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6.3 Ausgrenzungserfahrungen: Aussenseiter in Quartier und Schule

6.3.3 Frau Meier: Angst vor Normierung und Stigmatisierung

6.3.3.1 Biographische Angaben

Familie Meier besteht aus dem Vater (42-jährig), der Mutter (40-jährig) und dem 12-jährigen Sohn, der zum Zeitpunkt des Interviews die fünfte Klasse besucht. Herr Meier hat nach der Realschule eine Lehre als Elektriker absolviert und arbeitet heute als Informatiker. Seine El-tern waren Instrumentenbauer (Realschulabschluss) und Schneiderin (ohne Lehre, Realschul-abschluss). Ob er Geschwister hat, bleibt im Interview offen.

Frau Meier ist gelernte Krankenschwester, hat die Sekundarschule absolviert und ist heute als Hausfrau und Mutter teilweise auch karitativ in kirchlichen Kreisen tätig. In Schule B war sie Mitglied der Schulkommission und des Elternrates. Beide sind in der Zentralschweiz geboren und aufgewachsen und besitzen die schweizerische Staatsbürgerschaft.

Ihre Familie bezeichnet Frau Meier als „Patchwork“. Die Familienverhältnisse ihrer Kindheit sind „schwierig“. So waren Frau Meier und die Geschwister bei Tageseltern, phasenweise in Heimen oder bei Pflegeeltern untergebracht. Dies hatte aus ihrer Sicht zur Folge, dass ihr als Kind stabile Beziehungen fehlten. Unterstrichen wird diese Einschätzung, da die Familie oft umzog und die Kinder mehrmals die Schule wechselten. Schulisch am erfolgreichsten ist Frau Meiers jüngster Bruder, der das Gymnasium besucht und ein Studium absolviert.

Herr Meier wohnt bereits vor der Heirat in Bern West. Die Familie lebte in Bern West, dem mittelständisch geprägten Quartier des Stadtteils. Für Bern West als Wohnort sprachen da-mals die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, der Arbeitsplatz des Ehemannes und das vergleichsweise günstige Wohnungsangebot. Wohl fühlten sie sich jedoch gemäss Aussa-gen im Interview in Bern West nicht: die vielen Hochhäuser, die Anonymität, die Bevölke-rungszusammensetzung. Dies entspricht nicht ihren Vorstellungen und sie ziehen in ein länd-lich geprägtes Umfeld um. Durch den Umzug haben die Eltern Meier einen Schul- und

Um-6.3.3.2 Individualität führt zu Ausgrenzungserlebnissen in der Schule

Frau Meier schildert sich als lernmotivierte Person: „Ich habe immer schon, immer gerne ge-lernt“ betont sie. Jedoch waren dafür die Bedingungen nicht immer gleichermassen gegeben.

Ihre Eltern bemühten sich, sie zu fördern, organisierten Nachhilfeunterricht, schickten sie in die Logopädie und ins Haltungsturnen. Obwohl von den Noten her das Gymnasium für sie in Frage gekommen wäre, wie Frau Meier im Interview erklärt, traute sie sich damals diesen Schritt nicht zu. Insbesondere für die Anforderungen im Fach Mathematik fehlte ihr nach ei-gener Aussage das Selbstvertrauen. „Mach einfach das gut, was du jetzt kannst. In der Sek76 bist du gut“, schildert sie rückblickend ihre Überlegungen und entscheidet sich, in der Sekun-darschule zu bleiben. Sie erwähnt, dass sie sich seitens der Eltern unter Leistungsdruck fühlte und unter Versagerängsten litt. Als Schülerin gehörte sie zu den Aussenseiterinnen und wurde von den Klassenkameradinnen und –kameraden schikaniert. Sie erzählt: „Ich habe, ich habe sehr sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Ich wurde oft verprügelt, wurde verfolgt auf dem Schulweg. Dann die Wechsel, ein kantonaler Wechsel wegen der Karriere des Vaters, Schul-anfang von Herbst auf Frühling. Also ich habe ein Jahr verloren wegen der Schulwechsel und ich konnte nie eigentlich Beziehungen aufbauen ausser einmal, als ich einmal drei Jahre am selben Ort gewohnt habe. Also da, ja, ich ging eigentlich doch noch gerne in die Schule, das ist noch interessant, ja [...] aber meine Mama musste mich jeweils beschützen, alle meine Ge-schwister, wir sind alle immer wieder geplagt worden. Waren etwas, vielleicht etwas unbere-chenbar gewesen, man konnte uns nicht einordnen, und durch das, dass wir nicht lang an ei-nem Ort gewohnt haben, lang, jetzt sagen wir mal fünf bis zehn Jahre, war es gar nicht mög-lich, ein Beziehungsnetz aufzubauen“.

