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Zu Theorieformen und Theorieebenen:

2.3 Zu den Notwendigkeiten einer selbstreflexiven Praxis in der Heimerziehung

Die Praxis der Heimerziehung weist nicht mehr die hohe strukturelle Standardisierung auf, die in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wegen institutioneller Erstarrung weitgehend aufgelöst wurde. Die neuere Heimerziehung ist stärker auf Zielgruppen hin konzipiert und versucht durch Hilfeplanung jedem Einzelfall gerecht zu werden. Dies erfordert deutlich mehr Reflexion vor Ort.

2.3.1 Spezifika der Praxis Sozialer Arbeit und deren Berücksichtigung in der Praxisreflexion

Das Praxishandeln Sozialer Arbeit ist im Vergleich mit anderen Berufen in sehr hohem Maße voraussetzungsreich, u. a. durch

• die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der Arbeitsfelder und Ortsspezifika,

• die doppelte Aufgabenstellung im Blick auf das Klientensystem und das Leistungssystem,

• die relativ geringe Konkretisierung der verschiedenen Wissensbestände, die als generalisierte Wahrheitsaussagen immer erst anwendungsrelevant in eine dem Praxisfeld angepasste Operationalisierung transformiert werden müssen,

• die individuelle Problem- und Ressourcenstruktur der Klienten sowie

• die Vielfalt der möglichen Hilfen, die passgenau dem individuellen Hilfebedarf entsprechen sollen, dies immer aber erst durch Anpassung an den Einzelfall sein können (vgl. Heiner 2007, S. 49ff).

Allein diese ausgewählten Aspekte erfordern schon ein hohes Maß an Wissen sowie Reflexions- und Handlungskompetenz. Diese Kompetenzen setzen sich in konkreten Handlungsschritten um, die sich als Minimalstandard in einer Analyse der Rahmenbedingungen, einer Problem- und Ressourcenanalyse, der Zielentwicklung, einer Interventionsplanung und einer Evaluation zeigen. Dazu kommen Charakteristika der beruflichen Handlungsstruktur, die die eben aufgezeigte Komplexität durch Spezifika der Profession weiter erhöhen. Das sogenannte doppelte Mandat, die differenten Wirklichkeitskonstruktionen der Subjekte, das sogenannte Technologiedefizit und die dialogische Hilfesituation gelten in der Professionalisierungsdiskussion als Gründe, den Beruf

als paradox und „unmöglich“ zu beschreiben (Sahle 1987, S. 26ff; Dewe u.a. 1993, S. 7-40;

Spiegel 2004, S. 36-47; Heiner 2004, S. 36ff).

Eine wissenschaftstheoretische Analyse kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass bei solchen Schlüssen durchaus Kategorienfehler gesehen werden können. Was theoretisch auf einer bestimmten Abstraktionsebene als Widerspruch erscheint, bildet sich in der praktischen Wirklichkeit als intermediäre Position der professionellen Rolle ab. Wie schon oben angemerkt, sieht Heiner in dieser Position sogar die „zentrale professionelle Herausforderung“, die durch kompetentes und verantwortungsvolles Handeln bewältigt werden muss (Heiner 2004, S. 36f und Heiner 2007, S. 101-136).

Es kann als Kategorienfehler gesehen werden, eine durch Idealtypisierung hergestellte objekttheoretische Differenz übergangslos auch als nicht auflösbare handlungstheoretische Differenz zu beschreiben, weil Handeln mit der Mischung polarisierter Gegensätze zu tun hat, sich Gegensätze im Handeln sogar in einer neuen Seinsqualität oder Wirklichkeits- konstruktion auflösen können.

So kommt der Gegensatz zwischen Hilfe und Kontrolle in Wirklichkeit meist in einer hoch komplexen Mischung beider Funktionen vor. Und nicht nur das: Es gibt in der Praxis, die als Handeln traditionell von der praktischen Philosophie beschrieben wurde, auch eine dynamisch zu verstehende Doppelwertigkeit von Haltungen und Handlungsvollzügen, die sich einer polaren und vor allem monokausalen Logik entziehen. Spätestens durch Schelling und Hegel wurde der Gedanke ausformuliert, dass die aristotelische Logik vom ausgeschlossenen Dritten nicht den ganzen Lebensprozess beschreiben kann, besonders wenn es um soziale Wirklichkeiten geht (Radermacher 1973, S. 289).

So kann Kontrolle auch hilfreichen Halt geben und sich auflösen in der Erreichung des Zieles der autonomen Lebensgestaltung und der Beendigung der Hilfebeziehung. Handeln ist ein hochgradig komplexer, quasi multidialektischer, sich im stetigen Fluss befindlicher Zusammenhang, der in der Gleichzeitigkeit der Bewegungen nur in seiner gestaltlichen Ganzheit sinnvoll zu erfassen ist. Der Sinn eines solchen Handlungssystems wird gebrochen und verfehlt in der Isolierung einzelner Strukturelemente. Praxis ist eben nur „praxeologisch“, als Zusammenhang konstitutiver und regulativer Prinzipien des Denkens und Handelns angemessen zu erfassen (vgl. hierzu Benner 2001, S. 59-128).

