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Berücksichtigung der unteren Schichten

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 42-47)

Betrachten wir zunächst nochmals zum Vergleich Clarissa, da dieser Roman im Emigré besonders gelobt wird. In der Tat entstammen Richardsons Figuren nicht nur der Adelsschicht, sondern auch dem Bürgertum (Lovelace ist Adeliger, Clarissa Bürgerliche). Diener treten ebenfalls in Erscheinung, jedoch marginal. Das gesamte Werk enthält einen einzigen Brief einer Dienerin, nämlich von Clarissas Zofe Hannah.91 Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Clarissa ihr das Schreiben beigebracht hat, und der Brief enthält zahlreiche Rechtschreibfehler. Es lässt sich sagen, dass alle Klassen in Richardsons Roman vertreten sind und dass ihre unterschiedliche Gewichtung die gesellschaftliche Realität in England im 18.

Jahrhundert widerspiegelt.

Im Emigré ist keine der handlungstragenden Personen bürgerlicher Abstammung, obwohl das Bürgertum bereits vor der Revolution in Frankreich immer mehr gesellschaftlichen Einfluss gewonnen hatte.

Man muss Sénac de Meilhan zugute halten, dass er nicht die Lebensumstände in Frankreich, sondern im Exil beschreibt. Und in der Tat suchten die Emigranten im deutschen Ausland den Kontakt mit ihresgleichen. In der Notsituation bekamen in vielen Fällen die Diener als einzige Vertraute aus der Heimat einen größeren Stellenwert als zuvor. Und tatsächlich wird diese Gesellschaftsschicht im Emigré stärker berücksichtigt als das Bürgertum. Da ist vor allem Albans Kammerdiener Bertrand. Als dieser erfährt, dass sich sein Herr in großen finanziellen Schwierigkeiten befindet, schreibt er an seine Geliebte Jenny, die Kammerzofe Victorines:

Mon pauvre maître, comme je te l’ai confié, a essuyé une grosse banqueroute qui a raflé tout son pauvre avoir, et pour comble de malheur, monsieur le Président est allé faire un voyage d’un mois ou six semaines, il faut que ce soit

91 Richardson, 1990, Bd.6, Brief XXXI, S.112.

pour quelque grande affaire sans doute; car il a écrit comme ça à mon maître, qu’il ne pouvait lui dire où il allait. (E, Brief LXI)

Bertrands Soziolekt unterscheidet sich von der Ausdrucksweise der Adeligen. Er ist beispielsweise der einzige, der den Ausdruck ça benutzt. Es wird deutlich, dass er ein etwas einfacheres Gemüt hat.

Doch dieser Umstand wird nicht negativ gewertet. Im Gegenteil:

Bertrand hat ein sehr gutes Herz, und er entschließt sich, das einzig Wertvolle, das er besitzt, für seinen Herrn herzugeben. Er beauftragt Jenny, seine goldene Uhr zu verkaufen. Da er Albans Stolz kennt, möchte er seine gute Tat geheimhalten. Sein Glaube lässt ihn so selbstlos handeln, denn er ist der festen Überzeugung, Gott werde ihn für die gute Tat eines Tages belohnen:

Il faut croire que Dieu un jour aura pitié des honnêtes gens, et que nous aurons une bonne auberge dans quelque belle ville de France. J’en suis si persuadé que je songe quelquefois à l’enseigne.(E, Brief LXI)

Bertrand wünscht sich eine bescheidene selbständige Existenz und möchte eines Tages nach Frankreich zurückkehren. Man könnte meinen, dass er in seiner Lage hofft, die Republikaner würden sich in seinem Vaterland dauerhaft durchsetzen. Doch davon spricht er nicht. Es liegt ihm zufolge in Gottes Hand, ob sich seine soziale Situation eines Tages ändern wird. Damit vertritt er die Ansicht der Aristokratie, dass die gesellschaftliche Ordnung vor der Revolution gottgewollt war. Bertrand ist in erster Linie um das Wohl seines Herrn besorgt und freut sich sehr, als dieser durch geheime Unterstützung Victorines und Emilies 200 Dukaten anonym geschickt bekommt:

