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Zu Theorieformen und Theorieebenen:

2.5 Leitung, Beratung, Supervision, Fortbildung und Evaluation als strukturelle Basierung einer selbstreflexiven Praxis

2.5.2 Historische Entwicklung des Leitungsverständnisses

Die Tradition der Sozialen Arbeit als professionelle Sozialpädagogik und Heimpädagogik begann mit einer zunehmenden Ablösung karitativer Tätigkeit von den Kirchen. Im neunzehnten Jahrhundert entstand eine bürgerliche Basisbewegung sozialer Hilfe mit dem Engagement von Einzelnen (Tenorth 1988, S. 165ff). Eine in staatliche Strukturen eingebundene Soziale Arbeit jenseits der Kirchen ist so erst im letzten Jahrhundert in der Breite geschaffen worden, mit einem seither erfolgten Wandel ihres Selbstverständnisses hin zu einem sozialstaatlichen Dienstleistungsverständnis (Olk 1989, S. 46-103).

Wie die hohe Verantwortlichkeit, die bei den Pionieren der Sozialen Arbeit mit karitativen und sozialpolitisch motivierten Haltungen quasi gesinnungsethisch getragen wurde, mit den erklärten Tugenden der Liebe und der Gerechtigkeit, heute bewahrt werden kann unter Bedingungen bezahlter Arbeit, ist eine besondere, hier nicht weiter verfolgbare Frage (Müller 1988, S. 9-20). Es soll hier nur hingewiesen werden auf geistige Traditionsbestände des Berufes, die in der Praxis immer noch vorzufinden sind als den Beruf motivierende „geistige Energien“, die aber gleichzeitig auch Traditionen der Methodenskepsis mitführen (Winkler 1988, S. 239ff).

Die Tradition setzt primär auf Persönlichkeit und Charakter als Basis fachlichen Handelns, weniger auf Methoden im modernen Sinne. Dies bedeutete auch ein bestimmtes Leitungsverständnis. In der Tradition der Heimerziehung war der Heimleiter mehr Hausvater als Manager, mehr moralische Instanz als Fachvorgesetzter. Der Einfluss der abendländischen Klostertradition bzw. der Klosterregeln war in der Heimerziehung noch bis weit in das letzte Jahrhundert wirksam. Heimleiter waren lange an der Figur des Abtes orientiert, wie sie schon Benedikt von Nursa beschrieben hatte (Röper 1976, S. 11-50).

Bis zu Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren Leitungsstellen in größeren kirchlichen Heimen noch von Priestern, Mönchen und Nonnen besetzt, die sich an

den alten Vorbildern zu orientieren versuchten. Kein Bereich der Sozialen Arbeit stand so stark, so lange und so wenig von der Öffentlichkeit wahrgenommen unter dem Einfluss des mittelalterlichen Lebensmodells der Klöster wie die Heimerziehung. Dass die Heimreformen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts dann mancherorts einer Revolution glichen, auch so benannt wurden, konnte nicht überraschen. Doch die Revolutionäre hatten über neue Werthaltungen hinaus noch keine neuen Methoden, und so musste und muss die neue Subjektorientierung der Heimerziehung erst noch mühsam eine entsprechende Professionalität aufbauen. Dies gilt auch für das Führungs- und Leitungskonzept: Die Absage an autoritäre Führung, die sich um Regeltreue und Charakterbildung sorgte, ergibt noch kein neues Führungskonzept. Noch lange hielt man, auch in der freien Wirtschaft, am Modell einer bestimmten Führungspersönlichkeit fest, bis erst neuerlich von einflussreichen Managementberatern der Primat der Methode gefordert wird, aber gleichzeitig auch ein erneuertes Verständnis von Prinzipien- und Tugendorientierung (siehe hierzu Malik 2006, S.

31-74 und Covey 1997, S. 7-54).

Die Methodisierung der Praxis hat jedenfalls im beschriebenen, immer noch stattfindenden historischen Umbruch des Führungsparadigmas ein nicht zu unterschätzendes Hemmnis zu beachten, gerade in der Zurückhaltung von Leitung bezüglich verantwortlicher und wirksamer fachlich-methodischer Führung.

