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5.2 Bern West: Stadtteil zwischen Auf- und Abwertung

5.2.4 Sozialräumliche Entwicklung: Segregation trotz Durchmischungsbemühungen . 117

Im Zeitraum 1990 bis 2000 hat sich die Situation des Stadtteils VI insofern zugespitzt, als er im gesamtstädtischen Kontext Berns marginalisiert wird. Dies bestätigen verschiedene Publi-kationen zur sozialräumlichen Stadtentwicklung in Bern. Betroffen sind „Bevölkerungsgrup-pen mit tiefem Sozialstatus, schweizerischer und ausländischer Nationalität, [die sich] zur städtischen Peripherie hin verschieben und noch stärker als zuvor in den durch Hochhäuser aus der Bauperiode 1950-1980 geprägten Berner Aussenquartieren konzentriert sind “ (Stie-nen 2007:112). Die Grossüberbauungen der 1960er- und 1970er Jahre, die für Bümpliz und Bethlehem prägend sind, erfahren also in den 1990er bis 2000er Jahren eine Konzentration

35 Im Sinne der Arbeit von Ziegler wird hier der Gegensatz von links – rechts als Gegensatz zwischen

„sozial-autoritätskritisch“ und „kompetitiv-autoritätsfreundlich“ (Ziegler 2002:23) aufgefasst.

36 Jüngstes Beispiel für diese Entwicklung ist das Ergebnis der auch im europäischen Ausland vieldiskutierten Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“ vom 9. Februar 2014. während sämtliche Stadtteile der Stadt Bern diese Initiative deutlich ablehnten, betrug im Stadtteil Bern West die Zustimmung 50.1% (Informationsdienst der Stadt Bern 2014).

statustiefer Bevölkerungsgruppen. Im gesamtstädtischen Bild zeigt sich, „dass sich Berns Wohnbevölkerung in Bezug auf den Sozialstatus grossräumig entmischt“ (ebd.:19). Die Auto-rin führt dies auf den Sanierungsbedarf der Grossüberbauungen aus den 1960er- und 1970er-Jahre sowie auf die nicht mehr zeitgemässen Ausstattung und Grösse der Wohnungen zurück.

Die vergleichsweise günstigen Mietzinse führen zudem dazu, dass bereits „seit 1980 im städ-tischen Vergleich“ Personen mit tiefem Sozialstatus in diesen Überbauungen übervertreten sind. Seit den 1980er Jahren würden sich statustiefe Mietersegmente vor allem in den Über-bauungen Kleefeld West II, Tscharnergut und Gäbelbach konzentrieren37 (vgl. ebd.:21).

Die Konzentrationsprozesse statustiefer Bevölkerungsgruppen in den Hochhausüberbauungen im Westen der Stadt Bern wird von Stienen als Folge der Aufwertung innerstädtischer Wohn-gebiete und damit eines Verdrängungsprozesses beschrieben. In diesem Verdrängungsprozess nutzen die Betroffenen zudem ihre sozialen Netzwerke, um sich „im Konkurrenzkampf um billigen Wohnraum“ (ebd.:47) Vorteile zu verschaffen. „Die Art und Weise, wie sich be-stimmte Bevölkerungsgruppen während einer längeren Zeitspanne in der Stadt verschieben und immer wieder in anderen Stadtgebieten stärker konzentrieren, deuten erstens auf die öko-nomischen und symbolischen Zwänge des Wohnungsmarktes hin, d.h. auf die Mietpreise und das Image einzelner Stadtgebiete. Zweitens werden sie bestimmt durch die sozialen Bezie-hungsnetze unter der ansässigen Bevölkerungsgruppen und drittens sind dafür die Vorstellun-gen vom Wohnen in der Stadt ausschlaggebend, welche zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt jeweils gerade ‚Mode’ sind“ (vgl. ebd.:21).

Die Konzentrationsprozesse – Folge von Verdrängungsprozessen, ökonomischen Ressourcen, sozialen Netzwerken und nachgefragten Wohnleitbildern – führen in Bern West zu einer Un-terschichtung (vgl. Hoffmann-Nowotny 1973) der alteingesessenen schweizerischen Stadt-teilbevölkerung. So entspricht im Bezirk Bethlehem der Sozialstatus der ausländischen Be-völkerung „im Jahr 2000 ungefähr jenem der Schweizer WohnbeBe-völkerung im Jahr 1990“

