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Ziel des Kapitels war es, einen Überblick über den Stand der Diskussion zu Bildungsun-gleichheit im deutschsprachigen Raum mit Fokus auf die Situation in der Deutschschweiz zu liefern. Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der schweizerischen Sozialstruktur zeigt auf, dass die Bedeutung formaler Bildung in den letzten Jahrzehnten aufgrund des gesell-schaftlichen Wandels deutlich zugenommen hat. Dieser Wandel impliziert auch, dass sich die Gesellschaft vertikal und insbesondere horizontal in verschiedene Milieus ausdifferenziert hat. Die einzelnen Milieus stehen relational zueinander. Durch den demographischen Wandel wird das Gefüge im Sozialen Raum stetig neu ausbalanciert und bleibt somit dynamisch. Die-se grundlegenden Bedingungen, resp. ihre konkreten Ausprägungen im Stadtteil Bern West, rahmen die Arbeit der Stadtteilschulen und die Situation der im Quartier lebenden Familien.

Die diskutierten Ansätze erklären Bildungsungleichheit mit unterschiedlicher Gewichtung.

Während sich einige Autorinnen und Autoren eher für den Beitrag des Bildungssystems zur sozialen Ungleichheit interessieren, fokussieren andere das Handeln der Eltern und Kinder.

Soziale Ungleichheit im Bildungswesen, so ein Erklärungsansatz, kommt wesentlich durch kantonal und lokal unterschiedliche Angebotsstrukturen im Bildungswesen und dem damit verbundenen Wettbewerb um Bildungstitel zustande. Sind höhere Bildungstitel aufgrund der Angebotsstruktur eher knapp, ist der Wettbewerb um diese Bildungstitel verschärft – wie z.B.

im Kanton Bern. Dies hat Folgen für die Selektions- und Beurteilungspraxis in den Schulen.

Selektionsentscheide am Ende der Primarschulzeit werden in diesem Zusammenhang nicht ausschliesslich aufgrund von Leistungen gefällt. Vielmehr gewinnen askriptive Merkmale zur Legitimation der Übertrittsempfehlung an Bedeutung. Sie werden, so argumentieren die Ver-treterinnen und Vertreter des Ansatzes der Institutionellen Diskriminierung, in Indikatoren für Leistungsvermögen und Lernpotenzial umgedeutet. Dabei orientieren sich Lehrpersonen an Normalitätsvorstellungen der guten Lernenden. Gute Lernende verfügen über einen passen-den, schulkonformen Habitus, der ihnen vom Elternhaus mitgegeben wird. Inwiefern ein sol-cher Habitus auch bei Schülerinnen und Schülern aus zugewanderten Familien zum Schuler-folg beiträgt, müsste genauer untersucht werden. So zeigt beispielsweise Oester anhand eines Fallbeispiels, dass der Schulerfolg einer Tochter von Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien an Assimilationserwartungen bezüglich Religion und soziokultureller Orientierung seitens der Lehrperson gekoppelt ist (Oester 2008b). Die damit einhergehende Konstruktion und

Hierar-chisierung von Differenz spiegelt sich auch in offiziellen Dokumenten wie Lehrplänen, Schul-leitbildern, Reden von Schulleitungspersonen u.ä. und wird von verschiedenen Autoren im Sinne einer fehlenden Passung von Schule und Familie interpretiert (vgl. Helsper et al. 2009;

Kramer & Helsper 2010). Ungleichheit entsteht in diesem Fall auch vor dem Hintergrund einer spezifischen Schulkultur, die Lehrpersonen und Schulleitung in Bezug auf das lokale Umfeld und die im Umfeld der Schule wohnhaften Familien, die finanziellen Ressourcen, den Gesetzesauftrag, die schulpolitischen Akteurinnen und Akteure usw. ausbilden (Herrmann 2013; Oester 2008b; Busse 2010). Schliesslich geht aus Befunden der Bildungsforschung auch hervor, dass die soziale Zusammensetzung von Schulklassen, aber auch die Distinkti-onskämpfe der Peers für das Leistungsvermögen von Schülerinnen und Schülern relevant sind. Dies hat Folgen für Schulkreise, in denen wesentlich Kinder und Jugendliche aus Fami-lien tiefer sozialer Schichten die Schule besuchen. Solche Schulen sind herausgefordert, ihre Unterrichtsqualität zu verbessern, um im Leistungswettbewerb mithalten zu können. Der Zu-sammenhang von tiefer Leistung und sozial unterprivilegiertem Einzugsgebiet ist jedoch nicht zwingend. Die Datenlage ist diesbezüglich nicht eindeutig.