Die Massnahmen der Mutter, immer wieder umzuziehen und die damit verbundenen Schul-wechsel, verstärken aus Sicht von Frau Meier die Aussenseiterposition der Kinder. Was als Schutz gedacht war, erweist sich als Nachteil. Die Familie scheint anzuecken, nicht ins Sche-ma zu passen. Die negativen Erfahrungen beschränken sich jedoch nicht nur auf den Umgang mit den Gleichaltrigen. Das Verhalten einzelner Lehrpersonen unterstützt diese Wahrneh-mung. Frau Meier fühlt sich blossgestellt. Sie erzählt: „In der fünften Klasse, [hat der] Lehrer [...] manchmal mit Kreiden und anderen Dingen nach uns geworfen. Vor allen anderen hat er mich angeschrien. [...] Das Gefühl vom Ertapptsein und von Entblössung vergesse ich nie. Ich habe mich extrem entblösst gefühlt. Oder wenn wir Prüfungen zurück erhalten haben, schau

76 Der Übertritt ins Gymnasium erfolgte im entsprechenden Kanton der Schweiz damals bei genügend guten Noten nach dem zweiten Sekundarschuljahr. Das Langzeitgymnasium dauerte sechs Jahre, die Sekundarstufe vier Jahre.

mal tack eine Drei, schau tack, es wussten gleich alle, welche Note man hatte, das war für mich sehr demütigend“.

Frau Meier entwickelt sich – je nach Lehrperson – zu einer Rebellin: „Wir haben dann in der Sek einen Lehrer bekommen, nach der ersten, wir haben Lehrerwechsel gehabt, neben den anderen Lehrern, die wir bereits von den Nebenfächer her kannten, und dann habe ich, den habe ich fertig gemacht, ich weiss noch. Also, ich bin damals ein sehr grosser Rebell gewe-sen“. Sie schildert, dass sie diesen Lehrer mit falschen Anschuldigungen desavouiert hat, was dazu führte, dass er die Stelle wechseln musste. Rückblickend schätzt sie ihn als unsicheren Menschen ein, der sich gegenüber einer Schulklasse von 15-Jährigen nicht durchsetzen konn-te. Lehrpersonen, die sich durchsetzen konnten und denen das Lernen der Schülerinnen und Schüler ein grosses Anliegen war, blieben ihr demgegenüber in positiver Erinnerung. Sie er-zählt: „Ich weiss noch in der zweiten Klasse, da ist sogar der Lehrer zu uns nach Hause ge-kommen“. Dies macht ihr Eindruck, denn diese Lehrperson war bemüht, sie „schulisch vor-wärts zu bringen“.Diese Aufmerksamkeit war für Frau Meier ein sehr positives und wichtiges Erlebnis.

In der Sekundarschule gab es einen sehr strengen Lehrer, der den Jugendlichen Leistungen abverlangte. Dies schätzt Frau Meier im Nachhinein, weil er ihr durch seine klaren Anforde-rungen und seine Strenge eine Linie gab, die ihr gut tat, wie sie erzählt. Sie fühlte sich wahr-genommen, herausgefordert: „Wir hatten nachher einen Lehrer, bei dem musste man richtig schuften [...] Ich brauchte das, das war ganz wichtig“, erläutert sie. Sie respektierte diesen Lehrer und zehrt noch heute von Erfolgserlebnissen, zu denen er ihr verholfen hat.