Hier liegt auch der erkenntnistheoretische Fortschritt systemtheoretischer Analysen, die in der Lage sind, Handlungseinheiten durch System-Umwelt-Differenzen so zu bestimmen, dass die Sinn konstruierende autopoietische Logik der Situation gewahrt bleibt und Interventionen systemlogisch sinnvoll analysiert werden können (siehe hierzu Wilke 1996, S. 41-71).

Andererseits neigt auch die Systemtheorie mindestens Luhmann’scher Provenienz zu problematischen Transformationen von einem biologisch inspirierten Logikverständnis in die soziale Dimension, wo gegebenenfalls von einem Transformationsfehler gesprochen werden darf (Heiner 1995).

2.3.2 Überlegungen zum Reflexionsraum der Heimerziehungspraxis

Es sollte deutlich werden, dass in diesen dynamischen multifaktoralen Handlungsvoraussetzungen gezieltes Handeln nicht ohne eine entsprechende anspruchsvolle Reflexion möglich ist. Bis hierhin sind wir im Handlungsfeld der Sozialen Arbeit allgemein geblieben. Das Thema Theorie ist hier nur als Handlungstheorie verfolgt worden und auch nur die Aspekte, die uns für den Zweck unserer Arbeit wichtig erscheinen. Reflexion benötigt aber auch eine handlungsrelevante Objekttheorie, quasi eine theoretische Landkarte, die uns in komplexitätsreduzierender Weise die Reflexionstrukturen eines Falles im Ganzen erst zeigt, die gedankliche Bewegen als Wahrnehmen, Erkennen, Verstehen und imaginäres Probehandeln nicht beliebig erlaubt, sondern mit systematischen Anspruch (vergl. Niemeyer 233-254).

Wie bereits dargestellt, versucht Winkler mit den Begriffen Ort und Subjekt wenigstens die zentralen Begriffe einer möglichen Theorie der Heimerziehung zu benennen. Zum Zwecke unserer Arbeit versuchten wir im Anschluss an die Begriffe Ort und Subjekt hier zu einer Theorie der Heimerziehung wenigstens einige Kategorien zu skizzieren, denn die Notwendigkeit einer reflexiven Praxis tritt erst voll in den Blick, wenn wir diese Praxis in einer Gesamtschau vor Augen haben; hier dient Theorie als eine Art Landkarte, um das Ganze unter dem Aspekt Heimerziehung zu erfassen.

Das Handlungsfeld Heimerziehung ist in seiner Komplexität nicht ohne Weiteres vergleichbar mit anderen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit. Heimerziehung ist, jedenfalls in ihrer traditionellen Form als Wohngruppe, immer noch Institution. Heimerziehung impliziert einen strukturierten Alltag rund um die Uhr wie kein anderer Bereich Sozialer Arbeit. Nimmt man noch die Herkunftsfamilie als Handlungsfeld hinzu, denn zunehmend besuchen Heimkinder ihre Herkunftsfamilie regelmäßig, steht man vor zwei korrespondierenden Lebensfeldern, also einer insgesamt noch komplexeren Wirklichkeit, als sie die Realität eines einzelnen Lebensortes bietet.

Der Ort existiert in der Heimerziehung zweifach, das Subjekt bewegt sich bei der modernen Heimerziehung in der Regel in zwei Erziehungsmilieus. Dennoch ergibt es Sinn, den Begriff Ort im Singular beizubehalten, weil wir von einem zentralen pädagogischen Ort, dem Heim,

ausgehen und von hier die Bedeutung anderer Orte, allen voran die Herkunftsfamilie, die Peergruppe und die Schule, sehen und einbeziehen.

Eine Theorie der Heimerziehung, die die Begriffe Subjekt und Ort zentral setzt, muss also über das Heim hinaus die weiteren pädagogischen Felder mit einbeziehen, soll sie eine sozialpädagogisch ambitionierte Theorie sein. Alle pädagogisch wirkenden Lebens- und Erfahrungsfelder bedürfen als Handlungsräume einer entwicklungsdynamisch zu verstehenden theoretischen Landkarte, auch wenn sie in sehr unterschiedlicher Weise in einem immer wieder neu zu bestimmenden Mischungsverhältnis intentional und funktional erzieherisch wirksam sind. Der Anteil der funktionalen Erziehung ist ebenso relevant wie der intentionale Aspekt, und so muss diese mindestens als diagnostische Dimension präsent gehalten werden. Das Gleiche gilt für das Erzieherteam im Heim und die miterziehenden und mitberatenden Personen, die Eltern, Lehrer, das Jugendamt usw.

