• Keine Ergebnisse gefunden

3 Methode, Untersuchungsansatz und Vorstudie

3.1 Methodenprobleme zwischen Erklären und Verstehen

3.1.1. Logik der Erziehung

Selbst wenn es gelänge, die wichtigsten Wirkfaktoren für die Ergebnisse der pädagogischen Arbeit herauszufinden, so würden wir sehr wahrscheinlich auf Schwierigkeiten stoßen, z. B.

schon in der Pondierung der Wirkstärken und Bestimmung der Wirkrichtungen einzelner Faktoren. Der erzieherische Wirkungszusammenhang ist grundsätzlich hoch kontingent. Auch wenn man Erziehung auf das dialogische Verhältnis zwischen Pädagogen und Kindern/Jugendlichen reduziert, so gilt das Gesagte prinzipiell immer noch, so kann man etwa Luhmanns Ausführungen zur doppelten Kontingenz lesen. Allerdings kann die erzieherische Situation nie die von Luhmann theoretisch unterstellte Offenheit haben, Erziehung setzt immer schon Strukturen und Erwartungen voraus. Die Praxis bestätigt hier die Systemtheorie Luhmanns nur eingeschränkt und situativ modifiziert (Luhmann 1984, S. 148-190).

Doch stellen wir die methodische Frage noch einmal in einen weiteren Zusammenhang pädagogischen Denkens, um uns nicht nur den empirischen, sondern auch den geistesgeschichtlichen, funktionalen und ethischen Kontext als Wirklichkeit reflexiven Wissens über Erziehung noch einmal bewusst zu machen.

Fragt man, wie die in Deutschland dominierende geisteswissenschaftliche Tradition der Pädagogik auf Fragen nach der erzieherischen Wirkung geantwortet hat, so zeigt sich, dass das Problem eher erziehungsphilosophisch interpretiert wurde; etwa bei Wilhelm Flitner:

Der Erzieher macht ja nicht den Zögling zum gebildeten Menschen, dieser selbst nur macht sich dazu; er bildet sich, sofern er in der Vieldeutigkeit der Anforderungen sich entschließen und entscheiden lernt; weil er Lieben, Danken, Schaffen, Freude, Vergebung, Hoffen und Vertrauen nur selber vollbringen kann, weil zur Reife die Freiheit, zur Lebemeisterung der Glaube gehört, weil ferner das

„Wollen und Vollbringen“, das Ergebnis eigentlicher Existenz nicht von einem anderen Menschen verursacht werden kann, darum bleibt das Ziel der Erziehung stets offen. (Flitner 1980, S. 130)

Hier handelt es sich nicht etwa um einen romantisch induzierten Idealismus ohne Wirklichkeitssinn, und auch nicht um die Position eines einzelnen Pädagogen. Die Betonung der Freiheit, durch die die Verantwortung für das Werden des Menschen primär in diesen selbst gelegt wird, entspricht dem leitenden Menschenbild abendländischer Kultur. Der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola formulierte in seinem als „Geburtsurkunde der pädagogischen Anthropologie“ bezeichneten Text „Über die Würde des Menschen“ Sätze, die er, wohl um die suggestive Wirkung zu verstärken, Gott in den Mund legte:

Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluss deines eigenen Geistes zu erheben. (zitiert in Böhm u.a. 2008, S. 86)

Das Denken in Wirkungszusammenhängen wurde in dieser Freiheitsvorstellung, die auch verstanden werden muss als eine Idee eines emazipativen pädagogischen Reformprogramms im Ausgang des Mittelalters, auf die Person beschränkt, der soziale Kontext eher vernachlässigt. Noch im deutschen Idealismus kann man dies zunächst sehen, etwa bei dem Philosophen Fichte, der als prominenter Protagonist der Freiheit nicht wenig Einfluss auf die Pädagogik genommen hat. Fichte bestimmt im Anschluss an Kant den einzelnen Menschen selbst als letzten Zweck: „sein bloßes Seyn ist der letzte Zweck seines Seyns“ und ihm sittliche Besserung als Ziel bestimmt, um „dadurch sich selbst immer glückseeliger zu machen“ (Fichte 1971, S. 9f).