Fachliche Führung setzt verbindliche fachliche Standards voraus, die in den letzten 20 Jahren erst mit klareren Konturen in der Fachliteratur beschrieben werden, aber weitgehend noch nicht in den Führungsetagen des Sozialmanagements rezipiert worden sind. Die Besetzung der Stabsstellen der Heimerziehung mit Psychologen wird hier u. U. zu einem Hindernis, weil die Psychologie als Profession nicht die Methodenentwicklung der Sozialen Arbeit aufnimmt und auf eigene Methoden zurückgreift, wie etwa bei der Entwicklung von EVAS durch die Orientierung an pädagogikfremden Diagnosekategorien zu erkennen ist.

Man kann die Frage nach der Qualifikation der Leitungen für ihre Aufgabe stellen und wird dann beklagen, was Fredmund Malik für die Führungskräfte in der Wirtschaft überhaupt bemängelt: Es ist überwiegende Praxis, Führungskräfte aus dem Kreis der fachlich besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu rekrutieren, ohne ausreichend zu bedenken, dass fachliche Brillanz alleine noch keine Führungskraft ausmacht. Leitungskräfte sind für ihre Aufgabe oft kaum vorbereitet. Es fehlt dann oft am klaren Bewusstsein für die Aufgaben wirksamer Führung, nämlich:

Ziele formulieren, organisieren, entscheiden, kontrollieren und Menschen fördern – und nicht zuletzt, könnte man ergänzen: evaluieren. Es fehlt weiter die professionelle Handhabung von

Werkzeugen wirksamer Führung: die Sitzung, der Bericht, Job Design und Assignment Control, persönliche Arbeitsmethodik, Budget und Budgetierung, Leistungsbeurteilung, Mitarbeitergespräch, systematisches Wissensmanagement. Für Malik sind dies die Prüfsteine für die Professionalität einer Führungskraft, wobei es hier nicht nur um das obere Management geht, sondern um alle Führungskräfte einer Einrichtung. Die genannten Werkzeuge suggerieren vielleicht eine für den sozialen Bereich zu starke betriebswirtschaftliche Orientierung, aber soziale Einrichtungen sind oft so groß wie mittelständische Betriebe, und die Wohlfahrtsverbände sind Großkonzerne (vgl. Malik 2004, 363ff und 2006, S. 171ff. und 277 ff).

Es gibt gerade in der Sozialen Arbeit immer noch nennenswert die Tradition, dass sich die Führungskräfte der unteren Ebene der Heime (etwa Gruppenleiter und Erziehungsleiter) mit der „Basis“, den Mitarbeitern der Teams, solidarisch verhalten gegen die „eigentliche“

Leitung, die Heimleitung bzw. die Geschäftsführung, die mit dem Arbeitgeber identifiziert wird, auch wenn diese in Heimen meist zur eigenen Profession gehört. Dieses Phänomen und die damit einhergehenden Spaltungstendenzen und Misstrauensprobleme sind immer zu beachten, wenn es um Evaluation in der Heimerziehung geht.

Auch wenn man Maliks Kritik an der Rekrutierung von Leitung für zu weitgehend hält, so ist schwer zu bestreiten, dass gerade in der Sozialen Arbeit einzelne Aspekte, wie etwa Leistungsbeurteilung oder systematisches Rechenschaft sich und anderen gegenüber und damit im Ansatz auch Evaluation, kaum eine eingeübte Tradition haben. Leitung wird immer noch überwiegend negativ wahrgenommen, bleibt so in der Wirkung nicht selten in einer für sich selbst vermeintlich schützenden Defensive und nutzt Qualitätsmanagement dann nur als normatives Anweisungsmodell. Selten werden Leiter das so sagen, denn es ist ein Arrangement mit scheinbar nicht änderbaren Gegebenheiten.

