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Wir haben bereits am Beispiel der Schulreform von Altendorf gesehen, dass Isabelle de Charrière teilweise die Ideen Rousseaus und Voltaires befürwortete. Wir möchten im folgenden einige Kernaussagen von Veröffentlichungen zitieren, die Aufschluss darüber geben, inwieweit der Roman Ähnlichkeiten mit Werken der Aufklärer aufweist. Darüber hinaus werden wir ergänzend noch eigene Beobachtungen einfügen. Dies entfernt uns zwar ein wenig von unserem eigentlichen Untersuchungsgegenstand, ist aber

unserer Ansicht nach für das Gesamtverständnis des Romans von zentraler Bedeutung.

Constance hebt in Brief VI die Stärken Voltaires und Rousseaus hervor: „L’un étoit le plus bel esprit, l’autre le plus admirable écrivain qui aient jamais été [...].“(TF, S.104). Die Autorin hielt Voltaire für einen sehr klugen Philosophen, doch als Mensch mochte sie ihn nicht255. Vielleicht fürchtete sie als Privatperson seine scharfe Zunge. Als Schriftstellerin hingegen schien sie seine Art, sich mit Hilfe der Satire über Dinge lustig zu machen, sehr zu schätzen. Der Anfang der Trois Femmes erinnert an den Anfang des Candide256. Nicht nur der Ort der Handlung ist gleich (Westfalen), sondern auch der spöttische Tonfall durch die Aneinander-reihung von Superlativen gleicht dem Voltaires: „[...] les deux jeunes personnes [Emilie et Josephine] se trouvèrent bientôt établies dans la plus jolie maison du plus joli village de la Westphalie.“ (TF, S.44) Außerdem trägt der alte Baron von Altendorf Züge von Voltaires Baron Thunder-ten-Tronck. 257 Isabelle beschreibt ihre Figur folgendermaßen:

Persuadé qu’un Seigneur de château, un père de famille, un gentilhome à 64 quartiers, ne doit parler que pour être écouté, ordonner que pour être obéi, et n’ayant pas des idées bien promptes ni bien nettes sur la plupart des objets, le Baron d’Altendorf est dans l’habitude de garder un silence fort grave et assez imposant, à moins que sa femme ou quelqu’autre ne lui suggère une pensée [...]. (TF, S.51)

Im weiteren Verlauf des Romans klingt dieser Humor noch häufiger an. Doch die Parallelen zu Voltaire gehen über den Tonfall hinaus.

Auch Charrières ablehnende Haltung gegenüber religiösem Fanatismus und ihr genereller Skeptizismus ähneln den Ansichten Voltaires.

255 1772 bot man ihr die Gelegenheit, Voltaire persönlich kennenzulernen, doch sie lehnte ab. 1777 fand schließlich ein kurzes Treffen in Ferney statt, bei dem sich die beiden kaum unterhielten. (Brief vom 07.06.1777. In:

Œuvres Complètes, Bd.II (Amsterdam 1979), S.339.)

256 Voltaire. Candide ou L’Optimisme. Genf 1759 [anon.].

Das Dictionnaire von Théobald erinnert an das Dictionnaire philosophique portatif von Voltaire. Letzterer war der Auffassung, man könne der breiten Masse nur mit kurzen Schriften wirkungsvolle Denkanstöße geben: „Jamais vingt volumes in-folio ne feront de révolution; ce sont les petits livres portatifs à trente sous qui sont à craindre.“258 Und Théobald hält sich an die Maxime „In der Kürze liegt die Würze“. Allerdings erkennt man, dass Théobalds Schrift von den Ereignissen der Revolution geprägt ist.

Voltaire setzte sich ernsthaft mit einigen philosophischen Fragen auseinander. Zum Thema Liberté schrieb er unter anderem:

B: „[...] la liberté n’est donc autre chose que le pouvoir de faire ce que je veux.“

A: „Vous voyez que vous ne pouvez vouloir sans raison. [...] Votre volonté n’est pas libre, mais vos actions le sont.“259

Bei Théobald hingegen ist der Eintrag zu dem Schlagwort Liberté, das zu einem zentralen Begriff der Revolution geworden ist, keine ernst zu nehmende philosophische Überlegung, sondern lediglich eine sarkasti-sche Anmerkung:

LIBERTE. Oh quel mot! on ne l’entend point; personne ne l’explique. C’est un drapeau tout barbouillé; mais sitôt qu’il se déploie, on marche pour le suivre à toutes les vertus, à tous les crimes et à la mort. (TF, S.120)

Die Erfahrungen im Zusammenhang mit der Revolution lassen Théobald in bezug auf das hohe Ideal ‘Freiheit’ resignieren.

Théobalds Dictionnaire lässt auch an die Enzyklopädisten denken, aber bei näherer Betrachtung fällt ein Vergleich aus formalen Gründen schwer. Während wir bei Théobald auf drei Zeilen zum Thema Freiheit stoßen, findet sich in der Enzyklopädie eine neunseitige Abhandlung, die die Grundideen namhafter Philosophen

257 Für eine genaue Aufzählung der Parallelen zwischen Voltaires Candide und Isabelle de Charrières Trois Femmes s. Deguise, 1981, S.198ff., und Courtney, 1993, S.660.

