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Zwischen Tradition und Moderne

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 139-144)

Im ersten Teil der Trois Femmes finden wir typische Elemente des sentimentalen Genres.232 Zunächst verbürgt sich der Erzähler wie üblich für die Authentizität der Geschichte. Die Protagonistin ist wie in vielen empfindsamen Romanen eine mittellose Waise ohne Nachnamen und Herkunft, so dass einer Ehe mit dem Geliebten gesellschaftliche Barrieren im Wege stehen.233 Außerdem sind alle

231 Karmarkar, 1996, S.83.

232 B. Didier führt Trois Femmes auch unter dieser Rubrik auf (Didier, 1988, S.100).

233 Hier denkt man beispielsweise wie bei Fiévée an La vie de Marianne.

Akteure von einer ungeheuren Sensibilität (bereits auf den ersten vier Seiten wird viermal rückhaltlos geweint).

Wir haben bereits gezeigt, dass Isabelle de Charrière großen Wert auf Sprache legte. Sie liebte die Klarheit der Klassiker, und in Trois Femmes zitiert sie zum Beispiel Vergil, um ihre Protagonisten zu charakterisieren (TF, S.115). Den meisten zeitgenössischen Schriftstellern brachte sie wenig Sympathie entgegen. „Aujourd’hui la langue françoise s’abatardit entre les mains d’un Necker, d’une Staël [...]. Tout est gigantesque à la fois et mesquin.“234 Sie verachtete den blumigen, ausschweifenden Stil der aufkommenden Romantik. In der Suite der Trois Femmes vertritt Emilie die Ansicht der Autorin:

Constance se mit à lire je ne sais quels Contes ou Romans nouveaux dont elle avoit fait provision exprès pour le Voiage. Emilie l’interrompoit sans cesse.

Commencés en un autre, disoit elle; Cela est si exagéré et si froid!... essaions d’un troisième; cela est si allambiqué et si invraisemblable!... En moins de rien la provision fut épuisée sans qu’on eut presque rien lu. Je ne vois, dit Emilie, dans ces Auteurs la et dans leurs personnages que des Automates qui déclament et gesticulent l’Amour et l’Amitié. Au dedans d’eux il n’y a rien qui sente; [...] Vous pourriés vous tromper quant aux Ecrivains, dit Constance.

Peut etre ne manquent ils pas de sensibilité, mais ils n’oseroient ecrire dans un Stile plus simple. Bien souvent je trouve leur Stile trivial, dit Emilie. Apres des expressions bisares et gigantesques qui ne peignent rien de vrai ni de naturel, le nom d’une chose connue, le nom d’une Ville, d’un emploi, d’un meuble, me paroit un vulgarisme choquant. (TF, S. 132)

Emilie wirft den zeitgenössischen Autoren vor, Emotionen übertrieben und damit unnatürlich darzustellen. Enthalten die Texte Hinweise auf alltägliche Dinge, wirken diese trivial. Wie Sénac de Meilhan nutzt die Autorin ihren Roman als Forum für Literaturkritik. Und auch bei ihr stellt sich die Frage, inwieweit sie ihren eigenen Ansprüchen in Trois Femmes gerecht wird. In der Tat vermeidet sie „des expressions bisares et gigantesques qui ne peignent rien de vrai ni de naturel“. Besonders im ersten Teil wirken die Figuren sehr natürlich, weil sie gemäß ihrer Herkunft unterschiedliche Soziolekte aufweisen. Als Emilie von Théobald eine

234 Brief vom 08.07.1797. In: Œuvres Complètes, Bd. V (Amsterdam 1980), S.333f.

Harfe geschenkt bekommt, schreibt sie einen Brief an ihre zukünftige Schwiegermutter, in dem sie sich standesgemäß distinguiert ausdrückt:

J’ai trouvé hier, Madame, sur un banc du jardin où j’ai coutume de me promener, une très belle harpe. Elle ne peut venir que d’une maison qui est l’ornement de la contrée, comme ses Maîtres en sont l’amour. [...] je ne puis pas non plus dissimuler le don, ni taire ma reconnaissance. Permettez, Madame, que ce soit à vous que je la témoigne, et daignez agréer ce que la fortune me permet encore de vous offrir, le fruit d’une industrie, hélas! trop médiocre. (TF, S.49f.)

