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2 Untersuchungsleitende Vorannahmen und Zielsetzung der Arbeit

2.1. Zur Theorie und Praxis der Heimerziehung

2.1.3 Zum Ertrag der Forschung und zu ihrem Theorie-Praxis-Verständnis

Die wohl umfassendste Arbeit zum Thema Forschung und Theoriebildung in der deutschen Heimerziehung unter Einbezug und im Vergleich der englischen Entwicklung hat Thomas Gabriel vorgelegt (Gabriel 2001).

Gabriel stellt eine deutliche Differenz zwischen englischem und deutschem Diskurs fest. „Im deutschen Diskurs zur Forschung in der Heimerziehung stellen (im Gegensatz zum englischen Diskurs, d. V.) Problemlösungsfähigkeit und Anwendungsorientierung von Studien keine zen-tralen Kriterien zur Beurteilung ihrer theoretischen Relevanz dar.“ (Gabriel 2001 S. 153).

Sieht man von den oben schon genannten neueren empirischen Studien ab, die stark einzelfallbezogen Standards und Ergebnisse der Heimerziehung fokussieren, weniger aber die Institutionswirklichkeit mit ihren inneren Prozessen in den Blick nehmen, dann besteht die Literatur über Heimerziehung in der Tat entweder aus Erzählungen, prosaischen Falldarstellungen, wenig systematischen Praxisbeschreibungen, Konzeptdarstellungen oder berufsethischen Reflexionen im Sinne der Kritik Tenorths. Empirisch gestützte und kategorialanalytisch durchdachte Theorieversuche gibt es kaum, mit Ausnahme etwa der Arbeit der Planungsgruppe Petra, die die Heimerziehungswirklichkeit systematisch kategorisiert beschrieben hat und auf die wir weiter unten zurückkommen (Planungsgruppe Petra 1987).

Gabriel nennt für die deutsche Heimerziehungsforschung drei Schwierigkeiten:

(1) „Der vermeintliche Widerspruch zwischen begrifflich-theoretischer und empirischer Forschung.

(2) Die scheinbare Inkommensurabilität von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden.

(3) Die mangelnde Integration von Theorie und Praxis“ (Gabriel 2001, S. 154).

Im Folgenden soll die Reflexion Gabriels ansatzweise dargestellt werden, weil u. a. davon ausgehend eine kategoriale Standortbestimmung für unsere Arbeit versucht werden soll.

Zur vermeintlichen Inkommensurabilität zwischen begrifflich-theoretischer und empirischer Forschung

Zwei Argumente werden gegen die empirische Forschung der Heimerziehung angeführt:

Zum einen wird ein klar identifizierbarer vorfindbarer Gegenstand bestritten: Sozialpädagogik und so auch Heimerziehung existiert nur als Diskurs, nicht als konkreter Gegenstand, so Winkler (grundlegend Winkler 1988, besonders S. 11ff).

Zum anderen wird die Heimerziehung als für die Forschung zu komplex gesehen, mit der Folge, dass die Vielzahl der Bedingungsfaktoren zu erhobenen Datenmengen führen, die nicht mehr sinnvoll bewältigt werden können oder durch notwendige Abstraktionen nur triviale Ergebnisse produzieren würden (Gabriel 2001, S. 154f). Gabriel bezieht sich hier vor allem auf die Einwände Winklers, der bei fast allen neueren Studien über Heimerziehung einen verengten Empirismus ohne ausreichenden gesellschaftlichen Bezug beklagt.

Allerdings fragt Gabriel, wie denn ohne Bezug auf die Realität der Heimerziehung und ohne Abstraktion und Reduktion überhaupt Theorie generiert werden soll (Gabriel 2001, S. 155).

Gabriel gesteht zu, „dass Prozesse in der Heimerziehung durch ihre Komplexität und strukturelle Offenheit nicht im Rahmen von schlichten Kausalitäten fassbar sind“ (Gabriel 2001, S. 156). Dies besagt nach Gabriel jedoch nicht, dass bestimmte Wirkfaktoren nicht durch die Forschung isoliert und identifiziert werden können. Das wird nach Gabriel nicht alleine durch Kausalanalysen möglich sein, aber durch Methoden, die der Komplexität und der Eigenart des Gegenstandes gerecht werden. Gabriel verweist hier auf Glaser und Strauß, die die unauflösbare Dialektik von Theorie und Empirie erkannten und diese Erkenntnis in ihrem Forschungskonzept der „Grounded Theory“ umzusetzen versuchten. Forschung wird dort verstanden als kreativer Prozess der Theoriebildung (Gabriel 2001, S. 157). Auf die Methode wird im Methodenkapitel näher eingegangen.

