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5.2 Bern West: Stadtteil zwischen Auf- und Abwertung

5.2.1 Bauliche Entwicklung: Stadtteil der Grosssiedlungen

„Bümpliz war beinahe bankrott, als es zu Bern kam, aber es war auch ein prosperierender Vorort mit Landwirtschaft, Gewerbe, ein bisschen Industrie und einer wachsenden, zuneh-mend städtisch orientierten Bevölkerung. Vor allem aber hatte Bümpliz, was in den kommen-den Jahrzehnten besonders begehrt sein sollte: Landreserven. Der Landzuwachs für die Stadt war beachtlich, er stieg von 3125 auf 5165 Hektaren. Die Stadt kaufte den Bauern denn auch gleich Land ab und baute die ersten Gemeindewohnungen“ (Giger 2007:31).

Die Fläche des Stadtteils VI, der ehemaligen Gemeinde Bümpliz, wird in Abbildung 5-1 deut-lich. Bis heute überbaut sind die Bezirke 29 (Bümpliz), 31 (Stöckacker) und die südlichen Gebiete von Bethlehem (Bezirk 32). Bezirk 30 (Oberbottigen) ist ländlich geblieben.

Abb. 5-1: Einteilung der Stadt Bern in Stadtteile und Statistische Bezirke (Quelle: Sta-tistikdienste der Stadt Bern)

Die Flächenstruktur mit grossen Landgütern (daran erinnern Namen wie Fellergut, Tsch-arnergut, Schwabgut u.a.m.) ermöglichte vor allem in Bümpliz und Bethlehem grossflächigen Siedlungsbau. Während vorerst noch Reiheneinfamilienhäuser und kleinere Mehrfamilien-häuser entstanden, wurden in den 40er und 50er Jahren vermehrt Blocksiedlungen gebaut. Ab den 1960er Jahren entstanden in Bern West schliesslich jene Grossüberbauungen, die bis

heu-te für den Stadtheu-teil charakheu-teristisch sind und die öffentliche Wahrnehmung von Bern West bestimmen (s. Tab. 5-1). In der Regel wurden diese Grossüberbauungen von Genossenschaf-ten mit Unterstützung der öffentlichen Hand gebaut. Um die Areale gut ausnutzen zu können, wurden dafür eigens Sonderbauvorschriften erlassen (vgl. Bähler et al. 2003:39). So entstand in den Jahren 1958-1965 die erste, damals vielbeachtete Grosssiedlung Tscharnergut.

Tab. 5-1: Definition der Bebauungstypen, Beispiele und ihre Lage in Bern und Bern West (vgl. Gächter 2006:26)

Bebauungstyp Beschrieb Beispiele / Lage

1 Gebiete mit Einfamilien-, Reiheneinfamilien- und klei-nen Mehrfamilienhäusern

Vorwiegend Einfamilien-, Reihenein-familien- und kleinere MehrReihenein-familien- Mehrfamilien-häuser aus verschiedenen Bauperio-den

Engeried, Villette, Obst-berg, SchönObst-berg, Löchligut, Oberbottigen.

2 Blockrandbebauungen aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhun-derts

Lange Reihenhäuser mit Frontseite an der Strasse, bis zu 6 Stockwerke, Hausblöcke um Innenhöfe, wenig Grünflächen, vor dem Zweiten Welt-krieg gebaut

Teile der Länggasse, Ober-holligen, Teile von Monbi-jou und Mattenhof, vorderer Spitalacker.

3 Neuere Quartierbebauungen der 40er und 50er Jahre

Kurze Blöcke, Schmalfront gegen Strasse, lockere Bauweise, Grünflä-chen in den ZwisGrünflä-chenräumen, meist 3-4 Stockwerke, Bauperiode 193-45 bis ca. 1960

Tiefenau, Teile von Holli-gen, Wankdorffeld, Teile von Bümpliz.

4 Moderne Quartierbebauun-gen der 60er und 70er Jahre

Grosse Gesamtüberbauungen, diffe-renzierte Bauweise (Hochhäuser, Scheibenhäuser, einzelne Reihenein-familienhäuser), weitgehend verkehrs-frei im Inneren, Grünflächen, Ge-meinschaftseinrichtungen, 1960 bis gegen 1980 gebaut

Tscharnergut, Gäbelbach, Schwabgut, Fellergut, Klee-feld, Wittigkofen.

5 Neubaugebiete der 80er und 90er Jahre

Neue Überbauungen ab 1980, diffe-renzierte Bauweise, kleinere Blöcke, Terrassenhäuser, moderner Woh-nungsstandard

Holenacker, Riedernrain, Hintere Engehalde, Baum-garten, Schöngrün.