Ergänzend zu den Erklärungsansätzen der strukturellen Gründe für Bildungsungleichheit und der institutionellen Diskriminierung, steht die Forschung zur Bildungsungleichheit stark unter dem Einfluss von Rational-Choice-Ansätzen. Es wird davon ausgegangen, dass die von den sozial positionierten Eltern gefällten Bildungsentscheidungen beim Übergang von der Primar-stufe in die SekundarPrimar-stufe I dafür verantwortlich sind, dass insbesondere Schülerinnen und Schüler aus tieferen sozialen Schichten bezogen auf den Schulabschluss unter ihrem Leis-tungspotenzial bleiben. Forschungsarbeiten, die sich mit Bildungsentscheidungen von zuge-wanderten Eltern auseinandersetzen, stellen jedoch fest, dass die Bildungsentscheidungen dieser Eltern ein Korrektiv zu den von den Lehrpersonen vorgeschlagenen Übertrittsentschei-den darstellen. Eltern mit Migrationshintergrund sind oft für ihre Kinder sehr ambitioniert.

Die Investition in eine Bildungslaufbahn verbinden sie ausgesprochen stark mit besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dies dürfte so auch für die zugewanderten Eltern gelten, die für die vorliegende Arbeit interviewt wurden. Inwieweit sich die Bildungsaspirationen, die sie für ihre Kinder hegen, mit Unwissen über das Schulsystem koppelt, wird zu untersuchen sein.

Weiter zeigt sich in der Auseinandersetzung mit Sozialstatus und Sozialstruktur, dass die Ka-tegorien von Beruf, Bildung und sozioökonomischem Status für Personen, die ihre Bildungs- und Berufstitel im Ausland erworben haben, kaum auf schweizerische Verhältnissen zu über-tragen sind. Diese Schwierigkeit wird auch in Zusammenhang mit der Operationalisierung der

sozialen Herkunft als primäre und sekundäre Herkunftseffekte für Bildungsentscheidungen thematisiert.

Die Zuweisung eines Kindes in die Sekundarstufe I mit erweiterten oder Grundansprüchen geschieht im Kanton Bern auf Empfehlung der Lehrperson. Zwar sind die Eltern berechtigt, sich gegen solche Entscheidungen zur Wehr zu setzen. Können sich die Lehrpersonen und Eltern jedoch nicht einigen, wird der Entscheid von den Schulbehörden gefällt. Sind die El-tern mit diesem Entscheid nicht einverstanden, können sie ihr Kind in eine Privatschule schi-cken, oder durch einen Umzug in einen anderen Schulkreis einen Schulwechsel vollziehen. In der Rational-Choice-Theorie wird davon ausgegangen, dass die Akteure, in diesem Fall die Eltern, die Möglichkeit haben, zwischen zwei Alternativen zu wählen. Wie auch qualitativ orientierte Arbeiten zu Bildungsentscheidungen feststellen, ist in der Übertrittssituation im Kanton Bern fraglich, ob Eltern tatsächlich zwischen zwei Alternativen wählen können. Was zeichnet eine solche Wahlsituation aus? Die Ergebnisse von Wiedenhorn (Wiedenhorn 2011) legen nahe, dass nur für jene Familien eine Entscheidungssituation vorliegt, die aufgrund ih-res sozioökonomischen Status in der Schule bereits privilegiert sind. Sie können sich ‚nach unten’ hin orientieren, während jene, die bereits ‚unten’ sind, keine Wahl haben nach ‚oben’

zu gelangen resp. entsprechende Ressourcen, z.B. ihren Kindern eine Privatschule zu finan-zieren, schlicht nicht haben. Auch Busse weist darauf hin, dass bereits „in Bezug auf die In-teraktion der Wahlmöglichkeiten milieubedingte Ungleichheiten bestehen“ (Busse 2010:

238), die in den Untersuchungen zu Bildungsentscheidungen nicht berücksichtigt werden.