2.5.3 Das Zusammenwirken von Leitung, Supervision und Beratung

Im Gegensatz zur Leitung wird Supervision, deren Tätigkeit inhaltlich meist kaum an die Leitung kommunikativ angeschlossen ist, mit dem Bild der guten Leitung identifiziert, und so haben wir systemisch gesehen oft differente und konkurrierende Referenzsysteme für die Teams zu beobachten: Verständnis für ihre schwierige Arbeitssituation und entlastende Bewertungen und Empfehlungen erhalten die Mitarbeiter von der Supervision, die in Deutschland, im Gegensatz etwa zu den angelsächsischen Ländern, traditionell in einer eher

therapeutischen Tradition steht. Für Vorgaben, Arbeitsdruck und Beschränkungen ist die Leitung zuständig. Supervision hat mancherorts durch ihre Abstinenz gegenüber der Organisation die oben aufgezeigten Tendenzen bislang durchaus auch mancherorts stabilisiert (Pühl 1998). So ist die in jüngerer Zeit zu beobachtende Hinwendung der Supervision zur Organisationsentwicklung mit Hoffnungen verbunden, dass auch Arbeitsstrukturen und die Organisation wieder zum Ziel von Veränderungsimpulsen werden können. Angelika Iser weist hier auf eine „in gewisser Weise“ sich vollziehende Rückkehr zur ursprünglichen Form von Supervision hin, als diese auch Mittel zur normativen und wirkungsorientierten Kontrolle war (Iser 2008, S. 64).

Fachberatung und Coaching im Blick auf Konzept- und Methodenentwicklung und inhaltliche fachliche Führung haben Entwicklungsbedarf in der Heimerziehung. Dies wird von den Mitarbeitern zwar benannt, aber nicht unbedingt im Sinne eines wirklichen Änderungswunsches problematisiert, weil nicht die Frage der Autonomie der Profession, sondern zunächst nicht selten die Frage der Autonomie des Teams im Vordergrund steht.

Fachberatung wird gerne angenommen als Fortbildung, die aber ohne projektierte Implementationsarbeit in der Regel wenig in den Einrichtungen wirksam wird.

Nach meiner langjährigen Beobachtung setzt sich eine gute Qualität in einer Einrichtung in der Regel nur da nachhaltig durch, ist eine gute Praxis nur da zu finden, wo die Leitungsebene selbst ein solides Maß an fachlichem Können und Wissen und den Willen sowie die Durchsetzungskraft mitbringt, eine gute Praxis zu entwickeln und, das ist entscheidend, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Mitproduzenten der Innovation aktiv beteiligt. Das bestätigt auch ein Blick in die Geschichte der Sozialen Arbeit, wenn man die sogenannten Klassiker studiert (vgl. Galuske, Thole & Gängler 1998, S. 11-36). Doch solche Praxen, die immer auch forschend und experimentierend waren, sind die Ausnahme. Verwaltung, nicht fachliche Innovation, hat sich überwiegend durchgesetzt, nimmt man die zunehmende Besetzung von höheren Leitungsstellen, wie etwa die Besetzung von Jugendamts- leitungsstellen mit Verwaltungskräften, als Indikator.

Auch flächendeckende ständige Supervision kann die aufgezeigten Tendenzen nicht alleine kompensieren, unter bestimmten Umständen eher noch stabilisieren. Supervision, so wie sie in Deutschland stattfindet, kann mangelnde inhaltliche Führung nicht ausreichend ersetzen, weil Supervision sich z. B. in Heimen auf das Mikrosystem Team beschränkt, in der Regel nicht in direkter Kommunikation mit der Organisation insgesamt steht und diese so nur über die Kommunikation mit den Gruppenteams wahrnimmt. Sie kann wahrgenommene mangelnde inhaltliche Führung auch nicht direkt an die Leitung zurückmelden, weil die

unterste Leitungsebene, die Gruppenleiter, sich in der Regel nicht als Leitung mit entsprechender Verantwortung versteht und ein vertrauensvoller Kontakt zur nächsten Leitungsstufe aus konzeptionellen und oben genannten Gründen zu wenig besteht (Pühl 1998).

Die beschriebene Problematik führt, wie oben schon angemerkt, nicht selten zu einer gespaltenen Diskurskultur: Die Hierarchie thematisiert überwiegend direkt Leistungsaspekte wie Belegung, Ökonomie, Abbrüche, Anfragen, Personalprobleme und Kundenzufriedenheit.

