• Keine Ergebnisse gefunden

Die drei Teile werden durch eine Rahmenhandlung miteinander verbunden. Ein unbekannter Erzähler schildert, wie der Abbé de la Tour ein Gespräch mit der Baronin von Berghen führt. Der Abbé ist zugleich fiktiver Herausgeber und Erzähler des ersten Hauptteils.

Dieser Dialog gibt dem Leser einleitend Antworten auf drei zentrale Fragen. Erstens: Für welche Zielgruppe wird die Geschichte der drei Frauen erzählt?

Pour qui écrire désormais? disoit l’Abbé de la Tour. Pour moi, dit la jeune Baronne de Berghen. On ne pense, on ne rêve que politique, continua l’Abbé.

J’ai la politique en horreur, répliqua la Baronne, et les maux que la guerre fait à mon pays, me donnent un extrème besoin de distraction. (TF, S.41)

Es wird also eine junge, weibliche Zuhörerin angesprochen, die nichts mehr von Politik hören, sondern lieber angenehm zerstreut werden möchte. Die Unterhaltung des Abbés mit der Baronin steht symbolisch für die Interaktion zwischen Autor und Leser. Der Abbé als Erzähler entspricht dem Autor. Die Baronin nimmt als Zuhörerin die Rolle des Lesers ein. Die Erwartungen der Baronin beeinflussen die Handlung des Abbés. Zweitens: In welchem Stil wird der Roman geschrieben sein?

Mais non, je ne pourrois pas [vous distraire], dit l’Abbé; mon stile vous paroîtroit si fade au prix de celui de tous les Ecrivains du jour! Regarde-t-on marcher un homme qui marche tout simplement, quand on est accoutumé à ne voir que tours de force, que sauts perilleux? Oui, dit la Baronne, on regarderoit encore marcher quiconque marcheroit avec passablement de grace et de rapidité vers un but intéressant. (TF, S.41)

Es erwartet den Leser ein einfacher, aus der Mode gekommener Sprachstil, mit dem ohne große Umschweife ein interessantes Thema behandelt wird. Hierdurch rechtfertigt Isabelle de Charrière ihren Lesern gegenüber ihren eher konservativen Schreibstil.

Drittens: Um welches Thema wird es gehen?

Les conversations que nous eûmes ces jours passés sur Kant, sur sa doctrine du devoir, m’ont rappellé trois Femmes que j’ai vues. [...] Je me suis convaincu auprès d’elles qu’il suffit, pour n’être pas une personne dépravée, immorale, et totalement méprisable ou odieuse, d’avoir une idée quelconque du devoir, et quelque soin de remplir ce qu’on appelle son devoir. N’importe que cette idée soit confuse ou débrouillée, qu’elle naisse d’une source ou d’une autre, qu’elle se porte sur tel ou tel objet, qu’on s’y soumette plus ou moins imparfaitement.

(TF, S.41)

Der Roman behandelt demnach ein philosophisches Thema, namentlich das der moralischen Pflicht. Und der Leser erfährt bereits, dass der Abbé sich gegen eine zu strenge Moralauffassung aussprechen wird.230

Im ersten Teil der Trois Femmes tritt nun der Abbé als auktorialer Erzähler auf. Diese allwissende Position erlaubt es ihm, jedes Gespräch und jede Gefühlsregung der Romanfiguren zu schildern.

Im Widerspruch hierzu steht, dass der Abbé selbst Teil des Personenkreises in Altendorf ist: „[Elle] alla droit à la Dame, qui étoit à la porte du château avec son mari, son fils et un émigré François, abbé. (C’étoit moi qui, déjà connu dans cette maison, arrivois à l’instant de Munster.)“ (TF, S.50) Als Freund der Protagonisten kann er sich besser für die Authentizität des Erzählten verbürgen. Doch wir erfahren auch indirekt, dass der Abbé als Erzähler nicht ganz objektiv sein kann, denn er hat eine Schwäche für Constance: „Théobald et Emilie me presserent de passer au moins l’hiver avec eux; mais je trouvais peu sûr, pour mon repos, de passer un hiver entier auprès de Constance.“ (TF, S.85)

230 Diese Einleitung ist insofern bemerkenswert, als die Schriftstellerin auf einer Metaebene den Sinn und Zweck ihres Romans diskutiert. Das fiktive Gespräch zwischen Autor und Zuhörer erinnert sehr an Diderot. Dieser schreibt am Anfang von Ceci n’est pas un conte: „Lorsqu’on fait un conte, c’est à quelqu’un qui l’écoute; et pour peu que le conte dure, il est rare que le conteur ne soit interrompu quelquefois par son auditeur. Voilà pourquoi j’ai introduit dans le récit qu’on va lire, et qui n’est pas un conte ou qui est un mauvais conte, si vous vous en doutez, un personnage qui fasse à peu près le rôle du lecteur, et je commence.“ (Diderot, Denis. Ceci n’est pas un conte. In:

Œuvres complètes. Bd. 12 (Paris 1989), S.521.) Isabelle de Charrière kannte Diderot persönlich. Sie hat sich mehrfach mit ihm unterhalten. (vgl.

Vissière, 1988, S.104f.).

