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6.3 Ausgrenzungserfahrungen: Aussenseiter in Quartier und Schule

6.3.2 Frau Andric: Angst vor Deklassierung und Ghettoisierung

6.3.2.3 Geringe Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler

Die ersten Tage und Wochen im Kindergarten, den beide Töchter zwei Jahren lang besuchten, fielen schwer. Sowohl Hana als auch die jüngere Schwester Taliba sprachen erst wenig

Deutsch. Sie reagierten ängstlich auf die neue Umgebung und die vielen neuen Kinder. Diese Einstiegsschwierigkeiten legten sich jedoch bald und die Töchter werden von Frau Andric als fleissig und gewissenhaft geschildert75. Kritisch ist ihre Position gegenüber den Lehrpersonen und der Schule als Organisation. „Ich empfinde die Lehrer hier als gar nicht streng. Von mir aus könnten sie noch strenger sein, dann würde es weniger Probleme zwischen den Kindern geben. Denn man hört, was in der Schule passiert. Ich denke, die Kinder haben wenig Respekt vor den Lehrpersonen. [...] weil die Kinder erzählen zum Beispiel, der hat zu dem Lehrer et-was Freches gesagt“, konkretisiert sie ihre Sichtweise. Für Frau Andric ist mangelnder Res-pekt gegenüber der Lehrperson Ausdruck eines generellen Mangels an ResRes-pekt – auch gegen-über den Eltern. „Wenn sie keinen Respekt gegengegen-über der Lehrperson haben, dann haben sie auch gegenüber den Eltern keinen Respekt“, ist sie überzeugt. Frau Andric fürchtet, dass ihre Töchter unter schlechten Einfluss geraten könnten. „Ich befürchte, dass sie [meine Kinder]

auch so werden“, erklärt Frau Andric. Insofern fühlt sie sich von der Schule und den Lehrper-sonen etwas im Stich gelassen, die aus ihrer Sicht zu wenig streng sind. „Sie müssen sagen, hier in der Schule geht das nicht, zum Beispiel geschminkt in die Schule kommen, eine

75 Hana ist ein wunderschönes Kind mit langen braunen Haaren und einem guten Selbstbewusstsein. Sie ist dis-tanziert, knabenhaft und spielt gut und gerne Fussball. Sie bekommt von den anderen Schülerinnen und Schü-lern viel Respekt, wirkt eigenständig. Was andere von ihr denken, scheint ihr egal zu sein. Als Schülerin ist sie unauffällig. Goran [s. Fallgeschichte von Frau Petrusic] und Hana sind ein Team, sie sitzen nebeneinander

derobe aus Markenartikel. Das würde ich alles verbieten. [...] Ich habe immer gesagt, sie sind zu wenig streng [...] weil es gibt Kinder, die nützen das aus. Und was ist dann in der achten oder neunten Klasse?“, führt Frau Andric weiter aus und verweist darauf, dass die Schule auf diese Weise die Kinder nicht ausreichend auf das spätere Leben vorbereitet. So stört sie sich auch daran, dass Schülerinnen und Schüler auf dem Pausenhof rauchen, jüngere Kinder pla-gen oder sich prügeln. „In letzter Zeit gab es Schlägereien in der Schule, die Mädchen sind aggressiv geworden und aufeinander los gegangen“, erklärt Frau Andric.

Die fehlende Strenge wirkt sich nicht nur auf das Benehmen aus. Sie verhindert auch, dass die Jugendlichen ernsthaft lernen. Frau Andric ist somit mit Schule A nicht zufrieden. Ihr fällt auf, dass das Curriculum der Schule ihrer Töchter weniger anspruchsvoll ist im Vergleich mit anderen Schulen im Quartier, aber auch im Vergleich zu den Anforderungen der Schule ihrer Kindheit und auch derjenigen ihrer Nichten und Neffen im ehemaligen Jugoslawien. „Hana ist jetzt in der siebten Klasse. Sie ist nicht so weit, wie wir in unserer Schule waren“, erklärt sie. Bestätigt sieht sie dies durch die Erfahrungen einer Nachbarin. „Die Tochter war hier bis zur achten Klasse in der Schule A. Dann sind sie umgezogen und sie besucht Schule D. Und dort hat sie in der achten Klasse weiter gemacht und die Kinder der Klasse waren viel weiter als jene der Schule A. [...] Für mich müssen sie in der Schule zu wenig arbeiten. [...] Ich schaue zum Beispiel Mathematik unten, im ehemaligen Jugoslawien in der vierten Klasse und was Taliba in der vierten Klasse in Schule A behandelt. Das ist ein grosser Unterschied“, ist Frau Andric überzeugt. Sie schätzt die Schule ihrer Kinder als „so locker, locker“ ein. Diese Lockerheit, so ihre Überzeugung, verhindert, dass die Schülerinnen und Schüler intensiv ge-nug lernen. Ihre Aufmerksamkeit ist nicht auf die schulischen Inhalte fokussiert sondern auf Markenkleider, Rauchen, Schminke usw.

Die Erfahrungen mit der Schulsituation der Töchter sind zum Zeitpunkt des Interviews ge-prägt von der Enttäuschung, dass Hana den Übertritt in die Sekundarschule nicht schafft. Ob-wohl sie lange eine gute Schülerin war, nehmen ihre Leistungen ab dem fünften Schuljahr vor allem im Fach Französisch ab und genügen schliesslich in keinem der Promotionsfächer (Deutsch, Mathematik, Französisch) für das Sekundarschulniveau. „Wir schauen jetzt, was passiert, ich finde, sie hat zu wenig Chancen mit Real, um nachher eine Lehrstelle zu finden“, schildert Frau Andric ihre Befürchtungen und ergänzt: „ich kenne viele Eltern, sie haben älte-re Kinder und sie haben Mühe, eine Lehrstelle zu finden mit einem Realschulabschluss, sogar mit Sekundarschulabschluss“. Hana befindet sich im ersten Halbjahr in der Probezeit. Verbes-sert sie ihre Noten, so besteht die Möglichkeit, noch in die Sekundarschule zu wechseln.