258 Voltaire in einem Brief an d’Alembert vom 05.04.1766, zitiert nach Beaufort, J. und C., 1976, S.323.

259 Voltaire. Dictionnaire Philosophique Portatif. London 1765, S.229ff.

zum Thema Freiheit zusammenfasst.260 Das Dictionnaire Théobalds stellt nur ein Fragment dar. Aber sein Entwurf unterscheidet sich auch inhaltlich von der Enzyklopädie. Nimmt man das Beispiel Âme, so wird schnell deutlich, dass Diderots ausführliche Abhandlung einen anderen Schwerpunkt hat als die, die wir in den Trois Femmes finden. Diderot berichtet von Gehirnerkrankungen, Obduktionen und Heilung. Seine naturwissenschaftlichen Überlegungen leitet er mit den Worten ein:

Après avoir employé tant d’espace à établir la spiritualité & l’immortalité de l’âme, deux sentiments très capable d’enorgueillir l’homme sur sa condition à venir, qu’il nous soit permis d’employer quelques lignes à l’humilier sur sa condition présente par la contemplation des choses futiles d’où dépendent les qualités dont il fait le plus de cas.261

Während der Materialist Diderot mit physiologischen Argumenten die Existenz einer ungreifbaren Seele hinterfragt, bleibt sie für Théobald etwas Metaphysisches:

AME. C’est ce qui rend vivant tout ce qui vit, et en particulier, c’est qui rend l’homme susceptible de douleur et de plaisir, de joie et de chagrin, de volonté et de réflexion. L’ame n’a pu parvenir à connoître sa propre nature. L’Evangile nous apprend qu’elle est immortelle, et déjà, avant l’Evangile, les plus sages philosophes l’avoient pensé et écrit. (TF, S.118)

Nachdem wir kurz auf das Verhältnis von Isabelle de Charrière zu Diderot und Voltaire eingegangen sind, wollen wir noch einen Blick auf den Einfluss Rousseaus auf Trois Femmes werfen. Wie schon das obenerwähnte Zitat zeigt, sah sie in ihm „le plus admirable écrivain“, das heißt, sie bewunderte ihn eher für seine literarischen als für seine philosophischen Qualitäten262. Sie hat zwar selber behauptet, bei Trois Femmes habe Rousseau Pate gestanden263, doch

260 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. Bd.9 (Neufchastel 1765), S.462-471.

261 Diderot, Denis. Œuvres complètes - Encyclopédie I. Bd.5 (Paris 1976), S.350.

262 vgl. Trousson, 1995, S.47.

263 In einem Brief vom 11.01.1799 an Benjamin Constant schrieb sie über Trois Femmes: „Rousseau est en quelque sorte le père ou plutôt le parrain.“

abgesehen von den Überlegungen zur Bildungsreform finden wir fast keine Spuren von ihm. Sie scheint sich im Gegenteil phasenweise bewusst von seinem emphatischen Idealismus abzuwenden. In der folgenden Textpassage klingt zunächst eine überschwengliche Liebe zur Natur an:

La tête vivante d’un enfant, un oiseau sautant dans sa cage, une fleur, un branchage vert, me paroissoient des décorations préférables à un triglyphe, un mufle, une rosette, une feuille d’acanthe taillée par la main du sculpteur. C’est ainsi qu’est la nature, me disois-je. Dans le tronc d’un vieux arbre, l’abeille trouve une ruche; dans son feuillage, la fauvette fait son nid. L’ame, la vie industrieuse et empressée se glisse partout. Regardez l’air, il vit; la terre, elle respire. (Brief IX von Constance an den Abbé, TF, S.111.)

Nur einen Satz später stellt sich das idyllische Bild als pure Ironie heraus, denn abrupt zerstört sie jede Illusion:

Remuez, retournez cette vieille pierre, vous la verrez couverte d’être vivants...

Mais, ô Ciel! que de guêpes, de rats, de serpens, sortent de leurs repaires! Je les ai vus prêts à se jetter sur moi; j’ai fui, dégoûté autant qu’effrayée. (TF, S.111)

Isabelle de Charrière teilt nicht Rousseaus positives Bild von der Natur und vor allem nicht das von der Natur des Menschen. Wir schließen uns der Meinung Troussons an, der schreibt:

Esprit ouvert, elle [Madame de Charrière] représente la fraction modérée des Lumières dont elle retient un désir de réformes, la haine des privilèges et des dogmatismes générateurs de fanatisme, un appetit de tolérance. Mais elle est réticente à l’égard du mythe de la bonté naturelle de l’homme, démenti par l’observation.264

Nun wollen wir sehen, inwieweit sich Trois Femmes mit dem Thema der moralischen Pflicht auseinandersetzt. Der Einleitung konnten wir ja entnehmen, dass eine Diskussion über die Moralphilosophie Kants den Abbé de la Tour dazu veranlasste, die Geschichte der drei Frauen zu erzählen.

264 Trousson, 1995, S.73.

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 163-168)