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Suzette - Dankbarkeit ist Pflicht

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 93-97)

Die Titelfigur des Romans hat zwei wichtige Funktionen, zum einen auf der moralisch-didaktischen Ebene in ihrer Rolle als Idealtypus einer tugendhaften Frau, zum anderen auf der soziologisch-politischen Ebene als mittelloses Mädchen, dem der Aufstieg in die

höhere Gesellschaft gelingt. Die Handlung erwächst aus Suzettes ungewöhnlichem Charakter, der hier näher untersucht werden soll.

Suzette wird im Alter von elf Jahren nach dem Tod ihrer Eltern zunächst von einer armen, kinderreichen Familie aufgenommen, bevor Mme de Senneterre veranlasst, dass sie bei ihrem Verwalter untergebracht wird. Die reiche Dame ist dermaßen angetan von der Anmut des jungen Mädchens, dass sie in Versuchung gerät, ihre standesbedingten Prinzipien aufzugeben:

Quand je la vis, je fus tentée d’abandonner les règles de prudence que je m’étais tracées, et de la prendre avec moi. Jamais la nature n’a rien fait de plus beau, jamais à la beauté ne se joignit un charme aussi irrésistible que celui qu’on éprouvait en regardant Suzette. (DS, S.62)

Schon hier zeigt sich, dass Suzette eine Ausnahmeerscheinung darstellt, zumal sie von Natur aus nicht nur hübsch, sondern auch intelligent ist (DS, S.68). Wie schon Richardson in Pamela weist Fiévée auf den Ausnahmecharakter seiner Heldin hin und macht sie nicht zum Prototyp der unteren sozialen Schicht.

Mme de Senneterre ermöglicht Suzette eine Dorfschulbildung, die aus ihr eine fleißige, bescheidenene und pflichtbewusste junge Frau werden lässt. Als sie im Alter von sechzehn Jahren zum ersten Mal Adolphe begegnet, reagiert sie zurückhaltend auf dessen Sympathiebekundungen und verbirgt ihre wahren Gefühle. Ihr Ziehvater berichtet Mme de Senneterre: „[...] si Suzette l’aime, elle le cache avec soin à elle, aux autres, à votre fils même, car nous n’avons nul reproche à lui faire.“ (DS, S.63) Suzettes Tugend verbietet ihr, sich mit dem Sohn ihrer Wohltäterin einzulassen: „[...]

la vertu m’était aussi chère que mon amour; je pouvais souffrir, mais non manquer à mes devoirs.“ (DS, S.93)

Suzettes Verhalten zeichnet sich durch Passivität aus. Sie lässt Mme de Senneterre über ihr Schicksal bestimmen. Gegen ihre Gefühle verzichtet sie auf Adolphe und willigt in eine standesgemäße Hochzeit mit dem Bauern Chenu ein.

Suzette reagiert auf den Wunsch der Pflegemutter mit Dankbarkeit, da diese dem mittellosen Mädchen eine großzügige Aussteuer mitgibt. Selbst Jahre später bezeichnet sie Mme de Senneterre als ihre Wohltäterin, obwohl sie ihr eine unglückliche Ehe zu verdanken hat, und fühlt sich der Pflegemutter gegenüber verpflichtet. Hier wird deutlich, dass Fiévée in seinem Roman einen anderen moralischen Schwerpunkt legt als Richardson. Beide Werke sind erbaulich, doch während Richardsons Heldin es vor allem als ihre Pflicht ansieht, ihre Unschuld zu wahren, besteht Suzettes Pflicht in Dankbarkeit gegenüber der Wohltäterin. In seinem Vorwort zu La dot schreibt Fiévée:

Mais comme je désire donner aux personnes qui lisent, une idée de l’imagination qu’il faut avoir pour être vrai en inventant, je supposerai un auteur désirant peindre la reconnaissance sans l’affaiblir, sans l’exagérer. Voici la première question qu’il se fera:

«La reconnaissance est-elle un sentiment ou un devoir?»

Voici la réponse, et elle exigeait quelques réflexions:

«Dans sa première explosion, la reconnaissance est un sentiment plus ou moins vif, à proportion de la nécessité plus ou moins pressante du bienfait; la première explosion passée, la reconnaissance s’affaiblit comme sentiment, et rentre alors dans la classe des devoirs. [...] Le triomphe de l’état social, est d’avoir érigé en obligation dont l’observance devient vertu, des sentiments qui, dans l’état naturel, se seraient affaiblis par l’effet seul du temps. » (DS, S.43f.)