(Stienen 2007:25). Der Vergleich der entsprechenden Zahlen im Zeitraum 1990 bis 2000 für Bethlehem zeigt zudem für die ausländische Bevölkerung durchschnittlich eine grössere Aufwärtsmobilität als für die Schweizerische. Während also für die schweizerische Bevölke-rung in Bethlehem gilt, dass sie im Vergleich zur schweizerischen GesamtbevölkeBevölke-rung der Stadt Bern weniger aufwärtsmobil ist, entspricht die Aufwärtsmobilität der ausländischen Bevölkerung in Bethlehem derjenigen dieser Gruppe in der Gesamtstadt (vgl. ebd.:26). Dies

37 Die Wohnungen im Gäbelbach werden derzeit saniert und dadurch bis zu 60% teurer, was nicht ohne Folgen für die Mieterzusammensetzung bleibt. Entsprechend ziehen Mietersegmente innerhalb Bern Wests in die noch nicht sanierten Grossüberbauungen mit nach wie vor sehr günstigen

Mietzinsen um (Ott 2010). Welche Folgen dies für die demographische Entwicklung und die

bedeutet, dass vor allem die ausländische Bevölkerung zur Verbesserung des durchschnittli-chen Sozialstatus im Bezirk Bethlehem zwisdurchschnittli-chen 1990 und 2000 beigetragen hat. Dieser Um-stand ändert jedoch nichts daran, dass Bethlehem trotz durchschnittlicher Verbesserung des Sozialstatus der Bevölkerung überregional der statustiefste Bezirk bleibt.

Aufgrund ihrer sozialräumlichen Analyse kommt Stienen zum Schluss, „dass Berns statustie-fe Bevölkerung heute stärker segregiert wohnt als 1990. Da der durchschnittliche Sozialstatus der Berner Bevölkerung heute höher ist als 1990 und die politische Orientierung tendenziell linker, fällt die [schweizerische wie die ausländische] Wohnbevölkerung in den Quartieren im Westen Berns heute aufgrund ihrer Erwerbsposition und ihrer tendenziell eher konservativen politischen Orientierung stärker von der gesamten Berner Bevölkerung ab als noch Ende 80er Jahre“ (ebd.:42). Die Unterschichtung, die Aufwärtsmobilität ausländischer Bevölkerungs-gruppen, die Konzentration statustiefer Gruppen ausländischer und schweizerischer Herkunft, die demographische Veränderung der Quartierbevölkerung, all dies sind Entwicklungen, wel-che das Statusgefüge im Quartier verändern. Die Ordnung im Quartier, die geltenden Normen und Werte, Leitbilder des guten und richtigen nachbarschaftlichen Zusammenlebens müssen neu verhandelt werden. Je nach Lebensphase, Interessenlage und Lebensstil entstehen unter-schiedliche Konfliktlinien. Solche „treten verstärkt in den abgewerteten [...] Quartieren auf, da dort der Wandel der proportionalen Bevölkerungszusammensetzung nach Sozialstatus, Alter, Nationalität und Lebensstil wegen der lokalen Bebauungsstruktur (oft Hochhäuser) in kurzer Zeit und auf kleinem Raum stattfindet“ (vgl. Stienen 2006a; Stienen 2007:45; Fiechter 2008). Solche relativ raschen und einschneidenden Veränderungen bleiben nicht ohne Folgen für die Schulen im Quartier.

Die Marginalisierung des Stadtteils und damit seiner Bevölkerung wurde und wird von den politischen Behörden wahrgenommen. Verschiedene Massnahmen wurden ergriffen, um dem Stadtteil ein positives Image zu verleihen und ihn als Wohnort attraktiv zu gestalten. So fand beispielsweise die Hochschule der Künste der Berner Fachhochschule in der ehemaligen Tuchfabrik Schild einen Standort (Huber & Uldry 2009: 170). Es wurde versucht, durch eine positive Medienberichterstattung das Image von Bern West zu korrigieren, Filme wurden ge-dreht, deren Handlung den ‚multikulturellen’ Alltag in Bern West positiv darstellen sollten38. Für die Stadt zudem sehr wichtig ist der Entwicklungsschwerpunkt Brünnen, der als neues Trendquartier für mittelständische Wohnbedürfnisse zu einer besseren Durchmischung des Stadtteils beitragen soll. Auch wurden und werden Massnahmen zur Sanierung der Gross-überbauungen getroffen, um diese vor einer ‚Ghettoisierung’ zu bewahren. Die Folgen dieser

38 Spahr 2006 ; Khalil 2010; Moll 2010; Schärer 2011.

Entwicklung werden unterschiedlich beurteilt (Der Bund 2010; Liechti 2010; Ott 2010). Ei-nerseits wird befürchtet, dass günstiger Wohnraum verschwindet und somit finanziell

schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen verdrängt werden, was zu einer weiteren Segregati-on und Marginalisierung dieser Gruppen führt. Andererseits wird davSegregati-on ausgegangen, dass eine Aufwertung des Stadtteils zu einer positiven Dynamik und damit zu mehr Lebensqualität für alle Bewohnerinnen und Bewohner führen werde.