Emilie schmeichelt der Baronin („l’ornement de la contrée“) und umschreibt ihr eigenes Geschenk mit gehobenen Worten („le fruit d’une industrie“). Sie bringt ihren Kummer darüber zum Ausdruck, dass sie nur eine bescheidene Gabe überreichen kann („hélas!“). Im Kontrast zu diesem gehobenen Stil steht das einfache Gemüt und damit die simple Ausdrucksweise von Lacroix, Constances Diener.

Humorvoll schildert Isabelle de Charrière, wie er sich eine Ehefrau sucht:

Etes-vous décidé? dit Mme de Vaucourt. Oui, dit Lacroix; je suis allé chez notre plus proche voisine; c’étoit autant de pas d’épargnés; et puisqu’il me faut épouser une Allemande, autant vaut l’une que l’autre. [...] - Et avez-vous parlé au pere, à la mere, à la fille? - Oui, Madame: tout cela étoit ensemble. Je leur ai baragouiné quelques mots d’allemand: Man, Fro, hérat. Le pere et la mere ont crié Herr Gott! ja! ja! La fille a souri et rougi: c’est une chose faite. (TF, S.71)235

Isabelle de Charrière übertritt mit solchen Darstellungen die Grenzen des französischen empfindsamen Romans. Sie verbindet komische und ernste Elemente sowie gehobene und niedere Sprache miteinander, wodurch sie sich an das englische Romanmodell annähert.

Mit dem zweiten Teil distanziert sie sich noch mehr vom empfindsamen Roman Frankreichs. Zwar war der Briefroman in

235 Aus dem Munde des Dieners klingt das Deutsche verstümmelt, doch dies liegt nicht an den schlechten Deutschkenntnissen der Autorin. An andere Stelle schreibt Isabelle de Charrière in tadellosem Deutsch: „Unser Junker sieht recht schmuk aus, disoient les uns: Das fremde Fräulein ist auch gar lieb, disoient les autres.“ (TF, S.52)

dieser Gattung sehr verbreitet, doch nutzte Isabelle de Charrière ihn nicht wie die meisten Vorläufer. Constances Briefe enthalten fast keine Hinweise auf die Gefühle der Liebenden. Sie informiert den Abbé ausführlich über das tägliche Geschehen in Altendorf und lässt dabei ihre Gedanken phasenweise abschweifen. Dies hat zur Folge, dass Constances Briefe zum einen wie ein moralphilosophischer Essay wirken, der Ideen der Aufklärung enthält, und zum anderen einen detaillierten Einblick in den Alltag der Protagonisten gewähren. Die folgende Textstelle zeigt, wie sie mit vermeintlich trivialen Details ein sehr konkretes Bild vom Leben ihrer Figuren erschafft. Constance schreibt dem Abbé:

On donnera [à Emilie], sous ce rapport, la chambre dont la porte fait face à celle de la salle à manger, de l’autre côté de la porte du château. Mme d’Altendorf y fera construire un poële à la manière de Suisse, et tel que Mme Hotz, qui est de Zurich, la presse depuis vingt-deux ans d’en avoir un. On écrit pour se procurer des plans, des dessins, toutes sortes de directions. Mme Hotz fera venir, s’il le faut, un terrinier de ses parents, et coute que coute, nous nous chaufferons d’aujourd’hui en un an, auprès d’un poële Suisse. [...] [Emilie] a fait elle-même, mais sans savoir que ce fût pour elle, de petits dessins en mosaïque pour six fauteuils: on a retrouvé du canevas et des laines que la teigne a épargnés pendant quinze ans, et qu’on prétend lui enlever aujourd’hui.