Aber schon Fichte sieht auch die Wirklichkeit des Menschen in der Gesellschaft klar:

Wir wollen ein Glied der Gesellschaft, und wir machen ein Werkzeug derselben;

wir wollen einen freien Mitarbeiter an unserem großen Plan, und wir machen ein gezwungenes leidendes Instrument desselben: wir tödten durch unsre Einrichtung

den Menschen in ihm soviel es an uns liegt, und vergehen uns an ihm und an der Gesellschaft. (Fichte 1971, S. 30; Rechtschreibung des Originals)

Unterhalb und ganz entgegen dem ideal gedachten Menschenbild der Renaissance war Erziehung in Wirklichkeit für die Mehrheit der Menschen eben doch mehr Dressur in Unfreiheit bis in die neuere Zeit, wie wir auch schon oben zur Geschichte der Heimerziehung geschrieben haben.

Es sollen hier bei der Methodenfrage die pädagogisch-anthropologischen Implikationen der zu erforschenden Praxis nicht vernachlässigt werden. Die traditionelle Dialektik von Ideal und Wirklichkeit hat zum Teil eine Fortsetzung gefunden im schon dargestellten deutschen Theorie-Praxis-Diskurs, im Diskurs zwischen emanzipativer und affirmativer Pädagogik, und lässt sich ebenso zum Teil wieder entdecken in der jüngeren Methodendiskussion, im Diskurs zwischen qualitativen und quantitativen Methoden. Methoden sind nicht wertneutral, sie transportieren implizit bestimmte Perspektiven auf den Menschen. Das Wachhalten dieses eben nicht nur methodischen, sondern auch theoretischen Problems schärft unseren Blick für die Notwendigkeit der gedanklichen und methodischen Integration durch Reflexion dieser offenbar in immer neuer Gestalt und in verschiedenen Diskursen sich bildenden Polaritäten.

Doch abgesehen von der Schwierigkeit, Praxis durch Theorie von außen situationsgerecht anleiten oder diese etwa in ethischer Absicht verbessern zu wollen, ist pädagogische Praxis auch nicht ohne weiteres zu beobachten. Die systemtheoretische Diskussion, ausgehend von Luhmann und Schorr, geht noch weiter. Nicht nur Kausalerklärungen sind demnach schwierig durch Beobachtung zu erschließen, sondern auch dem Verstehen wird ein unterschätztes Defizit unterstellt. „Verstehen ist unmöglich. Wie kommt man trotzdem zurecht?“ So fragt Schorr (Schorr 1986, S. 11-39). Doch vielleicht kam diese systemtheoretische Interpretation durch einen zu hohen Anspruch an das Verstehen zustande:

... wer auf „Verstehen“ setzt, ist damit vor der Wirklichkeit nicht sicher. Die Verabsolutierung des „Verstehens“ hat Nachteile, nicht nur, weil das

„Missverstehen“ dann nur noch dysfunktional wahrgenommen wird, sondern auch weil die Erfolgserwartungen in eine unerfüllbare Höhe getrieben werden. (Oelkers 1986, S. 193)

Freilich gibt es gegen diese skeptische und resignative Tendenz der Technologiedefizitdebatte auch berechtigte Einsprüche, deren Essenz gut in der alten pädagogischen Erkenntnis zusammengefasst ist: „Das Ganze der Pädagogik, die Erziehung, hat einen szientistisch nicht einholbaren Sinn.“ (Blankertz zit. von Mollenhauer 1985, S. 7). Das pädagogische Handeln hat demnach einen zu postulierenden positiven Sinn jenseits kausaler Erklärungs-möglichkeiten. Pädagogisches Handeln ist möglich, auch wenn es nicht empirisch, systemisch

oder sonstwie logisch prüfbar letztbegründet werden kann. Heiner etwa folgt nicht der radikalen Konsequenz Luhmann’scher Analysen, die mindestens die theoretische Unmöglichkeit von Pädagogik und von sozialer persönlicher Hilfe behaupten (vgl. Heiner 1995). Auch Micha Brumlik fragt nach den Konsequenzen für die Sozialpädagogik: „Wenn helfendes Wirken so unwahrscheinlich ist, warum sollte es dann überhaupt noch betrieben werden? Warum nicht radikale Nonintervention und Ausstieg?“ (Brumlik 1987, S. 250).

