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2 Untersuchungsleitende Vorannahmen und Zielsetzung der Arbeit

2.1. Zur Theorie und Praxis der Heimerziehung

2.1.4. Zum Verhältnis von Theorie, Praxis und Forschung Zum Theorie-Praxis-Verhältnis

In Deutschland ist, im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachraum, bis heute eine durch bestimmte Traditionen entstandene Diskussion um das Theorie-Praxis-Verhältnis anzutreffen (zur Begriffsgeschichte und Diskussion siehe Böhm 1995, Langewand 2004, Mührel u.

Birgmeier 2009). Es ist möglicherweise fruchtbar, die traditionellen Differenzen zwischen Theorie (Schauen im Sinne von Kontemplation), Praxis (Handeln im Sinne autonomer, in sich selbst sinnvoller Lebensgestaltung) und Poiesis (Machen im Sinne von intentionalem Herstellen eines Gegenstandes), wie sie in der Tradition seit Aristoteles gesetzt wurden, in erkenntnistheoretischer Absicht aufzugreifen. Gerade für die Heimerziehung und die aktuelle Jugendhilfediskussion über wirkungsorientierte Steuerung dürfte die aristotelische Unterscheidung interessant sein, die Winfried Böhm beschreibt:

„Nicht ohne weitreichende Konsequenzen weist Aristoteles in seiner ,Politik‘ (....) mit allem Nachdruck darauf hin, dass das menschliche Leben grundsätzlich Praxis, nicht Poiesis ist, insofern es seinen Wert in sich selbst trägt und deshalb nicht für außer ihm liegende Zwecke instrumentalisiert und funktionalisiert werden darf.“ Bedenkt man, dass dieser Differenz auch eine ethische Bedeutung zukommt, nämlich den Schutz vor einem unzulässigen ökonomischen Kalkül, so wird das Problem unseres neuzeitlichen undifferenzierten Praxisbegriffs in der Heimerziehung deutlich: Wird der Sinn der Lebensgestaltung im Heim immer mehr auf die Wirkung nach der Entlassung hin definiert, wird das Leben im Heim tendenziell verzweckt, das Heim im schlimmsten Fall in der Logik einer Fertigungsstrecke konstruiert. Jedenfalls ist mit der Subsumption der Begriffe Praxis und Poiesis unter den Begriff Praxis eine berufsethisch wertvolle Unterscheidung verloren gegangen. Dieser Gedanke wird weiter unten beim Thema wirkungsorientierte Steuerung bzw. der Evaluation von Interventionen noch relevant werden.

Hier, besonders im Blick auf Forschung, werden wir die aktuell üblichen Begriffe von Theorie und Praxis verwenden. Sprachen wir eben von einem Erkenntnisverlust durch die Reduktion auf einen problematischen Praxisbegriff, so wird in der englischen Diskussion anders als hierzulande nicht einmal die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis getroffen:

„Die Brüche zwischen Theorie und Praxis, die in Deutschland auch die Forschung zur Heimerziehung betreffen, sind in der britischen Diskussion nicht existent“ (Gabriel 2002, S.

161). So haben wir es also offenbar mit einem von der Wirklichkeit her nicht notwendig scheinenden Phänomen der Begriffsdifferenzierung zu tun. Dennoch wird in Deutschland oft aus einer unterstellten Notwendigkeit heraus argumentiert: Erziehungsvorgänge seien nicht unmittelbar beobachtbar. So könne erst aus einer begrifflich-theoretischen Grundlagenforschung eine Problemheuristik der Praxis gewonnen werden. Gabriel referiert damit wieder Winkler, der meint, dass Praktikerinnen und Praktiker „alles mögliche beschreiben, nur nicht die Erziehung, weil wir diese noch gar nicht begriffen haben“ (Winkler 1995b, S. 39).

Die theoretische Gegenstandsbeschreibung soll demnach also gesichert sein, bevor die Erziehungswirklichkeit erfassbar werden kann. Man sieht nur durch Begriffe oder was man irgendwie schon im Begriff hat, so könnte man diesen Ansatz beschreiben. Gabriel wiederholt hier seine Frage, wie denn begrifflich-theoretische Theoriebildung „a priori“ ihren Gegen-stand angemessen beschreiben soll, ohne der empirischen Realität der Heimerziehung einen systematischen Stellenwert im Theoriebildungsprozess zuzuerkennen (Gabriel 2001, S. 162).

Er verweist auf die Verbindung von Theorie und Empirie am Beispiel Großbritannien, wo die Forschungsergebnisse „ihren Ausgangs- und Endpunkt in der Erziehungswirklichkeit haben“.

Und sie überbrücken somit „die Differenz zwischen Theorie und Praxis über das Medium der Empirie“ (Gabriel 2001, S. 163).

Gabriel erkennt den Sinn der Unterscheidung von grundlagenorientierter Forschung und anwendungsorientierter Forschung an, parallel zur Unterscheidung Praxiswissen versus Grundlagenwissen. Die Generierung von Theorie und theoretischen Schlüssen kann zwar deduktiv erfolgen, nicht jedoch schon ohne Auseinandersetzung mit der sozialen Realität von Heimerziehung für gültig erklärt werden. Gabriel verweist hier wieder auf die Grounded Theory als Möglichkeit der „induktiven“ Theorieproduktion und der Analyse von Widersprüchen etwa im Vergleich mit deduktiv gewonnenen Theoriekonstrukten (Gabriel 2001, S. 164).

