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In Trois Femmes entwirft die Autorin Lebenssituationen, in denen theoretische Meinungen auf den Prüfstand gestellt werden. Sie lässt dabei ihre Protagonistin Emilie eine moralische Entwicklung durchlaufen.

Emilies Wertesystem basiert zunächst auf strikten Regeln, die ihr ihre Eltern vermittelt haben:

Je [Emilie] suis jeune, Josephine: en perdant mes parents j’ai vu qu’il ne me restoit d’autre patrimoine que l’éducation qu’ils m’avoient donnée: elle étoit stricte et ne m’avoit pas permis de croire qu’on pû dévier en rien du devoir.

Etre sage, être vraie, ne posséder que ce qui est bien à soi, voilà ce qu’on m’a recommandé depuis que je suis au monde. (TF, S.69)

Sie hat wenig praktische Lebenserfahrung und befindet sich plötzlich nach Ausbruch der Revolution in einer Extremsituation.

Als mittellose Vollwaise in einem fremden Land werden nun andere Menschen und das Leben selbst zu ihren Erziehern. Als Josephine Henri nachts zu sich in die Kammer lässt, ist Emilie erschrocken und aufgewühlt. Sie macht Josephine Vorhaltungen. Doch die Dienerin versucht ihr weiszumachen, dass sie bei ihrem Handeln das Wohl der Herrin im Sinn habe. Sie erklärt:

Henri trait la chèvre dont nous avons le lait; il puise l’eau et scie le bois pendant que je cultive votre salade; et avec quoi acheterions-nous le café que vous prenez à votre déjeuner, si ce n’étoit avec le fil que je vends après l’avoir filé? O Dieu! que me fait-tu envisager! s’écria douloureusement Emilie. (TF, S.45)

Die Erklärung ist schmerzhaft für Emilie. Die finanzielle Not und die Ergebenheit gegenüber der Herrin treiben Josephine angeblich dazu, sich Henri gegenüber erkenntlich zu zeigen. Darüber hinaus muss Emilie erkennen, dass sie sich mitschuldig gemacht hat.

Josephine wirft ihr vor, nicht eingegriffen zu haben:

[...] de peur de vous réveiller, j’ai pris patience; mais si vous aviez donné le moindre signe, que vous ne dormiez pas, Henri se seroit sauvé. - Je l’aurois dû,

Josephine, et j’y ai pensé; mais la crainte de me compromettre... la décence... -Oui, j’entends, dit Josephine, la décence, peut-être un peu de fierté, ont laissé la vertu et l’honneur sans secours! Assurément je vous pardonne, Mademoiselle; mais avouez que personne ne fait tout ce qu’il doit. (TF, S.46)

Emilie erkennt, dass ihre Passivität auch einer Handlung gleichkommt, der eine moralische Entscheidung zugrunde liegt. Sie hat ihre Pflicht vernachlässigt.

Bemerkenswert an dieser Episode ist, wie unverblümt Josephine zu der Adeligen spricht. Es stellt sich die Frage: Wer ist wessen Meister? Die Hierarchie wird auf den Kopf gestellt, denn plötzlich macht die Dienerin ihrer Herrin Vorwürfe und vergibt ihr großmütig. Dieser Machtwechsel wird auch symbolisch ausgedrückt, als die beiden Frauen zusammen singen: „Josephine avoit une fort belle voix qui guidoit celle d’Emilie.“ (TF, S.44) Die junge Adelige gibt sich in die Hände der vermeintlich Untergebenen. Dies wird noch in einer weiteren Konfliktsituation deutlich. Als Emilie im Garten eine Harfe findet, die Théobald dort für sie hinterlegt hat, ist sie sich darüber im klaren, dass sie das Geschenk eigentlich nicht annehmen kann. Der Anstand verbietet ihr, das kostbare Geschenk des Verehrers anzunehmen, da sie damit seine Hoffnung schüren würde. Josephine rät ihr jedoch, die Harfe zu behalten, und Emilie befolgt den Rat der Zofe: „Emilie, persuadée ou entraînée, consentit à tout ce que vouloit Josephine.“ (TF, S.49)

Neben Josephine wird auch Constance zu einer Lehrmeisterin für Emilie. Constance konfrontiert Emilie ebenfalls mit der Tatsache, dass letztere sich nicht immer moralisch einwandfrei verhält.

Constance erklärt der jungen Adeligen:

Votre éducation vous a donné des idées spéculatives extrêmement délicates sur quantité d’objets, que vous envisageriez un peu différemment si vous aviez plus vu le monde. [...] Cependant, permettez-moi de vous dire que l’on pourroit vous chicaner sur bien des choses que vous trouvez toutes simples, et cela parce qu’elles vous conviennent, et que vos principes s’y sont pliés peu à peu. Que voulez-vous dire? s’écria Emilie. Ne voyez-vous pas, dit Constance, qu’au château vous séduisez Théobald, inquiétez sa mère et désolez sa cousine. (TF, S.64f.)

Théobalds Eltern haben eine Ehefrau für ihn ausgewählt, und es wäre Emilies Pflicht, den elterlichen Wunsch zu respektieren, zumal sie als mittellose Emigrantin keine attraktive Partie darstellt.

Demzufolge dürfte sie mit dem jungen Adeligen nicht anbändeln.