Lacroix a fait trois métiers de tapisserie. Mme d’Altendorf, sa belle-fille et moi, nous nous sommes chargées chacune de deux fauteuils; et tous les soirs, dès qu’il a frappé cinq heures, nos trois métiers forment un triangle autour d’un antique guéridon d’argent, sur lequel on place deux flambeaux. (TF, S.91)

Die Ausführlichkeit, mit der Constance die Wohnungseinrichtung Emilies und die Handarbeiten schildert, reicht an die Beschreibungen eines Balzac heran. Sie erklärt zunächst, wo sich das Zimmer von Emilie befindet. Dann geht sie ausführlich auf den Schweizer Ofen ein, den sie um jeden Preis anschaffen wollen, auch wenn dies mit Mühen und Kosten verbunden ist. Jedes Mitglied der Gemeinschaft hat eine Handarbeit zu verrichten: Lacroix hat sich um drei Wandbehänge gekümmert, Emilie hat die „petits dessins en mosaïque pour six fauteuils“ angefertigt, und jeden Tag ab siebzehn Uhr sitzen die Damen zusammen an einem antiken Silbertischchen mit zwei Leuchtern. Für die Handarbeiten haben sie fünfzehn Jahre alte Leinen- und Wollstoffe gefunden, die die Motten verschont

haben. Hier richtet die Autorin ihr Augenmerk auf äußere und nicht auf innere Vorgänge. Damit unterscheidet sich Trois Femmes von den psychologischen Romanen des 18. Jahrhunderts. Wie lässt sich ihre Darstellung von Alltagsgegenständen mit dem oben zitierten Vorwurf: „[...] le nom d’une chose connue, le nom d’une Ville, d’un emploi, d’un meuble, me paroit un vulgarisme choquant.“ (TF, S.132) vereinen? Für die Autorin liegt das Vulgäre nicht in der Beschreibung dieser Dinge an sich. Es kommt in ihren Augen auf den Kontext an. Sie hält sie nur für deplaziert, wenn sie unvermittelt im Zusammenhang mit großen Gefühlen erwähnt werden. Bei ihr hingegen erscheint die detaillierte Schilderung der Lebensumstände ganz natürlich, wenn Constance an den Abbé schreibt. Sie vermittelt ein wirklichkeitsgetreues Bild des Alltags.

Auch in der Suite findet sich eine derartige Detailschilderung. Die Autorin beschreibt erneut die Inneneinrichtung eines Hauses, doch handelt es sich dieses Mal um ein fremdländisches Dekor auf Martinique, nämlich das Lebensumfeld der Sklavin Bianca:

Il y avait ches elle [Bianca] un cabinet de marbre blanc dans lequel on descendoit par quelques marches et qui se remplissoit d’eau à la hauteur qu’on vouloit au moien de plusieurs robinets placés le long des murailles. L’eau s’en écouloit par plus de passages encore et plus rapidement qu’elle n’y étoit entrée et les meubles étant de marbre, de porcelaine et de cristal, restoient à sec sans avoir souffert de l’inondation. (TF, S.147)

Auch hier geht sie auf materielle Einzelheiten ein: Das Bad, in das man über eine Treppe hinabsteigt, die Wasserhähne sowie die Einrichtungsgegenstände aus Marmor, Porzellan und Kristall. Der beschriebene Raum erinnert an ein türkisches Bad, und der Schauplatz von Biancas Biographie bekommt dadurch eine exotische Komponente. Formal erinnert die Suite durch den Einschub von Biancas Lebensgeschichte an traditionelle Romane aus dem 18.

Jahrhundert. Das Phänomen, dass plötzlich innerhalb einer Romanhandlung eine ganz andere Biographie erzählt wird, war zu dieser Zeit häufig anzutreffen. Wir kennen dies beispielsweise von Marivaux (die Geschichte der Tervire in La vie de Marianne) und

haben es auch bei Sénac de Meilhan wiedergefunden (die Biographie der Vicomtesse de Vassy).

Im zweiten und dritten Teil des Romans bringt Isabelle de Charrière vermehrt die benachteiligte Stellung von Frauen zur Sprache. Aus diesem Grund wird sie in der neueren Forschung oft als eine Art frühe Frauenrechtlerin angesehen. Im folgenden Abschnitt wollen wir die feministischen Elemente des Romans näher betrachten.

4.5 Soziologisches

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 139-144)