Von der Schule gibt es die Empfehlung, mit den Kindern zu lernen. „Sie haben immer gesagt, sie möchten, dass wir auch mit dem Kind zu Hause arbeiten [...] sie können nicht in dieser einen Stunde pro Fach, pro Tag so viel, die müssen schon zu Hause auch mit den Eltern üben und arbeiten“, erklärt Frau Andric. Dies ist für Frau Andric jedoch nicht einlösbar und sie ist froh, dass die Kinder sich gegenseitig helfen. „Ich habe nicht viel Zeit, ich habe jetzt drei Kinder, ich muss arbeiten, ich arbeite 100% [...] sie machen ihre Aufgaben bevor ich nach Hause komme und dann kontrolliere ich das noch. Sie passen gut auf in der Schule, denn ich kann nicht viel helfen, zum Beispiel in Deutsch. Ich bin nicht hier geboren, ich bin erst mit 21 Jahren hierher gekommen. Da kann ich nicht viel helfen, auch in Geschichte und so. Dann sage ich ihnen, sie müssen in der Schule besser aufpassen. Aber manchmal haben die Lehrer auch keine, wie soll ich sagen, keine Nerven, es noch einmal zu erklären. Manchmal kann ich auch nicht helfen. Dann sage ich, du musst nochmals fragen“. Frau Andric finanziert auch Nachhilfeunterricht in Französisch. Dies bringt jedoch nicht die erhoffte Verbesserung, denn Hana hat zu grosse Lücken, wie ihre Mutter erklärt: „Die Lehrerin hat einfach zu schnell er-klärt, Hana hat es nicht verstanden. Ich habe extra Nachhilfe bezahlt, sie hat eine extra Stunde pro Woche gehabt [...] sie hat auch manchmal Angst gehabt zu fragen, noch einmal zu fragen.

Und die Lehrperson hat keine Laune gehabt, nochmals zu erklären und ich kann nicht Franzö-sisch [...] und dann hat sie eine ziemlich grosse Lücke und jetzt am Ende hat sie eine vier ge-habt, oder nein viereinhalb im Franz“.

Die Kinder von Frau Andric sind in Bezug auf das schulische Lernen mehrheitlich auf sich gestellt und von den Lehrpersonen abhängig. Die Eltern können die schulischen Inhalte nicht erläutern. So gewinnt das Engagement der Lehrperson an Bedeutung. Dieses fehlt jedoch aus der Sicht von Frau Andric. Sie erklärt: „Manchmal habe ich das Gefühl, sie haben vielleicht kein Interesse an den Kindern, weil alle Ausländer sind“. Auch sie selber stört sich an der hohen Zahl ausländischer Schülerinnen und Schüler und an den vielen ausländischen Quar-tierbewohnerinnen und –bewohnern. Sie erklärt: „Ich möchte meine Kinder mehr unter

Schweizerkindern haben, nicht nur mit Ausländerkindern, weil sie hier leben, sie müssen auch lernen, dass sie hier leben, sich anpassen. Aber es ist schwierig, wenn sie den ganzen Tag nur mit Ausländern verbringen. Hier gibt es kaum Schweizerkinder. Sie bekommen kaum etwas von Schweizerkultur mit [...] sie sind hier geboren, sie wachsen hier auf, sie werden hier le-ben, Zukunft aufbauen [...] und wenn ich draussen schaue, hat es nur Ausländer, deutsche Sprache, also sie sprechen schon Deutsch aber zum Beispiel wenn sich die Kinder mischen, manche, sie sprechen Italienisch oder Albanisch draussen [...] ich bin Ausländerin, aber ich bin gegen Ausländer, die Probleme machen [...] ich habe auch Angst um meine Kinder.

Lei-der sind es die AuslänLei-der, die die meisten Probleme machen. Das sind auch die KinLei-der, die nachher Probleme in der Schule machen. Die Eltern haben keine Übersicht über die Kinder, das Kind hat keinen Respekt vor den Eltern, weil es konstant draussen ist. Die Eltern fragen nicht, was es macht. [...] Es gibt kleine Kinder, von denen die Eltern nicht wissen, wo das Kind ist. Sie denken, es ist draussen und es ist vielleicht im benachbarten Quartier oder weiss ich nicht wo“. Frau Andric fürchtet, dass ihre Kinder den Anschluss an die ‚schweizerische Kultur’ und Gesellschaft verlieren. In einem Quartier, in dem viele ausländische resp. fremd-sprachige Kinder und Jugendliche leben, lernen ihre Kinder nicht richtig Deutsch und werden kaum vertraut mit den Gepflogenheiten der ‚schweizerischen Kultur’. Die Qualität von Schule und Unterricht ist in diesem Umfeld mangelhaft, sodass ihre Kinder schulisch den Anschluss verpassen und Mühe haben werden, eine Lehrstelle zu finden. Die Kinder ausländischer Fa-milien sind zu wenig beaufsichtigt, sodass die Sorge besteht, die eigenen Kinder könnten un-ter schlechten Einfluss geraten und den Respekt vor Lehrpersonen und Elun-tern verlieren. Ein Umzug kommt allerdings derzeit nicht in Frage. Es ist schwierig, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Auch möchte sich die Familie in Bern einbürgern, was durch einen Wohnsitzwech-sel erschwert wird.