Emilie bestreitet zunächst, dass sie den Frieden der Familie von Altendorf stört. Doch Constance macht ihr klar, dass sie es ruhig zugeben kann, da sie deswegen in den Augen Constances nicht zwangsläufig an Achtung verliere:

Je crois tout simplement que vous aimez Théobald, dit Mme de Vaucourt, et que Théobald vous adore. Je ne vois rien là d’étonnant ni de criminel; et loin de vous exhorter à rompre l’union commencée de deux cœurs faits l’un pour l’autre, je vous conjure de donner le vôtre plus franchement, plus entièrement;

de ne conserver ni réserve, ni coquetterie, ni intérêt particulier. (TF, S.65)

Constance hat Wertvorstellungen, die nicht denen des alten Adels entsprechen, und sie lehrt Emilie ihre eigenen Werte. Ihrer Ansicht nach ist das Verhalten von Emilie dann legitim, wenn diese Théobald uneingeschränkt liebt und mit dieser Liebe keine materiellen Interessen verbindet. Die ideale, selbstlose Liebe steht in ihren Augen über finanziellen Aspekten. Emilies Horizont erweitert sich, und sie hinterfragt ihre bisherigen Prinzipien:

L’une et l’autre [Josephine et Constance] lui étoient chères, l’une et l’autre lui étoient utiles, l’une et l’autre avoient mêlé le blâme aux aveux, le reproche à la justification. Aux yeux de l’une ni de l’autre elle n’étoit parfaitement innocente, elle qui s’étoit crue en droit de juger, de censurer, de montrer presque du mépris. (TF, S.65)

Constance und Josephine kritisieren Emilie bevorzugt in Situationen, in denen die junge Adelige ihnen Vorwürfe macht.

Josephine kreidet auch ausdrücklich die Doppelmoral an, die in adeligen Kreisen herrschte. Sie teilt Emilie mit, dass sich deren Angehörige wahrlich nicht tugendhaft verhalten haben (TF, S.47).

Die Botschaft lautet: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Es geht Isabelle de Charrière sicherlich nicht darum, ein Übel mit einem anderen zu rechtfertigen. Sie möchte vielmehr

darauf hinweisen, dass man sich seine eigenen Schwächen eingestehen sollte, um anderen gegenüber toleranter zu sein. Doch die Aussagen der Autorin gehen weit über die individuellen zwischen-menschlichen Beziehungen hinaus. Es ist kein Zufall, dass die drei Protagonistinnen drei verschiedenen Gesellschaftsschichten angehören, die durch die Revolution zusammengeführt worden sind.

Isabelle de Charrière trifft eine politische Aussage, wenn sie dem Leser vor Augen führt, wie eine Adelige von einer Bürgerlichen und von ihrer Dienerin lernen kann. Die drei Figuren werden nahezu gleichberechtigt behandelt. Die Adelige hat ihre Privilegien verloren. Alle gesellschaftlichen Schichten werden von Isabelle de Charrière wie im englischen Roman des 18. Jahrhunderts gleichermaßen berücksichtigt.

Isabelle de Charrière richtet ihr Augenmerk auf praktische Situationen und konstatiert, dass Menschen zu unmoralischen Handlungen fähig sind, weil sie unvollkommen sind. Sie entwirft keine idealisierten Vorbilder. Jede ihrer Figuren weist Schwächen auf, und hierdurch erscheinen die Charaktere vraisemblable. Sie beschönigt nicht die Natur des Menschen und ähnelt dadurch weit mehr den Autoren des 19. als denen des 18. Jahrhunderts. In einem Brief an Chambrier d’Oleyres kommentiert sie ihren Roman folgendermaßen:

C’est un petit traité du devoir mis en action, ou plutôt élucidé par une action.

On n’a pas prétendu donner des modèles à suivre, mais montrer des vices et des faiblesses à excuser comme non incompatibles avec une idée ou un sentiment de devoir et une moralité dans la personne coupable ou accusable.265

Sie entschuldigt die Schwächen, verteidigt sie aber nicht. Sie versucht vielmehr Situationen zu entwerfen, in denen es Menschen schwerfällt, sich nach starren Prinzipien zu richten.

Bei manchen ihrer Zeitgenossen erweckte Isabelle de Charrière den Eindruck, sie rechtfertige mit Trois Femmes unmoralisches

265 Brief an Chambrier d’Oleyres, 13./14.10.1797. In: Œuvres Complètes, Bd.

V (Amsterdam 1980), S.354.

Verhalten. Der Roman sei daher eine bedenkliche Lektüre für Kinder. Doch Isabelle de Charrière schildert mit ihrem Roman lediglich Umstände, in die Menschen tatsächlich geraten können.266 Sie entwirft für ihre Leser Problemsituationen und zeigt ihnen durch die verschiedenen Auffassungen ihrer Figuren die unterschiedlichen Aspekte der Dilemmata. Isabelle de Charrières Eigenschaft, die Dinge von allen Seiten kritisch zu beleuchten, kommt hier einmal mehr zum Tragen. Ihre Haltung ist dabei eher wohlwollend und tolerant. Im folgenden wollen wir untersuchen, ob sie die verschiedenen politischen Standpunkte in bezug auf die Revolution mit der gleichen Diplomatie wiedergibt.

4.9 Politik

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 168-172)