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Zur Struktur des Briefromans

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 22-25)

Zu Beginn des Romans gibt sich Sénac de Meilhan als ‚Herausgeber’

der Briefsammlung aus, und im weiteren Verlauf äußert er sich in dieser Funktion an wenigen Stellen in Fußnoten59. Der Hinweis, es handele sich um eine wahre Geschichte, ist ein sehr typisches Element des Briefromans im 18. Jahrhundert. Der Autor verbürgt sich auf diese Weise für die behauptete Authentizität der Briefe. Um diesen Eindruck zu verstärken, verfasste Sénac neben den 176 Briefen noch zwei Kurzbiographien60, die Maximen von Saint Albans Vater (E, Brief CXXIV), einen Auszug aus der Zeitung Gazette de ***

(E, Brief CLXIII) sowie das Testament des Marquis de Saint Alban (E, Brief CLXIII).

Der Spannungsbogen der Handlung nimmt einen klassischen Verlauf. Um dies zu verdeutlichen, kann man den Roman in fünf Abschnitte unterteilen:

a) Einleitung (E, Briefe I-XXIX, Bd.1): Der Leser erfährt Ort und Zeit der Handlung. Die wichtigsten Personen werden erwähnt.

b) Verdeutlichung des Konflikts (E, Briefe XXX-LVIII): Die ersten Gefühle treten zutage. Alban und Victorine können ihre Liebe zueinander immer schwerer verbergen.

c) Crescendo und Klimax (E, Briefe LIX-CXXXV): Alban hat seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle, so dass er an Selbstmord denkt. Finanzielle Nöte und der Tod des Vaters verschlimmern seine Situation.

d) Täuschendes Glück (E, Briefe CXXXVI-CLIII): Für kurze Zeit scheint es einen glücklichen Ausgang zu geben, nachdem Victorines Mann gestorben ist.

e) Dramatisches Ende (E, Briefe CLIV-CLXXVI): Die Nachricht vom Tod Marie-Antoinettes leitet das tragische Ende ein.

59 Die Fußnoten sollen beim Leser regelmäßig in Erinnerung rufen, dass Sénac lediglich eine „echte“ Briefsammlung in Druck gegeben habe. (E, Brief XXI, LXXV und LXXXII.)

Wenn man nun die einzelnen Abschnitte näher betrachtet, erkennt man, dass die Anzahl der Verfasser und Empfänger von Briefen in den jeweiligen Teilen variiert und dadurch eine Struktur entsteht, die auf deutliche Weise den Inhalt des Romans unterstreicht61. Zu Beginn stehen vorwiegend Briefe von Emilie und Victorine. Alban ist noch verletzt und kann daher nur selten einen Brief an den Président de Longueil diktieren. Die beiden Protagonisten tauschen ihre Gedanken mit ihren langjährigen Vertrauten aus. Es besteht noch keine Korrespondenz zwischen den verschiedenen Nationalitäten.

Im Brief XXIII erfahren wir, dass die Duchesse de Montjustin auf Loewenstein eingetroffen ist. Diese Cousine Albans erweitert den Kreis und erhält nun auch von Alban Post (E, Brief XXVIII).

Während der junge Mann mit Longueil eher über gesellschaftliche Probleme philosophiert, wird seine Cousine zur Ansprechpartnerin in Herzensangelegenheiten.

In Brief XXXV schreibt zum ersten Mal Victorines Onkel an Alban und damit ein Vertreter der Loewensteins an den Emigranten. Dies macht deutlich, dass der junge Franzose von den Deutschen integriert wird. Wenig später tritt auch die Duchesse de Montjustin direkt mit Victorine in Kontakt (E, Brief L). Die Bindungen zwischen den beiden „Lagern“ intensivieren sich, bis schließlich Alban zum ersten Mal direkt an Victorine schreibt (E, Brief LIX)62. Im Laufe der Zeit erhöht sich nicht nur der Anteil an Briefen mit sentimentalem Inhalt, sondern es steigt auch die Anzahl der Briefschreiber sowie die Anzahl der Adressaten. So tritt

60 Histoire du Marquis de Saint Alban (E, Brief X), Histoire de la Vicomtesse de Vassy (E, Brief XCIV).

61 Eine sehr detaillierte Strukturanalyse mit hilfreichen Schaubildern findet sich bei Deubel, 1979.

62 Die Unterteilung, die Negri vornimmt, ist weniger sinnvoll. Seiner Ansicht nach erreicht der Konflikt erst mit Brief LXI den Höhepunkt.