Brumlik hält diese Konsequenz jedoch für die Folge einer Missinterpretation:

Denn der Nachweis der Unwahrscheinlichkeit pädagogischer Effizienz erscheint lediglich im Dämmerlicht alltäglichen Wissens und das heißt: einer Verkürzung als deren Unmöglichkeit. Genau genommen heißt Unwahrscheinlichkeit gerade – wenn auch nur schwach erwartbare – Möglichkeit! (Brumlik 1987, S. 251)

Brumliks Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit der doppelten Kontingenz ist keine theoretische, sondern eine praktische. Er empfiehlt: Wertprioritäten und „Vorrangigkeiten im zeitlichen Bereich festlegen“, um damit den theoretischen Möglichkeitsspielraum doppelter Kontingenz praktisch zu reduzieren, dies freilich im Korridor beruflicher Ethik und professioneller Kasuistik. Die Frage nach der Kausalität im Bereich der subjektiven Sinnkonstruktion ist letztlich eben nie ganz beantwortbar (Brumlik 1987, S. 251f).

Die menschliche Freiheit ist nicht nur philosophisch, sondern bleibt auch technologisch gesehen immer eine individuelle; und die Handlungsgründe des Einzelnen können immer nur annähernd, in Plausibilitätsgraden, und nie ganz, manchmal gar nicht verstanden werden. Die Wirklichkeit liegt uneinholbar zwischen Erkennen und Nichterkennen, weshalb wir im sozialen Handeln weniger von Erklären und mehr von Verstehen reden. Aber: Die Dialektik von Wissen und Unwissen ist allemal ein Stück aufklärbar. So formulieren Oelkers & Tenorth für die Pädagogik: „Zur Tradition der Pädagogik aber gehört es, den Schleier der Illusionen aufzuklären und damit das Handeln, wie immer zu verunsichern, so doch vernünftig in seinen Möglichkeiten diskutieren zu können“ (Oelkers & Tenorth 1987, S. 45).

Wer die Tradition bemüht, weiß, dass vor allem auch Erfahrungswissen, nicht nur Erklärungswissen zur Aufklärung der sozialen Wirklichkeit verhilft. Und so gibt es wohl auch nicht zufällig keine mit szientistischem Anspruch operativ ausgearbeitete Handlungstheorie der Heimerziehung, mit der soziale Handlungen im Feld beschreibbar wären. Eine Evaluationsstrecke im Sinne einer Ist-Soll-Logik kann deshalb auch nicht theoriegeleitet implementiert werden. Theorie- (nicht Methoden-)wissen bleibt hier notwendig abstrakt stehen als ein Kategoriennetz, wie wir es oben skizziert haben. Es bedarf dann eines Sets von Handlungsprinzipien und Fragen, die als Kasuistik die Klammer zwischen Theorie und Praxis bilden können.

Die besondere Wirkungslogik der Erziehung ist vor allem in der Erziehungswissenschaft ausführlich nach der so genannten „empirischen Wende“ diskutiert und analysiert worden, sollte aber hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden, weil die wissenschaftstheoretische Diskussion der Pädagogik für unsere Forschung die Art und den Raum der Erkenntnisgewinnung und Verstehensmöglichkeiten markiert und die Forschungsmethode mit bestimmt. Wichtig ist die Erinnerung auch, weil in neuerer Zeit quantitativ operierende Methoden der wirkungsorientierten Steuerung in Anwendung kommen, die die pädagogische Tradition der hier skizzierten Problematik zu ignorieren scheinen.