6 Zentrumsgebiete, Dienstleis-tungsgebiete, Mischzonen

Zentrumsgebiete, Gebiete mit starker Durchmischung der Bautypen, Kol-lektivhaushaltsquartiere

Altstadt, Breitenrainplatz, Zentrum Bümpliz, Inselspi-tal.

7 Industrie- und Gewerbezo-nen

Gebiete mit vorherrschender Indust-rie- oder Gewerbenutzung

Weyermannshaus, Unteres Galgenfeld, Bodenweid.

Anmerkung: Die kursiv gedruckten Beispiele befinden sich in Bern West.

Mit dem Bau der Siedlung Holenacker wurde die Phase der Hochhausüberbauungen in Bern West vorläufig abgeschlossen. Insgesamt wurden zwischen 1955 und 1985 in diesen Über-bauungen rund 7000 Wohnungen erstellt, also fast die Hälfte der heute bestehenden Wohnun-gen im Stadtteil.25 Bis heute sind die Wohnungen in Bern West durchschnittlich günstiger als

25 2008 betrug der Wohnungsbestand im Stadtteil VI 15‘810 Wohnungen und entspricht 21.3% des gesamten Wohnungsbestandes in der Stadt Bern. 23% der leeren Wohnungen in der Stadt Bern sind in Bern West vorzufinden (vgl. Stadt Bern Präsidialdirektion Abteilung Stadtentwicklung 2009:289).

in anderen Stadtteilen.26 Die verbreiteten 31/2-Zimmerwohnungen entsprechen heute jedoch nicht mehr den Wohnraumbedürfnissen von Familien (Bäschlin 1998; 2004).27

Wie aus Tabelle 5-1 hervorgeht, stand der Bau von Grosssiedlungen in Bern West im Vorder-grund. Es sollte günstiger Wohnraum für möglichst viele Familien geschaffen werden. Daraus entstand die charakteristische bauliche Struktur des Stadtteils, „die patchworkartige Anord-nung unabhängiger Siedlungen“ (Stadt Bern Präsidialdirektion StadtplaAnord-nungsamt 2005:8).

Eher typisch städtische Siedlungen, wie die Blockrandbebauungen des Typs 2 sucht man in Bern West vergeblich. Die Grosssiedlungen haben jeweils einen einheitlichen architektoni-schen Ausdruck. Die Architektinnen und Architekten orientierten sich an den städtebaulichen Leitbildern der Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit (vgl. Stadt Bern Ge-meinderat 2005:20).

Die Bezirke Bümpliz, Stöckacker und Bethlehem haben also im 20. Jahrhundert eine enorme Bautätigkeit erfahren. Dennoch gibt es in Bern West nach wie vor grosse Baulandreserven.

Um den städtischen Wohnraumbedarf längerfristig zu decken, gehen die Behörden bis zum Jahr 2020 von einem zusätzlichen Wohnungsbedarf von rund 1200 Wohnungen aus (vgl.

Stadt Bern Präsidialdirektion Stadtplanungsamt 2007:4). Ein Teil dieses Bedarfs soll erneut in Bern West entstehen. So ist Brünnen im Bezirk Bethlehem das derzeit grösste städtische Ent-wicklungsgebiet der Stadt Bern (vgl. Tschäppät 2009:7). In diesem Bereich entstehen seit 2006 rund 1000 neue Wohnungen für 2600 Personen. Unter dem Motto „urban und doch ländlich“ soll eine „städtisch geprägte Quartierstruktur“ gebaut werden, die gleichzeitig „di-rekten Zugang zu weitläufigen Naturräumen“ bietet (Stadt Bern Abteilung Stadtentwicklung 2006:2). Damit wird das Grundmuster der Bebauung in Bern West mit aktualisierten städte-baulichen Leitbildern weitergeführt. Da Arbeiten und Wohnen heute nicht mehr zwingend getrennt werden sollen, sehen die neuen Überbauungen in Brünnen verschiedene, auch ge-werbliche Nutzungsmöglichkeiten vor. Mit dem Einkaufszentrum Westside ist zudem ein architektonisches Aushängeschild für das neue Quartier entstanden, das überregional

26 So kostet im November 2008 eine 3-Zimmer-Wohnung im Stadtteil VI durchschnittlich Fr. 912.-.

Zum Vergleich: eine 3-Zimmer-Wohnung in der Inneren Stadt (Stadtteil I) kostet 1532.--, im Stadtteil Breitenrain-Lorraine (Stadtteil V) finden sich die durchschnittlich zweitgünstigsten 3-Zimmer-Wohnungen zu einem Preis von Fr. 1137.— (Stadt Bern Präsidialdirektion Abteilung Stadtentwicklung 2008a:6).