Mit seinem Fortgang von Altendorf endet der erste Teil, und die Rahmenhandlung wird erneut aufgegriffen. Die Baronin zieht eine Zwischenbilanz und kritisiert den Abbé:

[...] vous avez présenté des objets respectables sous un point de vue ridicule, et cela a déplu à plusieurs personnes de ma société. Ce n’est pas ma faute, et c’est très-fort contre mon intention, dit l’Abbé. (TF, S.89)

Der Vorwurf der Baronin, „des objets respectables“ seien ins Lächerliche gezogen worden, deutet bereits darauf hin, dass der Romantext gegen die Stiltrennungsregel verstößt und dass sich die Autorin dessen bewusst ist. Wir werden hierauf später noch näher eingehen.

Wie bereits in der Einleitung ist auch dieses Gespräch eigentlich ein Dialog zwischen Isabelle de Charrière und ihren Lesern, deren Einwände und Kritik sie antizipiert und gegen die sie sich zur Wehr setzt.

Der zweite Teil von Trois Femmes besteht aus zwölf an den Abbé gerichteten Briefen, deren Verfasserin größtenteils Constance ist.

Auf diese Weise wechselt Isabelle de Charrière die Perspektive und das Genre. Der Abbé bleibt zwar der ‘Herausgeber’ des Geschriebenen, doch nun haben wir es mit einem weiblichen Ich-Erzähler in einem Briefroman zu tun. Constance kündigt selbst einen ‘trockenen’ Sprachstil an, und zum wiederholten Male bekommt man den Eindruck, Isabelle de Charrière entschuldigte sich etwas unsicher bei ihren Lesern: „[...] l’on m’a toujours reproché un stile sec et décousu.“ (TF, S.91)

Tatsächlich sind Constances Briefe teilweise etwas anstrengend zu lesen, da sie eine Vielzahl von unzusammenhängenden theoretischen Überlegungen enthalten. Sie will nicht mit der Schilderung einer netten Liebesgeschichte unterhalten, sondern fordert ihr Gegenüber - primär den Abbé, in einem zweiten Schritt die Baronin von Berghen und auf einer dritten Ebene den Leser der Trois Femmes - zum Nachdenken heraus. Constances Briefe sind

kein reiner Monolog, denn auch wenn die Briefe des Abbés nicht abgedruckt sind, entsteht eine indirekte Interaktion zwischen den beiden, da sie sich auf Aussagen bezieht, die er gemacht haben soll.

Darüber hinaus nehmen vereinzelt Théobald und Emilie die Feder zur Hand, so dass Constances Ausführungen aufgelockert werden.

Constance schreibt: „Ne voilà-t-il pas qu’un indiscret [Théobald] a lu par-dessus mon épaule pendant que j’écrivois. Il me demande ma plume.“ (TF, S.94) An anderer Stelle fügt Emilie einige Sätze in einen Brief ein, da sich Constance zu diesem Zeitpunkt gerade um zwei Neugeborene im Dorf kümmert. Emilie formuliert sehr langatmig, so dass Théobald ungeduldig zur Feder greift und schreibt: „Emilie vous fait trop languir.“ (TF, S.112). Nur einen Satz später setzt Emilie den Brief wieder fort: „Je vous raconterai comment cela est arrivé.“ Diese Details verleihen den Briefen Wirklichkeitsnähe, da die Gründe, aus denen sich die Briefschreiber abwechseln, lebensnah sind.

In Brief XI kommt es nochmals zu einem Einschub, denn Théobald schickt dem Abbé das Manuskript eines Wörterbuchs, das er für seine Schüler geschrieben hat.

Ursprünglich endete der Roman mit Brief XII, doch die Autorin entwarf eine Fortsetzung (Suite). Sie beginnt wiederum auf der Ebene der Rahmenhandlung. Wir erfahren, dass der Abbé und die Baronin von Berghen für mehrere Monate getrennt waren und dass die Baronin bei einem Wiedersehen den Abbé um das Ende der Geschichte bittet. Der auktoriale Erzählstil des ersten Teils wird wieder aufgegriffen. Der Abbé de la Tour spricht seine Leserin im Text an:

Voila Madame une longue digression à propos de Josephine et de la vie qu’elle menoit à Altendorp (sic) en l’absence de sa Maitresse mais ce n’est pas sans dessein que je me suis écarté de mon sujet. Tot ou tard il falloit vous faire connoitre un homme interessant dans l’histoire de Constance. (TF, S.140)

Nach einem langen Spannungsbogen erfahren wir jetzt in Form einer analytischen Erzählung nach und nach wichtige Details aus

der dunklen Vergangenheit von Constance. Die eigentliche Handlung des Romans, das heißt die Erlebnisse der drei Frauen in Altendorf und Zell, bricht ab, und es kommt erneut zum Erzählerwechsel. Constance wird zur Ich-Erzählerin ihrer eigenen Geschichte (TF, S.145ff.), wobei sie weit zurückgeht in die Kolonialzeit Mitte des 18. Jahrhunderts. Gelegentlich wird sie von Monsieur de Merival unterbrochen, der wie in einem Kriminalroman als weiterer ‘Zeuge’ für die Geschehnisse der damaligen Zeit fungiert.

Es ist deutlich geworden, dass Trois Femmes eine uneinheitliche Struktur aufweist. Es lässt sich festhalten, dass insgesamt eine Entwicklung vom männlichen zum überwiegend weiblichen Erzähler stattfindet. Karmarkar sieht hierin einen Befreiungsakt der weiblichen Autorin: „C’est un roman expérimental dans la mesure où il semble illustrer une certaine progression dans la libération de la voix narrative et du rôle de l’auteur [...].“231

Im folgenden wollen wir versuchen, die Stellung des Romans, oder vielmehr seiner einzelnen Abschnitte, in der Romantradition zu bestimmen.

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 135-139)