Jedenfalls stimmt Gabriel mit der erkenntnistheoretischen Kritik Tenorths überein, indem er formuliert: „Die Generierung von theoretischen Schlüssen, die sich nur aus theoretischen Vorannahmen entwickeln, steht in Gefahr, ihren selbstreferentiellen Charakter zu kultivieren oder gar normativen/ideologischen Selbstmissverständnissen aufzusitzen, da die Gültigkeit ihrer Aussagen auf formal logischen Argumentationen oder rein philosophischen und normativen Setzungen beruhen“ (Gabriel 2001, S. 158f). Beispielhaft hierfür kann die Auseinandersetzung um die theoretische Fundierung einer konstruktivistischen Erkenntnishaltung in der Sozialen Arbeit gelten. Im Anschluss an Luhmann entwickelte sich in der Sozialen Arbeit das Paradigma eines Konstruktivismus und Relativismus, der die Alltagswahrnehmung der Profession mancherorts in Haltungen des ständigen Funktionalismusverdachts und der notorischen Skepsis trieb. Das Bewusstsein der Kontingenz ist für die Praxis nicht nur hilfreich, es kann auch Konsensprozesse erschweren.

So können Theorien mit hoher logischer Stringenz und Plausibilität, wie die Systemtheorie Luhmanns, so fruchtbar diese analytisch für die Theoriebildung auf einer hohen Abstraktionsstufe sein mögen, doch die Praxis nicht ohne jeweilige Übersetzung in die Professionslogik orientieren (siehe hierzu Heiner 1995, S. 427-441 und 525-546 sowie Schumacher 2008, S. 287-295). Was erkenntnistheoretisch spätestens seit Kant gilt, nämlich die Absage an die Erkenntnismöglichkeit absoluter Wahrheit, kann durch unreflektierte Übersetzung in die Praxis zu einem Relativismus werden, der eine immer schon notwendige und mögliche Pragmatik des Handelns leicht verhindern kann (grundsätzlich dazu: Fischer 1995 sowie Luhmann & Schorr 1982). Ohne empirische Anbindung und Relativierung kann Theorie so der Praxis jedenfalls nicht sinnvoll Orientierung geben, bestenfalls irritieren. Eine

praxistaugliche gute Interpretation und Übersetzung der Systemtheorie bietet Ritscher (Ritscher 2002, S. 22-76).

Zur Kontroverse quantitative versus qualitative Forschungsmethoden

Gabriel hält den Methodenstreit zwischen den Vertretern der quantitativen und qualitativen Forschung für eine überkommene Kontroverse, „denn erkenntnistheoretisch lassen sich quantitative und qualitative Forschungsmethoden komplementär verbinden“ (Gabriel 2001, S.

159). Ohne qualitative Verfahren ist die subjektive Wirklichkeit der Akteure in der Heimerziehung und die Prozessdimension, ohne die die meisten Warum-Fragen nicht zu beantworten sind, nicht zu ergründen bzw. sind quantitative Forschungsergebnisse oft nicht zu verstehen bzw. nicht interpretierbar. Dies stellt Gabriel mit Bezug auf die englischen Forscher Mordock und Bullock fest, die nach Gabriel die Verbindung von qualitativen und quantitativen Ansätzen auf vier Arten für möglich halten:

• „Quantitative Befunde können durch qualitative Fallstudien illustriert werden, um die individuellen Perspektiven und Prozesse in ihren subjektiv wahrgenommenen Konsequenzen beschreibbar zu machen.

• Qualitative Studien können den Schlüssel zum Verstehen quantitativer Befunde liefern.

• Qualitative Forschung kann Typologien entwerfen, die das Verständnis von Wirkfaktoren, die aus quantitativen Befunden entstanden sind, überprüfbar machen und ihre Doppeldeutigkeit erklären.

• Qualitative Forschung kann Hypothesen produzieren, die dann quantitativ überprüft werden können“

(Gabriel 2001, S. 160f).

Die quantitative Forschung hat allerdings im Rahmen der neueren Diskussion um die wirkungsorientierte Steuerung eine hohe Bedeutung erlangt. EVAS als Evaluationsmethode steht in dieser Tradition; und eine ganze „Schule“ im Anschluss an Franz Petermann präferiert diesen Ansatz (vgl.: JES Studie 2002, Macsenaere & Knab 2004).

Die Präferenz für quantitative Forschung ist wohl nicht nur durch eine Präferenz für Präzision zu erklären, die Zahlen zunächst suggerieren, sondern durch eine Nähe zur Naturwissenschaft.

Es ist unübersehbar, dass die quantitative Forschungsrichtung, jedenfalls in der Jugendhilfe, kategorial und personell überwiegend an die wissenschaftliche Psychologie angeschlossen ist, die ihre wissenschaftliche Reputation in nicht geringem Maße aus der Erfüllung naturwissenschaftlich orientierter Forschungsstandards bezieht (zu diesen Standards: Bortz u.

Döring 2002). Andererseits gibt es innerhalb der sozialpädagogischen Disziplin eine deutliche Präferenz für qualitative Forschungsmethoden, die dann auch mit quantitativen Methoden ergänzt werden können (siehe Heiner 1988; Rauschenbach, Thole 1998; Otto, Oelrich, Micheel 2003; Schweppe, Thole 2005). So ist der Methodenstreit auch ein Streit zwischen

zwei Disziplinen, der aber erheblich beeinflusst wird von dem Bedarf an quantifizierten Daten von Seiten der Politik.

2.1.4. Zum Verhältnis von Theorie, Praxis und Forschung