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5.2 Die Struktur der Nuits révolutionnaires

5.2.2 Tagebuch

Rétif gewährt dem Leser häufig offene Einblicke in sein Privatleben, und M. Bender ist der Auffassung, dass die Niederschrift der Erlebnisse für den Autor eine Möglichkeit darstellte, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Sie bemerkt hierzu:

Damit setzt Rétif in den „Nuits révolutionnaires“ ein Verfahren um, das nahezu für sein gesamtes Schaffen kennzeichnend ist: Im Zusammenspiel authentischer und literarischer Figuren entsteht ein Medium autobiographischer Auseinandersetzung, in dem sich der Autor im Spannungsfeld zwischen Identifikation und Distanzierung bewegt.319

316 Das erste sogenannte periodical paper ‘Tatler’ wurde in England von Richard Steele ab 1709 herausgegeben. Marivaux brachte mit seinem

‘Spectateur Français’ das Genre ab 1721 nach Frankreich. Rétif setzt diese Tradition fort und nennt sich in Anlehnung an seine Vorläufer Spectateur nocturne. Näheres hierzu findet sich bei Graeber, 1986.

317 Rétif berichtet an dieser Stelle auch von seiner Liebe zu Mme Paragon, der Ehefrau des Mannes, bei dem er als Heranwachsender in die Lehre gegangen ist.

318 Es handelt sich um Félicitette Prodiguer, der er in seinem Frauen-Kalender den 16. Dezember gewidmet hat.

319 Bender, 1995, S.115.

Doch das Schreiben hat auch noch eine andere Dimension bei Rétif.

Er möchte sein Leben verewigen: „Les jours d’un grand travail furent toujours pour moi d’heureuse mémoire: car les effets restent.“

(NR, S.283) Durch seine Romane verspricht er sich Unsterblichkeit.

Er möchte nicht vergessen werden. Gleichzeitig möchte er aber auch selbst sein Leben nicht vergessen. Er macht seine Tagebuchaufzeichnungen und die kleinen Notizen auf der Île Saint-Louis, weil er gerne in Erinnerungen schwelgt: „[...] je fis presque le demi-tour de mon île, et [...] je revins à la date du 25 novembre-7. Je la lus, et la baisai; car j’aime les commémo-rations.320“ (NR, S.280) Rétif braucht das Schreiben, um besser seine Existenz fühlen zu können und somit auch um verlorene Zeit wiederzufinden. In dieser Hinsicht ähnelt er laut Testud Proust: „Il est obsédé par le besoin d’écrire parce qu’il est obsédé par la fuite du temps.“321 Seine Besessenheit vergleicht Rival mit religiöser Hingabe: „L’un des premiers il [Rétif] pratique l’engagement total en littérature, étant l’un des rares écrivains de son temps à y être entré comme en religion.“322

Pierre Testud weist darauf hin, dass Rétif nicht lediglich sein Leben verewigt, sondern seine Wunschvorstellungen. Er möchte sein eigener Schöpfer sein und sich durch das Schreiben neu definieren:

Par la transcription immédiate, sa vie accède à une autre réalité, à une autre intensité: il donne à ses malheurs un public et une destinée littéraire. Il cesse d’être simplement une victime pour devenir le héros d’une pièce dramatique.323

Rétif macht sich selbst zum Protagonisten seiner Geschichten, indem er vorgibt, bei vielen wichtigen politischen Ereignissen, von denen er berichtet, persönlich anwesend gewesen zu sein.

Stellenweise behauptet er sogar, das Geschehen maßgeblich beeinflusst zu haben:

320 Das Datum erinnert ihn offensichtlich an eine Liebesbeziehung, auf die er aber nicht weiter eingeht.

321 Testud, 1980, S.567.

322 Rival, 1982, S.288.

323 Testud, 1980, S.528.

Pour moi, je me disais: «Voilà le moment, ou jamais, de former une milice nationale!» Je ne travaillai pas. Je me levai du matin, pour l’unique fois depuis de longues années, et j’allai trouver les ouvriers, les artistes de ma connaissance: «Amis! leur dis-je, courez à vos districts, dites-leur qu’il faut que les bourgeois honnêtes s’arment, pour se préserver des brigands et des hommes grossiers! » (NR, S.48)

Hierdurch gelingt es ihm, sich selbst als Held in den Mittelpunkt zu stellen. Als die Lebensmittelgeschäfte in Paris am 26./27. Februar 1793 geplündert werden, erzählt der Autor, wie er einen Geschäftsinhaber und seine Familie vor Banditen rettet: „On me remercia comme un libérateur.“(NR, S.320)

Rétif erhebt sich in seinen Aufzeichnungen zu einer Art Supermann, dem „hibou de Paris“, der durch die Strassen von Paris läuft und das Verbrechen bekämpft: „Reprends, hibou, ton vol ténébreux! Jette encore quelques cris funèbres en parcourant les rues solitaires de cette vaste cité, pour effrayer le crime, et les pervers!“ (NR, S.190f.) Er möchte aus sich eine unvergessliche Figur machen, die man an ihrem blauen Mantel erkennt. Doch in Wirklichkeit war Rétif kein mutiger Retter, sondern selbst ein ängstliches Opfer von Angriffen und Verhaftungen. Und so gibt er zu: „Une foule d’événements se passèrent jusqu’au 27 février 1791: mais les dangers de la nuit [...]

me retenaient les soirs au café Robert-Manouri.“ (NR, S.198) Hier wird deutlich, dass er gar nicht so viele wichtige Ereignisse selbst erlebt haben kann. Tatsächlich ist sein Stammcafé der Ort, an dem er den Stoff für seine Erzählungen sammelt. Er erfährt die Anekdoten von anderen Gästen aus dem Café. Testud geht sogar so weit zu behaupten, alle Informationen Rétifs seien aus zweiter Hand:

Toute son information est une information de seconde main: il utilise les propos entendus au café Manouri, ou dans la librairie de la veuve Duchesne (le Journal révèle une fréquentation quasi quotidienne de ces endroits-là au cours de cette période), pour imaginer des scènes de rues où il joue un rôle de premier plan. Son égocentrisme ne lui permet pas de se représenter en simple

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 198-0)