Es kann als Ertrag und methodische Konsequenz der Diskussion auch festgehalten werden, dass Pädagogik und Soziale Arbeit als Wissenschaft weder nur auf der Basis philosophisch-deduktiv angelegter Reflexion, noch nur auf der Basis einer empirisch-kausalen Forschung möglich ist. Beides kann Wirklichkeit ordnen oder transparent werden lassen, verfehlt für sich genommen jedoch leicht den Gesamtzusammenhang der Perspektiven und die Wirklichkeit des beruflichen Handelns (Stübing 2008, S. 51).

Auch aus den genannten Gründen würde eine Untersuchung, die etwa nur auf Ergebnisqualität beruflichen Handelns abgestellt ist, z. B. mit der Frage nach den Erziehungsergebnissen nicht die Frage des Warum und Wie der erzieherischen Wirkung beantworten können. Und so würde auch nicht die Frage nach Nebenwirkungen bestimmten Erziehungshandelns beantwortbar sein, obwohl diese Frage unverzichtbar für eine Gesamtbilanz ist. Dennoch ist Erziehung unverzichtbar, diese Erfahrung ist mittlerweile auch schulenübergreifend als wieder erinnerte Tradition und wissenschaftlich Erkenntnis zumindest in der Pädagogik akzeptiert (Mollenhauer 1985).

Als eine forschungsmethodische Konsequenz wird auch in der Erziehungswissenschaft die Gegenüberstellung etwa von quantitativen versus qualitativen Forschungsmethoden als nicht mehr zeitgemäße „alte Kontroverse“ gesehen: „Sie unterscheiden sich in ihren konkreten Annahmen und Arbeitsschritten, aber sie bleiben doch ‚wissenschaftlich‘, auf Forschung gestützt, an prüfbaren Behauptungen interessiert“ (Tenorth u. Lüders 1995, S. 522). In der Erziehungswissenschaft ist sogar von einem Zurückdrängen quantitativer Methoden die Rede, zugunsten von qualitativen, interpretativen Forschungsmethoden (Kuckartz 1995, S. 552).

Die kausale Analyse mit quantitativem Präzisionsanspruch scheitert an der Überkomplexität von Alltagskontexten, wie die Heimerziehung sie darstellt. Ein Beispiel des Scheiterns ist der Versuch, die Rentabilität der Heimerziehung auf Grund von Kausalanalysen ihrer Wirkungen

zu berechnen. Solche Versuche überzeugen nicht und sie können auch der Politik keine Orientierung geben. Was, wenn Heimerziehung sich nicht ökonomisch rentabel rechnen würde? Ist Erziehung bzw. die Entwicklung menschlichen Lebens fassbar in einer Berechnung? Auch die neueren Forschungsergebnisse zum Thema ergeben, dass Struktur- und Prozesslogik der Erziehung einer beschreibbaren Wahrscheinlichkeitslogik, nicht einer Ja-Nein-Logik gehorchen (siehe Roos 2005, ISA 2009). Erziehung hat ihre eigene Dignität, die in einer allgemeinen Handlungslogik nie aufgeht, notwendig nie ganz äußerlich fassbar ist und so ihre Autonomie eben durch Professionalität verantworten muss. Dies hat Friedrich Schleiermacher vielleicht als erster umfassend und paradigmatisch beschrieben und in jüngerer Zeit Mollenhauer noch einmal in Erinnerung zu rufen versucht (Schleiermacher 2000, S. 9ff; Mollenhauer 1985, 78ff).

Die hier reflektierten Fragen zur Erziehungslogik sind in jüngerer Zeit erneut bewusst zu stellen, um die ökonomisch motivierte Ausblendung des pädagogisch-ethischen Grund-verständnisses neuzeitlicher Erziehung problematisieren zu können. Für die Heimerziehung geht es dabei um ein orientierendes theoretisches und ethisch relevantes Vorwissen für ein angemessenes Verständnis der Erforschung pädagogischer Praxislogik (vergl. auch Benner 2001, bes. S. 15-28).