27 Die meisten Wohnungen in Bern West sind 3-Zimmer-Wohnungen (7013, 44%; Stadt Bern 38.3%), gefolgt von 4-Zimmer-Wohnungen (3920, 24.8%; Stadt Bern 18.9%), 2-Zimmer-Wohnungen (2666, 15.9%; Stadt Bern 22.7%), 5-Zimmer-Wohnungen (1201, 7.6%; Stadt Bern 8.7%) und 1-Zimmer-Wohnungen (1010, 6.4%; Stadt Bern 11.5%) (Stadt Bern Präsidialdirektion Abteilung

strahlen soll.28 Zielgruppen dieser Quartierentwicklung sind Familien und die „Mittelschicht“

(Stadt Bern Abteilung Stadtentwicklung 2006:6). Ein Teil des neu entstehenden Wohnungs-angebots ist denn auch als Wohneigentum konzipiert und soll somit zahlungskräftigere Be-völkerungssegmente ansprechen. Ziel der Wohnbaupolitik der Stadt Bern ist es, den Bevölke-rungsschwund zu bremsen. Der Gemeinderat der Stadt Bern wünscht sich, dass „gute Steuer-zahlerinnen und –zahler hier wohnen bleiben oder in die Stadt ziehen“ (Stadt Bern Gemeinde-rat 2005:30). Insbesondere jungen Familien soll ein attraktives Wohnraumangebot geboten werden (vgl. ebd:3). Entsprechend wird Infrastruktur mit Schule, familienergänzenden Ange-boten, Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche, Gemeinschaftsräumen sowie Altersein-richtungen gebaut (vgl. ebd.:5).

Seit längerer Zeit versucht die Stadtregierung Bern West aufzuwerten, das mit vielerlei Vor-urteilen bedacht ist. Das Stadtplanungsamt schreibt im Jahr 2005: „Das Quartier hat über-durchschnittliche Qualitäten, die von aussen aber oft zu wenig oder gar nicht wahrgenommen werden“ (Stadt Bern Präsidialdirektion Stadtplanungsamt 2005:38). Als Ziele für die Quartie-rentwicklung in Bern West wurde – nebst anderen – denn auch ausdrücklich formuliert: „Ab-bau der Vorurteile gegenüber dem Quartier Bümpliz/Bethlehem“ (Stadt Bern Direktion für Planung Verkehr und Tiefbau 2004:2). Die Grosssiedlungen aus den 50er bis 80er Jahren do-minieren das Erscheinungsbild und das Image von Bern West, sei es als Ausdruck moderner Wohnformen in den 50er und 60er Jahren, sei es als Inbegriff der Anonymität und des sozia-len Abstiegs seit den 80er Jahren. Das Stadtmarketing erhebt die Entwicklung in Bern West zum Inbegriff hoher Lebensqualität und ‚mittelständischer’ Wohnbedürfnisse und –ansprüche und damit zum Leitbild heutiger Stadtentwicklung. Bern West wird zum „Stadtteil mit Zu-kunft“ (Westkreis 6 Verein zur Förderung von Bümpliz/Bethlehem/Bottigen/Riedbach 2009:7). Ist das Wohnen im Westen Berns heute wieder angesagter, so gilt dies vor allem für die neu entstehenden Siedlungen im Bereich des Entwicklungsschwerpunkts Brünnen. Wel-che Auswirkungen diese Entwicklung auf den Stadtteil insgesamt oder auch einzelne Quar-tierteile und Schulen haben wird, ist momentan nicht abzuschätzen. Bern West ist in sich kein einheitliches Gebilde. Die einzelnen Bezirke unterscheiden sich durchaus in ihrer demogra-phischen resp. sozialräumlichen Entwicklung voneinander. Dies wird in den nächsten Kapi-teln thematisiert.

28 Architekt Libeskind beschreibt seinen Bau wie folgt: „So etwas wie hier gibt es noch nirgends auf der Welt. Dieses nahtlose Nebeneinander von Einkaufszentrum, Altersresidenz, Hotel und

Freizeitangeboten in Verbindung mit der Natur, der neuen Wohnüberbauung Brünnen und der Bausubstanz der nahen Berner Altstadt ist einmalig. Westside ist ein urbaner Marktplatz und eine stimulierende Erlebnisdestination mit internationalem Flair“ (Libeskind 2010).