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Gefühl versus Vernunft

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 90-93)

La dot de Suzette trägt Züge eines empfindsamen Romans. Fiévée beschäftigt sich mit dem Phänomen der Liebe. Hierbei zeigen sich seine genaue Beobachtungsgabe und sein analytischer Verstand, da er verschiedene Facetten des Gefühls anhand mehrerer Romanfiguren beschreibt.

Die erste Beziehung, die im Roman aus der Sicht Mme de Senneterres geschildert wird, ist die ihres Bruders und seiner Frau.

Sie begehen den gleichen Fehler wie Valville, indem sie das erste Verliebtsein mit dauerhafter Liebe verwechseln:

Ce n’était que fêtes, assemblées, prévenances de part et d’autre; ils ne pouvaient se quitter un seul instant sans chagrin, se rejoindre sans plaisir. Peu à peu la première ardeur se ralentit; ils se persuadèrent qu’ils ne s’aimaient plus, parce qu’ils avaient cru follement qu’ils s’aimeraient toujours aussi fort et de la même manière. (DS, S.50)

Die Ich-Erzählerin tadelt das oberflächliche Verhalten des älteren Bruders. Es gelingt ihr, durch ihre Intervention die Ehe der beiden zu retten. Dabei wird deutlich, dass die Erzählerin dem Autor als Sprachrohr für moralische Reflexionen dient.

164 Saint-Beuve, 1851, S.235.

Im Gegensatz hierzu wirkt die Beziehung von Mme de Senneterre zu ihrem Ehemann wesentlich authentischer. Sie erzählt in nachvollziehbarer Weise, wie sich aus dem Gefühl der Freundschaft eine dauerhafte Liebe entwickelt. Zunächst verbindet sie eine tiefe Vertrautheit mit dem Freund ihres Bruders, bevor sie sich in ihn verliebt. Die beiden schließen die Ehe, ohne dass deutlich wird, ob M. de Senneterre mehr als nur Freundschaft und Respekt für seine Frau empfindet:

Je n’attendais de M. de Senneterre qu’une amitié qui seule eût satisfait mon cœur, et je trouvai en lui un époux tendre et prévenant, un guide éclairé, un ami sincère. Préjugeant assez bien de moi pour croire que les plaisirs du monde ne pourraient seuls m’occuper, il m’admit à l’administration de ses affaires que la dissipation de son père avait extrêmement dérangées. (DS, S.54f.)

Die ausgereifte, auf Vernunft basierende Beziehung zwischen den beiden ist für Mme de Senneterre wertvoller als eine leidenschaftliche Liaison von kurzer Dauer zu einem Mann, der stets nur auf der Suche nach neuen Abenteuern ist (DS, S.54). Auf gesellschaftlicher Ebene handelt es sich um eine für die Aristokratie typische Konvenienzehe, bei der die Partner gegenseitig vom Vermögen und vom guten Namen des anderen profitieren. Die Ehe verläuft glücklich und rechtfertigt im nachhinein Mme de Senneterres Einschätzung, zumal ihr Mann sie als gleichberechtigte Partnerin behandelt, die in finanziellen Angelegenheiten Mitspracherecht hat.165

Zieht man ihre Erfahrungen in Betracht, verwundert es nicht, dass sie sich mit Vehemenz gegen die leidenschaftliche, irrationale Liebe Adolphes zu Suzette wehrt, da diese Mesalliance in starkem Kontrast zu ihrer eigenen Ehe steht. Ihr Sohn verliebt sich auf den ersten Blick in das Waisenkind: „Il aima Suzette, et l’aima avec une violence dont il serait difficile de se faire une idée [...].“ (DS, S.62) Die ratlose Mutter muss feststellen, dass sie die Gefühle ihres

165 Die Verbindung erinnert ein wenig an die Ehe des Président de Longueil mit der Duchesse de Montjustin im Emigré.

Sohnes nicht ändern kann, da es sich nicht nur um die vorübergehende Laune eines Heranwachsenden handelt. Adolphes Leidenschaft ist stärker als sein Verstand. Er liebt Suzette gegen seinen Willen, ohne etwas an der Situation ändern zu können:

Ah! madame, si vous pouviez lire dans le fond de mon cœur, vous sauriez qu’un amour invincible, qui fait aujourd’hui mon désespoir, ferait demain, sans mon respect pour vous, le bonheur de ma vie. J’aime Suzette malgré moi, je l’aime au point de sentir que la mort me serait plus douce que l’idée d’en être séparé.