2.3.3 Überlegungen zum kognitiven und methodischen Kontext von Praxisreflexion Bedenkt man die hier erst einmal nur in groben Strichen vorgeführte Komplexität der Heimerziehungspraxis, dann liegt der Schluss nahe: Eine selbstreflexive Praxis ist nötig, wobei wir die Betonung auf selbst zu setzen für wichtig halten. Soll Selbstreflexion empirisch fundiert werden durch Selbstevaluation, dann setzt dies ein hohes Maß an kognitiver und normativer Autonomie voraus, was ja Professionalität ausmacht, und diese bedarf der objekttheoretischen und handlungstheoretischen Kompetenz auch der Praktiker, wenn man sie bis zu einem bestimmten Grad als Forscher professionalisieren will (Heiner 2007, S. 429-534).

So ist hier unter Punkt 2.1.5. eine kategoriale Skizze versucht worden, die wir für unverzichtbar halten, soll Praxisreflexion nicht gerade unter dem Druck des Alltags, disziplinärer Fremdbestimmungstendenzen und politisch-ökonomischer Vorgaben immer wieder ihren spezifischen Fokus verlieren oder ihn gar nicht erst gewinnen können. Die Autonomie Sozialer Arbeit und so auch einer ihrer Teilbereiche, der Heimerziehung, ist nur möglich, wenn der immer schon gegebenen Alltagsorientierung eine kognitive Orientierung korrespondiert, die nicht nur das konkrete Handeln im Blick hat. Entscheidend ist, dass die Profession auch die Sinnkonstruktionen der Mithandelnden in ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Relevanz zu erheben versucht und gegenwärtig hält. Dies ist nur mit Hilfe einer mitgeführten praxistheoriegeleiteten Reflexion möglich (vgl. auch Merten 1997, S. 86-102).

Auch minutiös ausgearbeitete operationalisierte Alltagskonzepte der Praktiker können alleine diesen Anspruch nicht einlösen, weil sie leicht zu eng an den subjektiv empfundenen

Orientierungsbedarf der Handelnden anschließen, also merkweltorientiert sind und die Wirkwelt kaum einbeziehen. Operationalisierte Konzepte tendieren für sich alleine zur linearen Abarbeitung, sie suggerieren Perfektion um den Preis der Beschränkung auf die konkrete Handlungssituation.

Soll die Anwendung von Selbstevaluation über immer nur partielle Fragestellungen und Projekte hinausgehen, muss der Blick auch auf die Wirkungszusammenhänge des Ganzen gerichtet werden. Der zu evaluierende Handlungsraum ist dann nicht mit der Gruppe oder dem Fall alleine identisch. Handlungsraum und Wirkungsraum sind nicht einfach identisch zu sehen.

Die Umsetzung des hier nur auf kognitive Voraussetzungen beschränkt skizzierten Reflexionsanspruchs erfordert eine hohe reflexive Kompetenz. Diese kann nicht etwa durch therapeutische Zusatzausbildungen alleine gewonnen werden, sondern eben durch die Aneignung des Arbeitsfeldes in dem hier skizzierten feldtheoretischen Anspruch. Damit sind die komplexen Handlungskompetenzen im Blick auf die Motivationslogik professionellen Helfens in der Sozialen Arbeit noch nicht einmal angesprochen (Heiner 2007, 160ff u. 432 ff;

Merten 1997, S. 125-123; Storch & Krause 2007, S. 63ff).

Selbstreflexion der Profession, so die These, ist anspruchsvoll nur möglich, wenn das jeweilige Praxisfeld nicht nur im Kontext der unmittelbaren Wahrnehmung der Professionellen, sondern auch im Gesamtkontext des potenziellen Wirkbereiches der Akteure des Handelns interpretiert werden kann, und das ist nur durch eine das gesamte Feld erfassende und komplexitätsreduzierende Theorie möglich, wie oben skizziert. Der Fall umfasst eben selten nur das schwierige Kind in der Gruppe; es gehören die Gruppendynamik, die Teamdynamik der Fachkräfte, das Helfersystem, die Herkunftsfamilie, die Strukturen des Heimes und sonstige Lebensfelder des Kindes wie etwa Schule und Verein dazu. In Methodenlehrbüchern ist dieses Fallverständnis mittlerweile selbstverständlich, nicht jedoch in manchen Evaluationsansätzen, wie unten noch gezeigt werden wird.

Gestützt werden sollte die so verstandene handlungstheoretische Perspektive durch Forschungswissen und eine feld- und fallbezogene empirische Fundierung, die im Feld u. a.

durch Selbstevaluation immer wieder aktuell bereitgestellt werden könnte. Erfahrungsbasierte Intuition sollte so ergänzt werden durch systematische empirische Fundierung (Heiner 2004, S. 161ff).

Wie ist aber Selbstevaluation im Feld der Heimerziehung methodisch möglich? Reicht dafür die vorhandene Reflexionskultur, wenn schon die Theorie- und Wissensprobleme die Praxis leicht überfordern können?