Der Autor wollte anhand von Suzette zeigen, wie ein spontanes, natürliches Gefühl von Dankbarkeit nicht im Laufe der Jahre verblasst, sondern durch Pflichtgefühl erhalten bleibt. Hierin liegt vielleicht ein Grund dafür, weshalb der Roman über einen langen Zeitraum erfolgreich war. Das Thema der Dankbarkeit zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman, und dabei spielt das Begriffspaar bienfaitrice - reconnaissance eine zentrale Rolle.

Suzette hat bei ihrem Wiedersehen mit Mme de Senneterre nicht vergessen, was sie ihr zu verdanken hat:

«Oh! madame, ma bienfaitrice!» s’écrie-t-elle [Suzette]. Je [Mme de Senneterre]

lui mets la main sur la bouche, en lui recommandant le secret.

«Impossible, impossible, madame. Comment cacherais-je ma joie? pourquoi rougirais-je de ma reconnaissance? pourquoi rougiriez-vous de vos malheurs, vous dont la vie fut un acte continuel de vertus et de bienfaisance? [...] Libre de

commander dans toute la maison, moi-même je ne me présenterai chez vous que lorsque vous le permettrez [...].» (DS, S.88 f.)

Die Wohltätigkeit der Madame de Senneterre hat bewirkt, dass für Suzette eine unverrückbare Hierarchie zwischen den beiden Frauen herrscht, obwohl Mme de Senneterre jetzt offiziell als Suzettes Gesellschafterin angestellt ist167. In der neuen sozialen Stellung wirft Suzette der adeligen Dame nicht vor, damals die Ehe verhindert zu haben: „Vous n’avez fait que ce que vous deviez faire, et ma vie entière vous prouvera que Suzette est bien loin d’accuser ma bienfaitrice.“ (DS, S.125) Madame de Senneterre erkennt die moralischen Qualitäten von Suzette, und es kommt zu einer Annäherung. Die Adelige bereut ihre damalige Entscheidung: „Je me répétais sans cesse combien ses sentiments la mettaient au-dessus des titres et de la fortune, et je regrettais amèrement de l’avoir sacrifiée.“ (DS, S.129) Einige Seiten später betont sie nochmals, dass es ihr nicht auf Suzettes Geld ankommt: „Nous [Mme de Senneterre et Adolphe] ne demandons pas de fortune, nous ne voulons que Suzette.“ (DS, S.148) Selbst dem unaufmerksamsten Leser dürfte nun nicht entgangen sein, dass es hier um moralische und nicht um finanzielle Gründe geht.

Suzette erhebt sich durch ihr vorbildliches Verhalten mit Madame de Senneterre auf eine höhere moralische Stufe. Die Adelige sieht schließlich in der vormals Untergebenen eine Wohltäterin, und es ist ihre Pflicht, nun ihrerseits Dankbarkeit zu zeigen:

[...] je sentais plus vivement encore le besoin d’exprimer ma reconnaissance.

L’image de Suzette était gravée dans mon cœur, son nom était à chaque instant sur mes lèvres. Me taire devenait un effort dont je me sentais incapable;

j’aurais cru être ingrate en cachant le nom de ma bienfaitrice. (DS, S.132f.)

167 Es nahmen übrigens viele adelige Damen nach ihrer Enteignung derartige Tätigkeiten auf: „Le cas était courant après la Terreur, et quand on n’entrait pas dans la police, on cherchait à se placer auprès des nouveaux riches pour leur servir de professeur de bonnes manières.“ (Tulard, 1985, S.81f.)

Dadurch, dass der Autor sein Augenmerk auf die moralischen Qualitäten seiner Heldin richtet, gibt er seinen Lesern didaktische Anweisungen. In Zeiten der politischen Unruhe zeigt er, in welchem Verhalten Halt und Wohl zu finden ist. Seine Forderungen nach Tugendhaftigkeit konnten bei Monarchisten wie bei Republikanern gleichermaßen Anklang finden, zumal sich in diesem Roman sowohl eine Adelige als auch eine Bürgerliche durch tadelloses Verhalten auszeichnen.

Nachdem wir die empfindsame und die erbauliche Seite des Romans betrachtet haben, wollen wir nun unser Augenmerk auf die soziologisch-politische Dimension von La dot de Suzette richten.

Hierzu ist es sinnvoll, näher zu untersuchen, wie Adelige und Bürgerliche im Roman dargestellt werden.

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 93-97)