Die Supervision und eventuell die Stabsstellen (meist Psychologen) thematisieren die Mitarbeiterzufriedenheit und -belastung und die fachlichen Fragen mit oft starker Problemfokussierung auf Kommunikationsstörungen und Stimmungen. Fachliche verantwortliche Führung wird so durch das Abgeschnittensein von wichtigen Problemdiskursen systematisch schwierig. Es geht hier um den Hinweis auf institutionell erzeugte, aber in der Heimerziehung wenig bewusste und oft tabuisierte strukturelle Probleme, die zur Tradition geworden sind und so kaum noch als Hindernis für fachlich verantwortliche Wahrnehmung von Leitung erkannt werden (vgl. Maelicke 1994, S. 9ff. und Merchel 2004, S. 9 ff).

Evaluationsvorhaben können diesen Sachverhalt nicht ignorieren, wollen sie nicht systematisch scheitern. Evaluationsvorhaben sollten schon zu Beginn die Frage nach dem Entwicklungsstand des aufgezeigten Themas der Leitungskultur stellen.

Supervision, die sich auf Beziehungsaspekte der Teams konzentriert, erreicht die methodische Seite der Professionalität nur aus einer Teilperspektive. Leitung, die nur formal führt, bleibt bloße Geschäftsführung, und so ist die Tür schnell offen für Hilfe versprechende Systemimporte.

In der folgenden Übersicht soll die Problematik der beschriebenen Leerstelle deutlich gemacht werden, wobei das erste Schaubild die überwiegend vorzufindende Situation aufzeigt:

Fachkräfte

Leitung

Fachberatung/

Fortbildung Supervision

Abbildung 4: Kommunikationsdreieck Leitung – Fachberatung – Supervision

Diese Struktur ermöglicht eine professionelle Fallreflexion mit einer anleitenden Supervision, wobei mit „Fall“ hier auch Teamprobleme gemeint sind. Das aufgezeigte System hat keinen systematischen Ort für Fachberatung, Organisations- und Qualitätsentwicklung bzw. fachliche Entwicklungsprojekte. Oft gibt es zwar einen sogenannten Qualitätszirkel; dieser dient aber nicht selten eher der Legitimation nach außen mit meist ambivalenter Unterstützung der Leitung. Die Leitung hat nicht immer die nötige fachliche Kompetenz, meist auch nicht die zeitlichen und fachlichen Ressourcen zur Unterstützung der Qualitätsentwicklung. Eine Beratung von außen ist teuer und oft ineffektiv, weil es in der Organisation keinen personellen, strukturellen und konzeptionellen Ort für den Anschluss dieser Beratung gibt, kein verlässliches Wissensmanagement existiert. Und: Der ökonomische Druck der letzten Jahre nimmt die Ressourcen der Leitungskräfte verstärkt in Anspruch.

Die Einflussmöglichkeit der Leitung ist im Dreieck formal groß durch die Dienst- und Fachaufsicht sowie die Genehmigung und Auswahl der Supervision. In der Praxis werden aber die Entscheidungen für Fortbildung und Supervision meist nur formal von der Leitung getroffen. Inhaltlich wählen nicht selten die Fachkräfte ihre Supervisoren und Supervisorinnen aus und suchen sich auch die Fortbildungen eigenständig. Dies geschieht zum einen vordergründig aus Zeitmangel der Leitung. Oft ist jedoch ein mangelndes Konzept für Fortbildung und Supervision Ursache. Die Folge in Heimen ist, dass für die Einrichtung keine gemeinsamen fachlichen Standards entstehen können, bestenfalls in einzelnen Teams, die sich dann aber in derselben Einrichtung in ihrem fachlichen Profil deutlich unterscheiden können. Eine fachkriterien- und methodenbasierte einheitliche Einrichtungskultur entsteht so kaum. Leitung leitet so fachlich nicht. Leitung beschränkt sich auf betriebswirtschaftliche

Führung, sie gibt finanzielle Spielräume vor und lässt die Fachkräfte fachlich weitgehend alleine (vergl. auch Ristok 1996, S. 229ff).