Dieu n’abandonne jamais les honnêtes gens, ma chère JENNY, en voici une nouvelle preuve. [...] voici [...] qu’il n’est plus question de vendre la montre, où j’espère que tu regarderas quelquefois l’heure qu’il est. Je vais donc la bien conserver, bien entendu que si, Dieu nous en préserve, monsieur le Marquis se trouvait dans le même cas, la montre, et tout ce que possède BERTRAND, serait à son service.(E, Brief LXIV)

In seinem Denken ist das hierarchische Gefälle zwischen Alban und ihm fest verankert. Er sieht es als seine unbezweifelbare Pflicht als Diener an, seine eigenen Interessen hinter denen seines Herrn zurückzustellen. Wie schon bei Rousseau ist das Dienerschicksal an das Herrenschicksal geknüpft.

Bertrand bewundert sowohl Alban als auch den Président de Longueil für ihren klugen Verstand. Ihre politischen Überzeugungen erscheinen ihm richtig, und aus diesem Grund ergreift er für die Royalisten Partei. Als Alban zurück in den Krieg zieht, schreibt Bertrand an Victorine:

[...] on dit que monsieur le Marquis est encore un grand politique, outre qu’il est un si brave homme. J’ai quelquefois entendu monsieur le Président, qui est un grand esprit, c’était son terme, en montrant la tête de mon maître: il y a du monde au logis. Nous avons frotté par deux fois ces enragés de Patriotes; il y en a beaucoup parmi eux qui n’ont tant seulement pas de souliers; ils se font tuer comme les mouches, et pour un bon Français de tué ou de blessé, il y a cinquante Patriotes à bas [...]. (E, Brief CLIX)

Somit verkörpert Bertrand zwar eine untere Gesellschaftsschicht, vertritt aber die Meinung der Aristokratie.

Der Figur wird mehr Raum gegeben als den Dienern bei Richardson, doch immer noch sehr wenig im Verhältnis zu den Adeligen. Das Werk enthält nur vier Briefe des Dieners. Dem stehen 171 Briefe von Adeligen gegenüber. Von Jenny gibt es gar kein schriftliches Zeugnis, obwohl sie ja zumindest lesen können muss - jedenfalls ist nicht davon die Rede, dass sie sich die Briefe von Bertrand vorlesen lässt.

Eine weitere Figur der unteren Schicht ist ein älterer Schwarzer, Almanzor. Er ist der Diener eines schwerkranken 76jährigen Adeligen und dessen Tochter Charlotte. Der Autor verleiht ihm weder eine eigene Stimme noch eine eigene Meinung. Es wird lediglich erwähnt, dass der Mann für seine treuen Dienste von der Loewenstein-Gesellschaft materiell unterstützt wird. Victorine schreibt an die Comtesse de Montjustin:

L’idée m’est venue de profiter de la grande compagnie pour faire une quête en faveur d’Almanzor, et vous recevrez trente ducats avec cette lettre. Charlotte va pleurer de joye, et pour la rendre tout-à-fait heureuse, dites-lui que le baron de Sthaller, dont le concierge vient de mourir, lui donne cette place; il sera logé, nourri, ce bon noir qui a bien peu de pareils parmi les blancs, et il aura de bons appointemens.(E, Brief LII, S.1675)

Dieser Schwarze stellt in den Augen Victorines mit seinem Edelmut eine Ausnahme dar. Ähnlich wie Bertrand ist er moralisch vollkommen integer. Sénac beschreibt somit nur einen ganz bestimmten Typus aus dem einfachen Volk mit Wohlwollen:

gottergebene Menschen, die sich den Adeligen gegenüber solidarisch verhalten.