In Bern West – wie auch anderswo – finden wir zwei gegenläufige Entwicklungen vor. Die im Quartier wohnhaften Menschen würden am liebsten dort leben, wo sie sich unter ihresglei-chen befinden, wie auch immer sie diese Gemeinschaft definieren (Fiechter 2008; Merkle &

Wippermann 2008). Für Schulen und Behörden hingegen steht eine ‚gesunde’ Durchmi-schung des Quartiers im Vordergrund. Damit sollen sogenannte ‚Kippeffekte’39 verhindert werden. Nach dieser Logik liegt dann ein ‚Kippeffekt‘ vor, wenn bisher dominante Bevölke-rungsgruppen ihre Vorstellungen des alltäglichen Zusammenlebens hinterfragt sehen und be-fürchten, diese nicht mehr aufrechterhalten und durchsetzen zu können.40 Die Quartierbewoh-nerInnen sind somit auf der Suche nach einer ihnen entsprechenden Gemeinschaft, bleiben gerne unter ihresgleichen und verstärken dadurch die Tendenz zur Segregation41. Die Behör-den bemühen sich um Durchmischung und versuchen auf diese Weise, Behör-den Segregationsdy-namiken entgegenzuwirken. Denn nicht nur die Quartierschulen wünschen sich leistungsstar-ke (Mittelschichts-) Kinder als Zugpferdchen in den Schulklassen. Auch in der Stadtentwick-lung wird davon ausgegangen, dass die Attraktivität eines Quartiers durch ein Wohnungsan-gebot für einkommensstärkere Bevölkerungsgruppen sowie Familien gefördert werden kann.

Die stadtplanerischen Massnahmen zur Durchmischung der Bevölkerung sollen die Unter-schichtung einzelner Quartierteile stoppen und das Image des Stadtteils verbessern42. Kippef-fekte sollen verhindert und gängige Vorstellungen von Normalität – geringe und lokal gut verteilte Anteile ausländischer Bevölkerungsgruppen, Verhinderung von

39 Dies wird z.B. an Prozentanteilen von Bevölkerungsgruppen festgemacht. So soll der Anteil der AusländerInnen in einem Quartier einen bestimmten Anteil ca. 50% nicht übersteigen, in

Schulklassen der Anteil fremdsprachiger Kinder nicht mehr als 40% umfassen, wobei die Grenze zwischen fremdsprachigen und ausländischen Kindern unscharf gezogen wird und Ausländerkinder auch in der zweiten und dritten Generation noch als ‚fremdsprachig‘ wahrgenommen werden (Coradi Vellacott et al. 2003; Stienen 2006a).

40 Zur Beschreibung solcher Prozesse vgl. Stadt Bern Präsidialdirektion Stadtplanungsamt 2005;

Wimmer 2003; Karrer 2002; Hoffmann-Nowotny 2001.

41 Den Begriff ‚Segregation’ verstehen wir also nicht als absolute Grösse, die anhand eines allgemein bestimmbaren Grenzwertes festgelegt wird. Vielmehr begreifen wir ihn relational und beschreiben damit die Verteilung von Merkmalen in den verschiedenen Kleinquartieren und im

Untersuchungsgebiet.

42 So schlägt beispielsweise das Stadtplanungsamt Bern verschiedene Massnahmen zum „Abbau von

ten – bedient werden. Diese Durchmischungsmassnahmen zielen darauf ab, Konflikte und Spannungen zu vermeiden. Es wird von einem gesellschaftlichen Grundkonsens ausgegangen, den es aufrechtzuerhalten gilt. In diesem Sinne zielen die vorgesehenen Massnahmen darauf ab, als konfliktiv und somit negativ empfundene Parallelgesellschaften zu verhindern und die mittelständische (schweizerische) Quartierbevölkerung mit ihren Lebensentwürfen, Werten und Normen als dominante Bevölkerungsgruppe zu stärken. Diese Gruppe wird dabei als ho-mogene Gruppe imaginiert, deren Dominanz im Quartier als Garant für Stabilität und einen gesellschaftlichen Wertekonsens verstanden wird (vgl. dazu u.a. d'Amato & Gerber 2005;

Stienen 2006a; Schönenberger & d'Amato 2009). Gerade ein solcher Wertekonsens kann je-doch unter dem Eindruck einer zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen und Lebenssti-le kaum mehr vorausgesetzt werden. An welchen Vorstellungen sich die SchuLebenssti-len mit ihrem Bildungsauftrag orientieren, zeigen die folgenden Ausführungen.

5.3 Zwei Schulen in Bern West

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