(DS, S.67f.)166

Adolphe ist der Ansicht, er sei nur das passive Opfer dieses existentiellen Gefühls, das das Schicksal vorbestimmt habe. Er verkörpert das Konzept einer leidenschaftlichen Liebe à la Rousseau, die sich der Vorherschaft der Vernunft widersetzt. Seine Gefühle lassen sich nicht gesellschaftlicher Moral unterordnen. Es kommt zum Streit zwischen Mutter und Sohn, bei dem anklingt, dass Mme de Senneterre nicht nur aufgrund ihrer konservativen Einstellung Einwände gegen diese Liebe hat, sondern auch aus Eifersucht: „Adolphe, m’écriai-je, vous n’aimez plus votre mère!“

(DS, S.68) Es wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr die wichtigste Person im Leben ihres Sohnes ist. Hier stellt Fiévée seine gute Kenntnis psychologischer Mechanismen unter Beweis.

Die Grundkonstellation des Konflikts ähnelt dem zwischen Marianne, Valville und Mme de Miran so sehr, dass die Vermutung nahe liegt, Fiévée habe bewusst Ideen aus Marivaux’ Roman übernommen. In beiden Fällen sorgt eine ledige, adelige Dame für ein mittelloses, tugendhaftes Waisenmädchen, in das sich der heranwachsende Sohn gegen jede Vernunft verliebt. Sowohl Valvilles als auch Adolphes Gefühle sind leidenschaftlich, obwohl Marianne und Suzette zurückhaltend bleiben, um ihre Verehrer nicht zusätzlich zu ermuntern.

166 Seine tragische Verzweiflung erinnert an Goethes Werther, ähnlich wie wir es auch schon bei Sénacs Saint Alban gesehen haben.

Mme de Senneterre gibt ihrem Sohn gegenüber nicht nach, woraufhin dieser abreist. Doch in sieben Jahren Abwesenheit steigert sich die verhängnisvolle, romantische Liebe Adolphes noch.

Er idealisiert Suzette so sehr, dass sie für ihn übermenschliche Züge bekommt: „Suzette, bienfaitrice de ma mère, n’est plus une femme pour moi; c’est une divinité [...].“(DS, S.134)

Im Unterschied zu Marivaux’ Roman, in dem der Protagonist wankelmütig wird und die Liebe scheitert, überwinden die Gefühle zwischen Adolphe und Suzette alle Hindernisse. Sogar Mme de Senneterre muss schließlich einsehen, dass die beiden füreinander bestimmt sind: „Ah! je l’avoue avec joie, Suzette et vous étiez nés l’un pour l’autre. [...] Adolphe, je le vois trop, il n’est qu’un sentiment auquel rien ne soit impossible; c’est l’amour.“ (DS, S.144f.)

Fiévées Schilderung von Liebe ist idealistischer als die Marivaux’.

Eifersucht und Untreue werden von Fiévée nicht erwähnt. Er präsentiert dem Leser eine heile Welt mit Happy-End.

Interessant ist, auf welche Weise Fiévée die verstandesorientierte Haltung der Mme de Senneterre und das gefühlsorientierte Handeln ihres Sohnes dem Leser nahebringt: Beide Haltungen sind nachvollziehbar. Damit wird Fiévée einer breiten Leserschaft gerecht. Durch die Gestaltung des Handlungsverlaufs wird zu guter Letzt zwar Partei ergriffen - es siegt das Gefühl -, doch im folgenden werden wir sehen, dass der Autor an den positiven Ausgang der Liebesgeschichte strenge moralische Forderungen knüpft, die wiederum dem Geschmack der meisten Leser entsprachen.

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 90-93)