Die Frage Schule oder Elternhaus erscheint vor dem Hintergrund der Ergebnisse zu Bildungs-ungleichheit falsch gestellt. Obwohl die soziale Herkunft den Bildungserfolg bestimmt, fällt dieser damit nicht ausschliesslich in die Zuständigkeit der Familien. Nur wenn Schule und Familie beide als in einem spezifischen lokalen Umfeld situiert wahrgenommen werden, kön-nen institutionelle Vorgaben und individuelle Handlungsansätze aufeinander bezogen werden.

Dazu eignen sich milieuspezifische Ansätze, wie sie von Vester et al. (Geiling et al. 2011;

Vester et al. 2001) vorliegen. Ihnen gelingt es, milieuspezifische Bildungsstrategien als Er-gebnis und gleichzeitig als Ursache der Position im Sozialen Raum zu diskutieren. Das Mili-eukonzept ermöglicht gleichzeitig, die durch den stetigen demographischen und sozialen Wandel bedingten Dynamiken im Sozialen Raum zu thematisieren.

In der vorliegenden Arbeit wird es darum gehen, die Interviewaussagen der Eltern auf ein spezifisches Schulumfeld im ‚Arbeiter- und Ausländerquartier’ Bern West zu beziehen. Das

Quartier erweist sich sozialstrukturell als kleinräumig segregiert (s. Kapitel 5). Es wird also davon ausgegangen, dass die im Quartier wohnhaften Milieus unterschiedliche Bezüge zum Stadtteil und seinen Schulen haben, die ihre Erwartungen und Einstellungen zur Schule mit-gestalten. Die Beschränkung auf den lokalen Kontext im Sinne einer Fallstudie, ermöglicht Dynamiken der Aus- und Abgrenzung innerhalb des Quartiers und in Bezug auf die Stadt Bern zu beschreiben. Das Bildungssystem des Kantons Bern, die gesetzlichen Grundlagen, Lehrpläne, Schulleitbilder, das Einzugsgebiet der Schulen, dies alles sind Bedingungen unter denen sich die Familien mit den im Stadtteil verfügbaren Bildungsangeboten auseinanderset-zen. Die Eltern interpretieren die schulische Situation ihrer Kinder aufgrund ihrer eigenen Schul- und Lebenserfahrungen, aufgrund ihrer Erfahrungen als Bewohnerinnen und Bewoh-ner des Stadtteils und als Arbeitnehmende. Diese Interpretationen und die daraus resultieren-den Strategien und Entscheidungen in Zusammenhang mit der Bildungslaufbahn der Kinder zu untersuchen ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.

Dabei werden die Eltern von Schulkindern in den Blick genommen, die in der Diskussion um Bildungsungleichheit – wie wir gesehen haben – wenig zu Wort kommen. In der Regel wer-den sie in der Forschung zu Bildungsungleichheit „in ihrer vorbereitenwer-den Funktion bzw. be-nachteiligenden Wirkung für institutionalisierte Bildungsbiographien wahrgenommen“ (Mül-ler 2007: 145). Wie sie diese normativen Erwartungen deuten, sich anzupassen suchen, wie sie damit umgehen, wie sie ihre Kinder durch die Schulzeit begleiten, was ihnen für ihre Kin-der schulisch wichtig ist, bleibt wenig beleuchtet oKin-der wird vor allem für sogenannt bildungs-ferne Familien eher pauschal abgehandelt. Wie ist es für Eltern, wenn ihre Bildungsstrategien für den Schulerfolg ihrer Kinder nicht greifen? Welche Möglichkeiten sehen sie, ihre Kinder zu unterstützen? Welche Erwartungen formulieren sie gegenüber der Schule? Wie erleben sie Institutionelle Diskriminierung? Diese Fragen sollen in der vorliegenden Arbeit in einem spe-zifischen lokalen Kontext anhand qualitativer Methoden im Sinne einer Fallstudie untersucht werden.

3 Methodische und methodologische Überlegungen