Kopftuch in die Schule kommt, meint Lehrperson B: „So wie gewisse Mütter bei uns auch den Kompro-miss finden, sie tragen das Kopftuch für die Moschee, sie tragen das Kopftuch, wenn eine heilige Zeit ist und für das Turnen und so tragen sie eben Hosen und ziehen das Kopftuch aus.

Wenn bei mir jetzt ein Kind ein Kopftuch tragen müsste, dann würde ich mit den Eltern das Gespräch suchen“ (Lehrperson B, Z: 571-577). Dabei steht das Wohl des Kindes im Vorder-grund. Lehrperson B würde dem Kind grundsätzlich helfen einen Weg zu finden, der das Kind wenig unter Druck setzt. „Ich denke, dass die Kinder in einen rechten Gewissenskonflikt kommen können. Dann muss man einfach versuchen sich zu finden, auch mit den Eltern. Man muss es offen legen und im Gespräch mit den Eltern versuchen zu lösen“ (Lehrperson B, Z:

587-589).

In der Elternarbeit setzt Lehrperson B auf die direkte Auseinandersetzung mit den Eltern.

Schulische Regeln sind für sie weniger im Vordergrund, sie orientiert sich generell am

Kindswohl. Es soll den Kindern in der Schule gut gehen und sie sollen optimale Bedingungen für das Lernen haben. Lehrperson B ist eine der Pionierinnen der Schule B und ist von der inneren Differenzierung überzeugt. Ihr Unterricht ist stark individualisiert und findet meist in Form von Wochenplan- und Werkstattunterricht statt. Um ihn dahingehend zu entwickeln hat sie – wie die anderen Teammitglieder der Schule B auch – viel Zeit investiert und die Schule in ihrer heutigen Form mitaufgebaut.