Ferner ist er der Auffassung, die scheinbare Lösung beginne mit Brief XCVI, wohingegen der Tod von Victorines Mann bereits in Brief CXXXVI bekannt wird. (Vgl. Negri 1972.)

beispielsweise Bertrand, der Kammerdiener Albans, in Aktion. Die Struktur wird komplexer und zeigt damit, dass das soziale Geflecht enger und die Kontakte intensiver werden. Zugleich werden auch die Probleme komplexer.

Der längste Brief, der etwa in der Mitte des Romans angesiedelt ist, stammt von Emilie (E, Brief XCIV). Sie sendet ihrer Freundin die Biographie einer Bekannten, der Vicomtesse de Vassy. Die sterbenskranke Vicomtesse hat vordergründig nichts mit der Handlung des Romans zu tun, da sie keinen Kontakt zu den Personen auf Schloss Loewenstein hat und das Geschehen nicht beeinflusst. Ihre Geschichte bildet einen deutlichen Einschnitt und fungiert als retardierendes Moment. Bei näherem Hinsehen lässt sich jedoch noch eine weitere Funktion dieser Biographie erkennen.

Sie weist auffällige Parallelen zur eigentlichen Handlung des Emigré auf. Genau wie Victorine war die Vicomtesse mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet und verliebte sich in einen jüngeren Mann. Ein anderer Verehrer fertigte heimlich ein Gemälde von ihr an, das sie später kompromittierte. Auch Alban hat heimlich ein Porträt von Victorine gemalt, das fast in die falschen Hände geraten wäre. Als der Mann der Vicomtesse stirbt, lebt sie für kurze Zeit ein freies, glückliches Leben an der Seite des adeligen Mannes, den sie liebt. Doch dieser muss trotz der politischen Gefahren nach Frankreich zu seiner kranken Mutter reisen. Die Vicomtesse fährt ihm nach und wird von Revolutionären verhaftet. Ihr gelingt zwar die Flucht, doch das Schicksal des Geliebten bleibt ungewiss, und sie erkrankt an einer tödlichen Lungenentzündung. Der Leser weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Victorines Mann sterben und dass die Revolution das Glück von Alban und Victorine zerstören wird, doch die Geschichte der Vicomtesse de Vassy wirkt wie eine dunkle Vorausdeutung. Negri bezeichnet sie als doppelseitigen

Spiegel63. In ihrer zentralen Position reflektiert sie sowohl die bisherige als auch die zukünftige Handlung des Emigré.

Der letzte Teil des Romans kündigt sich mit einer deutlichen Strukturänderung an. Das tragische Ende findet in der äußeren Form seinen Ausdruck. Die Harmonie wird gestört, weil die Gemeinschaft bei Albans Einberufung auseinander bricht.

Dementsprechend verringert sich die Zahl der Briefschreiber drastisch. Victorine schreibt keinen einzigen Brief mehr. Sie ist sprachlos vor Entsetzen. Alban kann ihr zwar noch schreiben, doch es findet kein Austausch mehr statt, wodurch die Trennung der Liebenden beziehungsweise die Isolation Albans betont wird. Mit der Nachricht von Albans Tod verstummt auch der Président de Longueil. Während zu Beginn die Protagonisten ihren Vertrauten geschrieben hatten, schreiben sich zuletzt nur noch die jeweiligen Vertrauten Emilie und Albans Cousine gegenseitig (CLXVII-CLXXV). Sénac hat Victorine buchstäblich ausgelöscht, noch ehe sie tot ist. Zum Schluss schweigt sogar Emilie. Ein Arzt teilt den Tod von Victorine mit, da die Betroffenen keine Worte mehr finden.

Es ist deutlich geworden, dass Sénac die Gattung geschickt gewählt hat, um den Spannungsbogen der Handlung zu akzentuieren. Er hat parallel zum inhaltlichen Verlauf die Anzahl der Briefschreiber und die Kommunikationsstruktur der handelnden Personen variiert. Im folgenden werden wir sehen, dass sich der Briefroman auch noch aus einem anderen Grund gut für eine sentimentale Liebesgeschichte eignet.

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 22-25)