Nach Gabriel blockiert die Frage, ob wissenschaftliche Forschung Theorie zum Zweck der Aufklärung oder als Sozialtechnologie entwerfen soll, den Forschungsprozess seit dem Positivismusstreit immer noch und fordert eine Überwindung durch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie, Praxis und Forschung. Er befürwortet ein affirmatives Forschungsverständnis, das gleichwohl nicht unkritisch auf die Reform des Bestehenden zielt (Gabriel 2001, S. 164; hierzu auch: Beck, Bonß 1989 und Adorno 1979).

Wir gehen hier und noch im Weiteren so ausführlich auf wissenschaftstheoretische Voraussetzungen und ihre Kontroversen ein, weil sie auch in den Köpfen der Praktikerinnen und Praktiker weiterleben und eine große Rolle in der Akzeptanz von empirischer Forschung spielen. Auch in der Disziplin lebt die Kontroverse wieder auf, was an der Diskussion um eine evidence-based practice zu studieren ist, die die Theorie-Praxis-Kontroverse wieder als Frage nach der Wissensgewinnung und Wissensanwendung aufleben lässt (Sommerfeld &

Hüttemann 2007).

Wir halten die Differenz von Praxis und Theorie für prinzipiell nicht aufhebbar, da sie auf Differenzen von Wissensproduktionsorten und Wahrheitsansprüchen verweist. Zwar sind induktiv und deduktiv gewonnene Theorien sowie empirisches Wissen methodisch hergestellte Abstraktionen von der praktischen Wirklichkeit. Aber: die Wissensarten dieser Bereiche sollten übersetzbar sein durch transparente fachlogische und sprachlogische Regeln (Beck et al. 1989, S. 9f).

Es geht hier auch nicht nur um die sehr grobe Unterteilung in theoretisches und praktisches Wissen, sondern um weitere Differenzierungen im Blick auf den Status und die Herkunft des Wissens, worauf wir weiter unten noch näher eingehen werden (siehe Oelkers & Tenorth 1991). Wie kaum ein anderes Fach ist Soziale Arbeit auf eine rational gesteuerte Wissensverwendung angewiesen, gerade weil die kognitive Identität noch wenig abgesichert ist und durch berufsfeldbedingte Differenzierungen und theoretische Differenzen immer wieder irritiert, gebrochen bis gespalten wird.

Forschungsverständnis

In unserer Arbeit legen wir ein Forschungsverständnis zugrunde, das im Anschluss an die verstehende Soziologie wie folgt beschrieben werden soll:

Die soziale Welt ist sinnhaft konstituiert, sowohl die sogenannte objektive als auch die subjektive soziale Welt. So sind die Interpretationen, Deutungen und Definitionen der handelnden Subjekte immer auch unverzichtbarer Gegenstand, ja Kernstück von Forschung in der Heimerziehung, wobei wir dennoch von einer objektiven, wenn auch immer nur annähernd erkennbaren Welt ausgehen, einem radikalen Konstruktivismus nicht folgen (vgl.

Berger & Luckmann 1980; Heiner 1995).

Die Heimerziehung hat sich gewandelt. Institutionsmodelle im engen Anschluss an Goffmann können Heimerziehung nicht mehr alleine ausreichend typisieren (Goffmann 1973). Der Zusammenhang zwischen subjektivem Sinn und objektiver Struktur unter Bezug auf Handlung ist in seiner Dynamik eine wesentliche Grundperspektive von

Heimerziehungsforschung, ohne die Subjektperspektive oder die Strukturperspektive als Ausgangspunkt zu setzen. Der potentielle Gestaltungsspielraum der Subjekte kann durchaus erheblich sein, stärker von den kognitiven Konstruktionen der Subjekte abhängig, als diesen manchmal bewusst ist, wie etwa Weick und Willke im Anschluss an die Systemtheorie aufzeigen (Weick 1995, Willke 1996, S. 41ff).

Im Anschluss an die Grounded Theory gehen wir davon aus, dass Theoriebildung ohne Rekonstruktion der Feldspezifika und der basalen Regeln und Strukturen des Handelns in der Heimerziehung, die wie kaum ein anderes Feld sozialer Arbeit aus unspezifischem Alltagshandeln besteht, zumindest keine handlungsleitenden Ergebnisse erbringt. Um jedoch die gewonnenen Erkenntnisse der Feldforschung, wie sie auch in dieser Arbeit vorgestellt werden, angemessen im Blick auf das Gesamtthema Heimerziehung interpretieren zu können, brauchen wir wenigstens einen theoretischen Begriffshorizont der Heimerziehung, den es jedoch, wie schon beschrieben, nicht ausreichend geschlossen und umfassend gibt.

Wir versuchen deshalb hier wenigstens eine minimale kategoriale Skizze, die wir als Arbeitsgrundlage für unseren weiteren Gedankengang nutzen.