Der Autor geht sogar so weit, aus einer ehemaligen Prostituierten eine bekehrte Königsanhängerin zu machen:

Mon hôtesse, qui est fort officieuse, lorsqu’il ne lui en coûte rien, m’a dit hier qu’il y avait dans la maison voisine une Française qui avait grande besoin de secours, et elle m’a engagé à aller la voir; je l’ai suivie dans un misérable galetas où j’ai trouvé couchée sur un méchant lit, une jeune femme fort souffrante. [...] je lui ai demandé son nom et son état, et elle m’a ingénuement répondu qu’elle avait été danseuse d’un petit spectacle des Boulevards, qu’elle avait fait d’ailleurs un métier qui n’était pas fort honnête, et dont elle se repentait. Sur sa table était un petit crucifix assez bien travaillé auquel était attaché quelque chose qui était enveloppé de satin. Je considérai le crucifix et lui demandai, si ce qui était attaché était quelque relique. Non, dit-elle, et ayant ôté le satin, elle me fit voir en s’attendrissant un petit portrait de Louis XVI. C’est bien le cas de dire avec Molière où la vertu va-t-elle se nicher?

(Longueil an Alban, E, Brief CVIII, S.1815f.)

Erstens vertreten also die Charaktere des einfachen Volks, die positiv geschildert werden, die gleiche Meinung wie der Autor.

Zweitens sind sie Randfiguren des Romans. Der Autor zeigt sich dankbar für ihre Solidarität, verweist sie aber auch zugleich an ihren Platz am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter. Der Emigré bleibt daher insgesamt eher eine Sittenstudie der Adelsschicht, berücksichtigt jedoch, wenn auch zaghaft und interessengebunden, eine untere gesellschaftliche Klasse.

Sénac de Meilhan hat sich demnach weitgehend an die in der Einleitung erwähnte Doctrine Classique gehalten, die von Autoren forderte, nur eine Gesellschaftsschicht zu beschreiben. Er machte

die Aristokratie abweichend von seinem eigenen ‘Programm’ zum Mittelpunkt seines Werks, obwohl bereits eine Verbürgerlichung der Leserschaft stattgefunden hatte. Er war bei weitem nicht der einzige. J.-S. Wood hat gezeigt, dass die Mehrzahl der französischen Romane, die zwischen 1789 und 1815 verfasst wurden, nach wie vor adelige Helden hatten. Von insgeamt 47 aristokratischen Protagonisten werden nur acht negativ geschildert. Wood führt diesen Umstand darauf zurück, dass sich vor allem Emigranten schriftstellerisch betätigten und diese nur auf ihren eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen konnten92.

Sénac wollte einerseits dem Adel ein Denkmal setzen, so dass zukünftige Generationen von den Heldentaten ihrer Vorfahren lesen könnten:

La Révolution deviendra une époque nationale, [...] et une infinité de familles dateront de ce temps une illustration méritée par des services éclatans, ou un attachement héroïque à la monarchie, qui les rapprocheront des anciennes Maisons. (E, Brief LXXXVI, S.1754)

Er war aber andererseits auch der Auffassung, dass die Schilderung eines so wichtigen historischen Ereignisses eine langfristige Allgemeingültigkeit besitze, die in späteren Epochen Interesse wecken könne, sofern es ihm gelinge, die großen Wahrheiten über die Natur des Menschen aus dem Geschehen herauszuarbeiten:

Un historien ne peut avoir de gloire durable, que lorsqu’il approfondit la moralité de l’homme, et développe avec sagacité et impartialité les modifications que lui ont fait subir les institutions civiles et religieuses; alors il devient intéressant pour toutes les nations et tous les siècles. [...] s’il [Tacite]

n’avait pas fait sortir de son sujet de grandes vérités morales, éternellement intéressantes, le mérite même de son style ne soutiendrait pas l’ouvrage. (E, Brief LXXXVI, S.1754)

Sénac lobt die Geschichtsschreibung eines Tacitus, dessen Werke diejenigen der Moralisten vorbereiten93. Wir werden noch zeigen, dass Sénac seinem Vorbild Tacitus nacheifert. Die Neuauflagen des

92 Wood, 1954, S.32f.

93 vgl. Stackelberg, 1960, S.34.

Emigré anlässlich des zweiten Weltkriegs sprechen dafür, dass Sénac die angestrebte Abstraktion gelungen ist, auch wenn bei ihm nicht von Unparteilichkeit die Rede sein kann.

Im folgenden wollen wir näher untersuchen, auf welche Weise der Autor historische Elemente mit der fiktiven Handlung des Romans verbunden hat.

Im Dokument Spiegel einer Gesellschaft im Umbruch (Seite 42-47)