Für Frau Meier war es wichtig, dass Lehrpersonen eine Linie, eine Strenge und damit eine Autorität hatten. Insbesondere auf der Oberstufe brauchte sie einen Lehrer, den sie respektie-ren konnte. Diesen Respekt erarbeitete er sich durch Strespektie-renge, Klarheit und Gleichbehandlung der Schülerinnen und Schüler, aber auch durch hohe Anforderungen an ihre Leistung. Für Frau Meier gehören diese Eigenschaften zu Lehrpersonen „alter Garde“. Sie verbindet sie klar auch mit Vaterfiguren, d.h. mit einem bestimmten Konzept von Männlichkeit, das sie für die Entwicklung von Jugendlichen als zentral betrachtet. Lehrpersonen dürften der Konfrontation mit Jugendlichen nicht ausweichen. Sie müssten sich den Respekt der Schülerinnen und Schü-ler verdienen, indem sie eine Linie hätten, konsequent seien. „Ich bin einfach überzeugt, dass es in diesem Alter sehr wichtig ist, Vaterfiguren zu haben, also richtige Männer, bei denen du als Kind spürst, dass sie sicher sind“.

Auch Herr Meier macht Erfahrungen, dass er in der Schule ausgegrenzt wird. „Ich habe die Schule auch nicht so gut erlebt, weil ich zum Teil so geplagt wurde“, erzählt er. Seine Eltern

setzen sich jedoch für ihn ein, auch bei den Lehrpersonen. Auch er schätzt rückblickend Lehrpersonen, die streng waren, die ihm dadurch aber auch vermittelt haben, dass sie ihm etwas zutrauen, an seine Fähigkeiten glauben. Seine Schulkarriere umschreibt Herr Meier auch dahingehend, dass er ein Spätzünder war: „Also ich habe als Kind, ich habe auch erst spät den Knopf aufgetan. Ich hatte immer schlechte Noten, beinahe, erst in der Lehre, habe ich angefangen den Knopf zu öffnen. Bis vielleicht in der Oberstufe, im letzten Jahr, als mir bewusst wurde, oha, jetzt geht es dann in die Lehre, da hatte ich plötzlich gute Noten“. Herr Meier ist motiviert zu lernen, als es um seine berufliche Zukunft geht. Die Schule ist für ihn ansonsten nur wichtig, um mit Gleichaltrigen zusammen zu sein und soziale Kontakte zu knüpfen. In der Schule hat er „Freunde kennen gelernt, das habe ich sehr geschätzt, das ist das Positive. Also ich habe immer wieder Freunde gehabt, aber auch nur einzelne jeweils, aber gute Freunde“.

Die positiven Erinnerungen sind an männliche Lehrpersonen geknüpft, die streng waren, eine Autorität darstellten, ihm und den anderen Schülerinnen und Schülern etwas zutrauten und Leistung abverlangten.

Gute Lehrpersonen sind – so lassen sich die Erfahrungen und Schilderungen von Herrn und Frau Meier zusammenfassen – eher männlich oder sogar Vaterfiguren, sie weichen Konfron-tationen nicht aus, sind streng, verlangen von den Kindern und Jugendlichen Einsatz und Leistung, d.h., sie trauen den Schülerinnen und Schülern etwas zu. Beide favorisieren in die-sem Sinne ein Lehrerbild, das Frau Meier mit dem Begriff der „alten Garde“ umschreibt. Un-ter solchen schulischen Bedingungen verlieren die teils als negativ erlebten sozialen Dynami-ken in der Schulklasse an Bedeutung. Im Vordergrund stehen das Lernen und die individuelle Leistung. Diese klaren Erwartungen spornen an und vermitteln nachhaltige Erfolgserlebnisse.

6.3.3.3 Schulische Integration auf Umwegen

Frau Meier bezeichnet die bisherige Schullaufbahn ihres Sohnes als „Odyssee“ und meint, Ritalin löse auch nicht alle Probleme. Damit deutet sie bereits bei der ersten Kontaktaufnahme für das Interview an, dass es zwischen Schule, Eltern und Benjamin zu Konflikten gekommen war. Die Schullaufbahn von Benjamin ist – analog derjenigen seiner Mutter – denn auch von einigen Wechseln geprägt. So hat er zwei Schulwechsel durchlaufen, die durch einen Umzug seiner Eltern bedingt waren (Kindergarten, während der 5. Klasse). Viermal musste er das Schulhaus wechseln (zwei Mal bedingt durch den Umzug seiner Eltern, zwei Mal im Rahmen vorgesehener Promotionsprozesse). Er hat sich durch den Umzug der Eltern zwei Mal in eine neue Klasse hineingeben müssen. Zusätzlich einmal, weil er ein Schuljahr wiederholen muss-te. Durch den Umzug hat er zwei Mal eine neue Klassenlehrperson erhalten. Zusätzlich zwei